Giorgio Agamben: Das Abenteuer. Der Freund.

Berlin: Matthes & Seitz 2018. (Reihe: Fröhliche Wissenschaft, Bd. 94). ISBN 978-3-95757-340-7. 96 S., 1 Abb., Preis: € 10,-.

Autor/innen

  • Ulrich Meurer

Abstract

Der Umschlag von Agambens Abenteuer ist, dem Habit der Verlagsreihe gemäß, zweifarbig gehalten – ziegelrote Lettern auf mangogelbem Grund. Die fast zeitgleich erschienene englischsprachige Ausgabe traut sich mehr: Ihr Einband zeigt 'Klingsors Zauberwald', ein Wandbild aus dem Parzival-Zyklus des Theatermalers Christian Jank im Sängersaal von Schloss Neuschwanstein. Die Waldidylle mit Buschwerk und Bach, Eichhorn und Hirsch, die der mittelalterselige Bayernkönig 1883 bei Jank in Auftrag gibt, illustriert Agambens Essay zugleich redlich und ironisch: In ihr wird dessen eigentümlicher Zwiespalt sichtbar zwischen ethischer Dringlichkeit und humanistischer Beschaulichkeit, Aktualität und empfindsamer Historie, der den/die Leser_in dieses Büchleins genauso animiert wie irritiert zurücklässt.

Der erste Teil entlehnt der römischen Spätantike vier Leitbegriffe – Dämon, Schicksal (Tyche), Liebe (Eros) und Notwendigkeit (Ananke) –, denen Agamben, nachdem er die Hoffnung (Elpis) als ein fünftes Lebensprinzip hinzugezählt hat, gedanklich und strukturell folgen wird; denn "[das] Verhältnis, in dem wir zu diesen Mächten stehen, bestimmt unsere Ethik" (S. 10). Von dort aus durchläuft Agamben weite Kreise der Literatur- und Philosophiegeschichte, um jene Kräfterelation aus immer neuer Perspektive zu bestimmen: Zuerst sieht er da Goethe, seine Urworte, sein ganzes Dichterleben dem Dämon unterstellt – einer Macht, die dem Individuum als tiefste Eigenheit bei der Geburt eingeprägt ist und von allen Lebenszufällen unberührt bleibt. Seinem Pakt mit dem Dämon ordne Goethe jedes der anderen Prinzipien unter und entziehe sich in solchem Aberglauben an den verlässlichen Genius aller Eigenverantwortlichkeit. Ohne Schuld und Schicksal, ohne die Tugenden von Glaube, Liebe, Hoffnung ist daher der schöpferischen Existenz zwar Erfolg beschieden, aber ethisches Heil und das Abenteuer des 'Tychischen' bleiben ihr verschlossen.

Ihnen scheint der im Ritterroman entfaltete Begriff der 'Aventure' weit näher zu stehen. Seine Etymologie ist dunkel; er meint messianische Ankunft und das Hereinbrechen des Wunderbaren; das Fremde, Unvorhersehbare und Verhängnisvolle findet sich ebenso in ihm wie die glückliche Fügung. Ein für Agamben zentraler Zug der Aventure ergibt sich derweil aus der Ununterscheidbarkeit von Ontologie und Poetologie, ritterlicher Fahrt und dichterischer Darstellung: Wie der Edelmann Yvain suche und (er‑)finde auch der 'trobador' Chrétiens de Troyes das Dasein als "Verstrickung [...] in das Abenteuer" (S. 23). So begegne man der Verschmelzung eines Begebnisses mit seiner Verschriftlichung in der 'frou Âventiure', dem Abenteuer in weiblicher Gestalt, zugleich Verkörperung des Schreibakts und des schicksalhaften Ereignisses. Dies garantiere zuletzt, dass Poesie, Leben und Abenteuer an derselben Wahrheit teilhaben – das Mittelalter denke poetische Seinserfahrung im Zeichen der Tyche.

Es ist die Neuzeit, es ist Dante, der jenes Konzept desavouiert, insofern ein menschliches Leben nicht den gewundenen Bewegungen des Zufalls, sondern durch Verdienst und Sünde juridischer Gerechtigkeit unterstellt sei. Und genauso entspringt die Liebe nicht dem Geschick, sondern wird Heilserfahrung, die "von der Unwissenheit zum Bewusstsein" (S. 50) fortschreitet. In der Moderne beharrt dieser Argwohn gegenüber dem Abenteuer (und nicht weniger gegenüber dem 'Liebesabenteuer'): Hegel wird es verurteilen als unwesentlich und akzidentell, einzig Georg Simmel und der Heidegger-Schüler Oskar Becker nehmen es wieder auf; der eine als dem gewöhnlichen Leben zwar fremd und peripher, aber zugleich als dessen integrierender und geheimnisvoller Sinn – ebenso wie Eros, das Abenteuer der Liebe, das Dasein nur tangential berühre, aber trotzdem existentiellen Totalitätsanspruch erhebe. Der andere entgegnet auf die 'Geworfenheit' seines Lehrers mit einer schwerelosen und abenteuerlichen 'Getragenheit' jenseits aller Pflichten, die ihren besonderen Ausdruck in der nachtwandlerischen Sicherheit künstlerischer Schöpfung finde. In beiden Fällen jedoch, so Agamben, bleibt das Abenteuer exzentrisch oder artistisch – anders als im Mittelalter, das nichts weiß von einer Scheidung zwischen Aventure, Leben und Ästhetik.

Ihrer Einheit kommt eher vielleicht das 'Ereignis' nahe, zumindest solange es als erzählbares Geschehen mit dem Ausdruckspotential menschlicher Existenz zusammenhängt und als erfahrenes Geschehen an ein Subjekt im Hier und Jetzt gebunden ist: Wenn darum der Gräzist Carlo Diano vom Ereignis spreche, das immer einem Ich widerfahre und jenes Ich erst konstituiere, dann sei darin laut Agamben recht klar das Abenteuer "wiederzuerkennen, das den Ritter [...] unmittelbar involviert" (S. 52). Und wenn außerdem dieses unkörperliche Ereignis mit dem Inbegriff des Unkörperlichen im Stoizismus, nämlich mit dem 'Sagbaren' kommuniziert, dann finden schließlich die Erfahrung des Tychischen, ihr Ausdruck im Wort und das Werden des Ichs zusammen. In diesem Sinne will Agamben – mit Heidegger – im Ereignis das Treffen und die gegenseitige An/Eignung von Mensch und Sein erkennen; beides verbinde sich in ebenso onto- wie anthropogenetischer Bewegung zur "Menschwerdung des Menschen" (S. 59). Währenddessen hat das mittelalterliche Verständnis vom Abenteuer all dies schon programmiert: Der Gral ist nur insofern heilig, als er Symbol der Bewusstwerdung ist, und erst am Ende des Abenteuers weiß Perceval, dass er Perceval ist.

Mit der 'Hoffnung' allerdings verlässt Agamben zum Schluss den Kreis des Selbst, seiner Getragenheit und Affirmation der Erfahrung. Wie der Dämon nicht einfach Vertrauen zum Ureigenen fordere, sondern im besten Falle eine tätige Neuschöpfung des Individuums bedeute, wie Eros nicht bloße Hingabe an das Liebesereignis sei, sondern eine Potenz, die Subjekt wie Abenteuer in Richtung auf ein neues Leben übersteigt, so erweist sich Elpis, die Hoffnung, als gläubige Imagination des Unerfüllbaren (ein Umstand, der sie an die Dichtung bindet) und ist doch – eben weil sie Hoffnung und Einbildung ist – immer schon erfüllt. Jenseits von Tyche, Heil oder Liebe zeige sie sich als das Wichtigste, als vom Leben nie zu gewährender und zugleich sicherer Wunsch nach Rettung. 

An diesen Streifzug durch den Zauberwald des Abenteuers schließt Agambens im Original sieben Jahre früher erschienene kurze Reflexion zur Freundschaft an. Der Freund, heißt es dort, sei fraglos ursprünglich mit der Philosophie verbunden, mittlerweile jedoch auf prekäre Weise, insofern er im zeitgenössischen Denken Misstrauen und Unbehagen hervorrufe. Zeichen dafür sei vor allem Derridas Markierung eines problematischen Status der Freundschaft, wenn seine Politiques de l’amitié – mit Diogenes Laertius und Nietzsche – das rätselhafte Diktum "O Freunde, es gibt keinen Freund" zum Leitmotiv wählen (ein Paradoxon freilich, das die klassische Philologie längst einer simplen Fehlübersetzung zuschreibe). Das 'Problem' der Freundschaft gründe nicht zuletzt darin, dass 'Freund' keinen Gegenstand in der Welt benenne, sondern als reiner Rufname nur sprachliche Wirklichkeit besitze; zudem meine Freundschaft eine "distanzlose Nähe" (S. 79), die es nicht erlaube, den anderen, weil er nun zu nah ist, als Vorstellung, Begriff oder Subjekt wahrzunehmen.

Gleichwohl entschließt sich Agamben daraufhin, zum ethischen und politischen Kern der Aristotelischen als der klassischsten aller Freundschaftskonzeptionen vorzudringen: Seine Lektüre der Nikomachischen Ethik stellt heraus, wie der Mensch über eine in sich angenehme Empfindung des bloßen Seins verfüge, während die Freundschaft in der Mit-Empfindung der Existenz auch des anderen als Teil der eigenen bestehe. Aus solcher 'Mit-Teilung' des Seins, das nie mit sich identisch ist, erwachse zugleich das Politische der Freundschaft: Sie bezeichne eine Desubjektivierung, in der sich das Ich vom Mit-Empfinden durchkreuzt und zum Freund hin verschoben sieht. So macht Freundschaft das eigene Dasein wahrnehmbar und lädt es dabei mit der Kraft des 'syn' auf: Ihre Synästhesie wäre Grundlage alles Politischen, weil sie, noch vor jeder Teilung durch konkrete 'Politik', das reine Faktum des Lebens als immer bereits geteilt erkennt...

Zuletzt aber will die Paarung der Essays zum Abenteuer und zum Freund in diesem Band nicht umstandslos einleuchten: Der erste betrachtet ein eher randständiges Konzept, konsultiert Stoiker und Minnelyrik und bedenkt mit ihnen die Frage des 'guten Lebens'; der zweite widmet sich einer (derzeit) überaus prominenten Figur, greift mit Derrida und Aristoteles auf etablierte Gewährsleute zurück und entwirft ein Grundmodell politischer Theorie. Der eine mutet an wie ethisch-philologische Meditation, der andere wie eine politisch-philosophische Skizze.

Besonders in den Ausführungen zum Abenteuer möchte man dabei ein gleichsam gesetztes Denken ausmachen, ein Nachsinnen über Leben und Geschick, das zunächst wenig von unruhiger Zeitgenossenschaft und mehr vielleicht von der belesenen Weltempfänglichkeit eines philosophischen Spätwerks hat. Das Abenteuer gerät dabei zum Begriff, der wohl Offenheit für die Unwägbarkeiten des Daseins einfordert und am Ende gar von einer bewusst vagen, da nicht einlösbaren Hoffnung abgelöst wird; aber trotz solcher Fährnisse wirkt Agambens Lob auf Tyche und Elpis – ähnlich dem Wandbild von Klingsors 'Terremarveile' – zuweilen wie ein eigenwilliger, in die Krisengegenwart versetzter Wunderwald der Ethik, auf dessen Lichtungen sich Dichter und Denker begegnen.

Für Edward Said bedeutet 'später Stil' derweil keineswegs gleichmütiges Wohlwollen gegenüber Kunst und Welt, Einsicht ins Gebot des Hoffens oder Transformation der Wirklichkeit in ein harmonisches Bild aus Ich und Natur. Der Spätstil mag sich vielmehr in Unnachgiebigkeit und Widerspruch äußern, womöglich in der Freisetzung von Material, das eher fragmentiert als geformt wirkt.[1] Insofern wären die Eigenarten dieses Buchs, die Reibung zwischen literarischer Vignette und emphatischem Anliegen, Mittelalter und unbedingter Zeitgenossenschaft, Abenteuer der Selbstwerdung und Politik der Freundschaft, Zeichen für eine konstitutive Unversöhnlichkeit in Agambens aktuellem Denken: Er stellt sich vor als Autor, der seine umfangreichen Schriften nicht nur im großen Projekt zum Homo Sacer zu integrieren versteht, sondern die lose und kleine Form, die Ausnahme einer unzeitgemäß anmutenden Perspektive, den Sprung vom Textdetail zur weitesten philosophischen Konsequenz strategisch einzusetzen vermag – Verfahren, die Said eben als kompromisslose und ungebärdige Symptome eines Spätstils identifiziert (und die vielleicht immer schon den 'Stil' Agambens ausgemacht haben).

 

[1] Vgl. Edward Said: On Late Style. New York: Pantheon 2006, S. 6f.

Autor/innen-Biografie

Ulrich Meurer

... ist nach Assistenz-, assoziierten und Gastprofessuren in Leipzig, Wien, Bochum und Budapest derzeit Research Fellow am Seeger Center der Princeton University. Er bedenkt vor allem die Schnittstellen von Filmästhetik und politischer Theorie, etwa in seinem aktuellen Buchprojekt Philokratia, Politiken der Freundschaft im US-amerikanischen Bewegt/Bild, die ideologischen Implikationen von Mediengeschichte und Medienarchäologie sowie Phänomene des Intermedialen (im Kino und andernorts).

http://www.ulrichmeurer.com

Publikationen (Auswahl):

- Übersetzung und Film. Das Kino als Translationsmedium (Hg., Bielefeld 2012),

- Topographien. Raumkonstruktionen in Literatur und Film der Postmoderne (München 2007), zahlreiche Aufsätze zur Film und Medienphilosophie.

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Veröffentlicht

2018-11-15

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Medien