Vinzenz Hediger/Rembert Hüser (Hg.): Jean-Luc Godard. Film denken nach der Geschichte des Kinos.
Paderborn: Brill/Fink 2023. ISBN: 978-3-8467-5893-9. 310 Seiten, 30,73 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2024-1-05Abstract
Während in der französisch- und englischsprachigen Literatur die Beschäftigung mit Jean-Luc Godards (Spät-)Werk schon ein eigenes Forschungsgebiet gebildet hat, findet sie in den hiesigen Film- und Medienwissenschaften eher in kleinerer Form statt. Das Interesse an Godards Arbeiten entspringt dabei am Übergang von Cinephilie, Poetologie und Medientheorie – schriftliche Auseinandersetzungen lesen sich so auch schon mal als Paratexte zu Godards Œuvre, etwa jene von Nicole Brenez. Neben seinen eigenen Kritiken für die Cahiers du Cinéma gilt Godards Werk nicht als das eines Literaten, wenngleich der Kern seiner Arbeit in der brechtschen Konfrontation von Worten und Bildern liegt. Seine verstreuten Publikationen beinhalten Gespräche, beispielsweise mit dem Filmwissenschaftler Youssef Ishaghpour, gehaltene Vorträge oder die Herausgabe seiner Filme in Manuskriptform. Darüber hinaus versuchen nicht erst seit seinem Tod unterschiedliche Biografien, sein Leben für das Kino auszubuchstabieren, etwa auf Deutsch von Bert Rebhandl oder (erst kürzlich aktualisiert) auf Französisch von Antoine de Baecque.
Möglicherweise darf Godard als einer der Filmemacher gelten, die zu Lebzeiten mit den meisten akademischen Texten bedacht wurden. Aus ihnen lässt sich allgemein ableiten, dass sowohl die Beschäftigung mit dem Werk als auch seiner Künstlerperson unablässig theoretische Fragen der Filmgeschichte evoziert. Um dieses Paradigma kreist der Sammelband von Vinzenz Hediger und Rembert Hüser, worin schon im Titel eine doppelte Figur des "d'après / après" der Kinogeschichte reklamiert wird. "Film denken nach der Geschichte des Kinos", bezieht sich einerseits auf eine historisch ausgewiesene Filmtheorie, und andererseits, im Sinne des Post-Cinema-Diskurses, dem Philipp Stadelmaier unlängst eine Studie zu Godard und Serge Daney widmete, auf eine alte (abgeschlossene) und neue Filmgeschichte.
In seinem kenntnisreichen Einleitungstext geht Hediger den Hypothesen des Bandes grundlegend nach und problematisiert, was Godard eigentlich unter Geschichte begreifen könnte. Hediger weist dazu auf die bereits geleistete Arbeit von Michael Witt mit Jean-Luc Godard, Cinema Historian hin, die Godards filmhistorisch-selbstreflexives Opus Magnum Histoire(s) du cinéma referiert. Insofern handele es sich um eine "subjektiv-leidenschaftliche Historiografie" (S. 13), die vor allem dem Modell einer nationalen Filmgeschichte entspringt, welche sich auf einen populären wie künstlerischen Kino-Begriff der Länder Russland, Deutschland, Frankreich, USA und Italien stützt. Diese Betrachtungsweise geht auf die Generation der Cahiers-Autoren in den 1950er Jahren zurück, deren Kritik sich an der französischen Kunstkritik unter dem Einfluss rechter Denker wie Jacques Laurent, Lucien Rebatet, Maurice Bardèche und Robert Brasillach orientierte (ebd.). Im Verhältnis zum breit rezipierten Manifest des indischen Filmkritikers Girish Shambu "For a new cinephilia" in Film Quarterly stellt Hediger dann die Frage, worin noch die Aktualität von Godards Denken besteht. Statt bloßer Modernität wäre bei Godard ein nostalgisches Moment zu vernehmen, das aber weiterhin den modernen Charakter einer "stets erneuerbaren Form von Sehen und Wahrnehmung für das Kino" (S. 14) trägt.
Auf Grundlage einer nun über zehn Jahre zurückliegenden Vorlesungsreihe an der Goethe Universität (als wiederkehrende Kooperation zwischen Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Deutsches Filminstitut & Filmmuseum) versammelt der Band sowohl namhafte internationale Wissenschaftler*innen als auch Kritiker*innen. In zuweilen essayistischen Einzelstudien, die sich durch die Phasen von Godards Film-Biografie bewegen, wird damit der aktuelle Forschungsstand abgebildet. Zunächst fallen die methodischen Überlegungen von Georges Didi-Huberman auf, die man zwar auch in seinen Büchern nachlesen kann, sich hier aber in komprimierter Form auf die Bedeutung der Sprachspiele konzentrieren, die mit der Montage verwandt erscheinen: "[E]s geht darum, Ordnungsrufe zu formulieren, definitive Formen zu schaffen, Bilder, die keine Diskussion zulassen (voilà, no comment), aber das auf der Grundlage einer entorteten, dislozierten Sprache" (S. 45).
Dass die Erforschung des Godard-Werks nicht notwendigerweise widerspruchsfrei ist und man eine gewisse Fehlertoleranz mitbringen muss, wird spätestens hier deutlich. Das Erkenntnisinteresse sollte eher darin bestehen, eine besondere Präzision in den verworrenen Zerlegungen nachzuzeichnen. So könnte in den Dichotomien eine Wahrheit liegen, die aber nicht mehr dem angehört, der mit dem Amalgam spielt (Godard). Demzufolge entsprechen die nachfolgenden Betrachtungen beispielhaften Ortungsversuchen, wo sich Godard in seinen Filmen bemerkbar macht und wo er zum Vermittler der Medienkultur in den 1960ern wird. Spielerisch-werktreu ist dies bei Rembert Hüser nachzulesen. Ausgehend von La Chinoise ließe sich Godards Unterfangen im Allgemeinen nämlich als recherchierende Versuchsanordnung verstehen, indem disparates Material ergebnisoffen hintereinandergestellt wird, was ebenso auf Godards Vorlesungsreihe Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos zuträfe: "Die Fundstücke sind schnell zusammengeholt, relativ beliebig und stofflich motiviert. […] Aber hier muss man ansetzen, wenn man nicht will, dass es ewig so weiter geht." (S. 103) Mit dieser Arbeitsform des Versatzstücks deutet Hüser bereits auf die bislang weniger erforschte Zeit nach 1968 in Godards Film-Biografie hin.
Die anschließenden Texte, insbesondere jener von Michael Witt über die Adaption Voyager à travers un film von Sauve qui peut (la vie), versuchen dahingehend Schlaglichter auf vergessene Arbeiten Godards zu werfen und deren Hintergründe zu beleuchten. Es stellt sich heraus, dass Godard immer wieder seine eigenen Arbeiten neu zusammensetzte oder das Neue in kleinerer Form erprobte. Gleichzeitig war er von Geldgebern wie Fernsehanstalten oder Marken abhängig, in deren Auftrag ebenso einige der abweichenden Arbeiten entstanden. So werden in den Texten vor allem Einblicke in unzugängliche Werke (vielleicht eher Werkprozesse) ermöglicht. Ähnlich zu seiner letzten, postum in Cannes gezeigten Arbeit Drôles de Guerres haftet an den wissenschaftlich beförderten Wiederentdeckungen aber eine unübersehbare und zudem möglicherweise selbsterzeugte Fetischisierung Godards. Sie lässt zum einen danach fragen, was das Verschwinden bedingt – Witt erklärt es mit dem geringen Interesse für die Produktionsbedingungen am Beispiel des Schweizer Fernsehens – und zum anderen, ob dieses archäologische Denken nicht auch schon ideell in Godards Werk angelegt sei (vgl. S. 157). Eine Antwort darauf liefert Regine Prange, die aus Sicht der Kunstgeschichte Godards Versuch examiniert, in Passion der Geschichte durch Gemälde habhaft zu werden:
"Anders als Jerzy analysiert [Godard] die historischen Bildwelten und ihre narrativen Strategien als Ausdruck konkreter Herrschaftsverhältnisse. […] Deutungen, die Passion für eine postmoderne Inthronisierung des Imaginären reklamieren, müssen notwendigerweise an dieser materialistischen Geschichtstheorie Godards vorbeigehen und lassen die Perspektivierung des filmischen Denkens […] außer Acht." (S. 179)
Die Unmöglichkeit des Geschichte(n)-Erzählens, mit der Jerzy in Passion konfrontiert ist, verkörpere insofern einen filmhistorischen Nullpunkt, die postkinematografische Utopie, in der die Bilder von selbst zu erzählen beginnen. Godard greift dafür auf die Ikonographie "christlicher wie pagan-antiker Befreiungsmythologien" zurück: "Die Schwelle zwischen 'fremdbestimmter' Inszenierung und zufällig ins Bild kommenden 'echten' Handlungen wird unbestimmbar gemacht, und in dieser Bild-Störung manifestiert sich die Utopie der Postkinematografie." (S. 197) Laut Volker Pantenburg stellt sich darin ebenso ein zentraler Konflikt dar, in dem Godard immer wieder zweifelhaft erstrebte, vor der eigens theoretisierten Autorenpersona (Politiques des Auteurs) zu fliehen, um sie schließlich doch anzunehmen und zu verwandeln. Alle Formen des entgrenzten Filmischen durch Methoden der Polyphonie oder Skizzenhaftigkeit würden demnach an einer Neuverortung Godards zum "Zuschauer oder Kommentator" arbeiten, kulminiert in den Histoire(s) du cinéma (vgl. S. 219). Damit hätte für Daniel Fairfax die "anti-dialektische Phase (1973–1979)" Godards geendet, um sich stärker einer Begriffsarbeit des Bildes zuzuwenden und wieder an die eigenen filmischen Anfänge in Anlehnung an Sergei Eisenstein sowie seines "dritten Bildes" anzuknüpfen, was sich in der 3D-Arbeit Adieu au language manifestiere. Zwei Augen derselben Betrachter*in könnten darin unterschiedliche Bilder sehen und zugleich begreifen, wie sie sich unweigerlich denkend überlagern (vgl. S. 269). "[I]m Wesentlichen erreichen sie auf einer räumlichen Ebene, was die jump cuts von Jean Seberg auf der Fahrt durch Paris in À bout de souffle auf der zeitlichen Ebene schaffen." (S. 276) Fairfax weist daraufhin, dass Godard erstaunlicherweise in dieser Form nicht mit historischem Material arbeitete. Die Antwort könnte in einer kulturkritischen Ethik der Bilder enthalten sein, die Hediger in seinem abschließenden Text skizziert und damit gewissermaßen die vermissten zeitgeschichtlichen Bezüge entschuldigt, von denen Godards Filme ebenso leben – darunter nicht zuletzt sein oft merkwürdiges bis zweifelhaftes Interesse für die deutschen Republiken oder den Nahen Osten.
Jean-Luc Godard. Film denken nach der Geschichte des Kinos liefert primär Einblicke in die aktuelle Godard-Forschung und bringt bislang kaum zugängliche Werke näher. Dennoch liest sich der Band eher wie ein nostalgisch erinnertes, nicht sonderlich sorgfältig lektoriertes Vorlesungskompendium, dessen Erkenntnisse selten über Godard hinausweisen. Eine angemessene Würdigung im Sinne weiterdenkende Lektüre, also Film denken nach Godard, kann man dem Band leider nur in Ansätzen entnehmen.
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