Julietta Singh: Kein Archiv wird Dich wiederherstellen.
Leipzig: Merve 2023. ISBN: 978-3-96273-062-8. 120 Seiten, 15,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-17Abstract
Wie lässt sich ein Körper-Archiv erstellen? In welcher Form lassen sich (Erinnerungs-)Spuren sammeln und inventarisieren? In ihrem 2018 publizierten und aus dem Englischen übersetzen Buch beschäftigt Julietta Singh das Begehren nach dem eigenen ungeordneten und verfallenden Archiv. Ein Begehren, das eben von der drohenden Zerstörung herrührt. Sie beginnt zu schreiben: über Essen, Sex/ualität, familiäre und queere Beziehungen, über Mutterschaft, Krankheit, körperliche und sprachliche Grenzen.
Ein Eindringling im Wohnhaus; er kommt bis zu ihrer Wohnungstür und stiehlt ein Paar Sneaker. Singh beschreibt den Einbruch als auslösendes (greifbares) Moment für ein tiefes Unbehagen (über die Nicht-/Präsenz des Anderen) und starkes Verlangen nach (Selbst-)Wiederherstellung. Am Anfang gilt es, wie in einem vorangestellten Zitat von Antonio Gramsci (1994) steht, ein Inventar zu erstellen: von den Geschichten, die Singh/dich produziert haben.
Singh arbeitet als Wissenschaftlerin und (Non-Fiction-)Autorin mit den Schwerpunkten Ökologie, Postcolonial und Queer Studies. Ihr zweites Buch, Kein Archiv, ist sehr persönlich, größtenteils situativ geschrieben und voll mit Freund*innen, queeren Lovern und philosophischen Gefährt*innen. Sie erzählt von ihrer Herkunft, Familie und Studienzeit, von komplizierten (teils überraschenden) Verstrickungen zwischen Essen und Sex, Mutterschaft und Scheiße; zwischen Gender, Sexualität und race. Als kanadisches Kind of Color (eines indischen Vaters und einer irisch-deutsch-jüdischen Mutter) ging sie zum Studieren in die USA. Schon damals war das Archiv von existenzieller Bedeutung, denn es versprach die rettende Lösung aus den prekären (Beschäftigungs-)Verhältnissen der Universität: "Wenn wir nur das richtige Archiv fänden, den richtigen Materialstapel, der sexy genug wäre, um uns zu verkaufen" (S. 16). Statt nach einem "legitimen" Archiv zu suchen (S. 25), wendet sich Singh dem verkörperten zu – ihrem queeren, durch Bulimie, Geburt und neurologischen Schmerz geprägten Körper.
Einfach(er) ist es, den Körper als Oberfläche, die äußeren (Ver)Formungen und Verletzungen zu sehen. (Weiblich sozialisierte Personen konzentrieren sich vorrangig auf Makel; vgl. S. 28.) Wenn Singh von "Körper" spricht, schließt sie an feministisch-neumaterialistische Lesarten an, die eine Trennung von Innen/Außen ablehnen, und die Unabgeschlossenheit und umweltliche Verstrickung des Körpers betonen (z. B. Karen Barad, Nancy Tuana). Singh geht tiefer und gibt dem (internalisierten) Drang nach, ihren Körper von seinen Löchern her zu denken. Sie verfasst das Körper-Archiv unter anderem als ein "Archiv der Penetration" (S. 31): in jeden Körper(eingang) sind Affekte, Fremdpartikel und Flüssigkeiten (un/gewollt) eingedrungen und übriggeblieben (archiviert). Und jeder Körper schüttet sich sukzessive aus (vgl. S. 32). Diese wechselseitige Einverleibung fasst Singh mit dem Denkbild des vaginalen Archivs (dem sie im Promotionsprojekt ihrer Studienkollegin C begegnet, und das von dem Widerstand inhaftierter Argentinierinnen, dem Verstecken subversiver Schriften in Vaginalkanälen handelt): " Diese beiden Dinge – Archiv und Vagina – sind in meinen Gedanken vernäht." (S. 24)
Sorgfältig sammelt Singh alles, was in ihren Körper hinein- und aus ihm herauskommt. Die sechs Buchkapitel bilden ein fragmentarisches und ebenso kuratiertes Archiv. Jedes enthält kurze Alltagsgeschichten, die mit Versalien beginnen, und zwischen denen ein Leerraum (Whitespace) besteht – zum Ausklingen, Nach- und Weiterdenken. Ich möchte hier zwei Erzählungen, die mich auf irgendeine Weise affiziert haben, nennen: Im Gespräch mit ihrem Partner S bemerkt Singh, dass sie nun direkt über "die Scheiße" schreiben möchte. Diese Thematisierung (und Enttabuisierung) war auch eine Art, über Sex, die Un/Zugänglichkeiten von Körperöffnungen, das Anale und Mütterliche nachzudenken. An Maggie Nelsons (2021) Überlegungen zu Geburt und (Ekel vor) Stuhlgang anknüpfend erklärt Singh, "dass die kulturelle Ablehnung des Analen dem, wie wir denken, ficken, fühlen und lieben, Grenzen setzt." (S. 47f). Sie möchte für ihren Körper und seine Fabrikate – Scheiße und Müll – verantwortlich sein (vgl. S. 50).
An späterer Stelle erzählt Sing, die Beschäftigung mit Queer Theory habe in ihr ein queeres sexuelles Begehren bewirkt. Während ihre formale Bildung (und Vertiefung in Kontinentalphilosophie und Postcolonial Studies) keine queeren Texte umfasste, verschlingt sie diese nun wie Smarties ("bekanntlich kann man nach dem ersten nicht einfach aufhören"; S 59). Sex und Essen sind also miteinander verstrickt – bei beiden Aktivitäten dringt etwas in den Körper ein und bewegt sich durch ihn hindurch (vgl. S. 60).
Singhs Körper-Archiv liest sich als ein Sound-Archiv: verschiedene Töne, Laute und Schreie (des Schmerzes und Todes, der Geburt und Aufmerksamkeit), die aus dem Körper schallen, die sich in ihn einprägen. Die Verbindung von Archiv und Sound deutet sich schon zu Beginn an, wenn Singh das intellektuelle Begehren nach dem Archiv als ein Klischee abwertet. "Cliché", wie ein älterer Professor erklärte (und zu dem sie in einem klischeehaften Verhältnis stand), sei eine "französische Onomatopoesie" (Lautmalerei), die vom Geräusch einer bestimmten Art des Druckens (Reproduzierens) stammt (S. 20).
Singh schreibt nicht fest, was das Archiv ist: "Ich bin eine Person, die schreibt, um zu verstehen, was ich denke; ich schreibe auf, wovon ich noch nicht weiß, wie ich es in Sprache und Gedanken fassen soll." (S. 22) Das Archiv nimmt im Prozess des prosaischen-poetischen-theoretischen Schreibens (eine lose) Form an, und ermöglicht, das Körper-Selbst als Werdendes, Sich-Veränderndes und Vergehendes zu begreifen (vgl. S. 27). Auch wenn Singh/du alles sammelt/sammelst, wird sie das "kaputte Etwas" (S. 13)/wirst du dich – wie der Buchtitel verrät – nicht wiederherstellen.
Kein Archiv ist weniger eine klassische theoretische Auseinandersetzung mit dem Archivbegriff (Singh erwähnt lediglich Derridas kanonischen Text), als vielmehr eine "endlose Sammlung" eines instabilen, nicht-identischen Selbst (S. 13); von Affekten, Materialien und Körpern, die kollektiv de/konstruiert werden, und in Zusammenhänge von Politik, Macht und Gewalt eingebettet sind. Singh schreibt (theoretisiert und praktiziert) das eigene Körper-Archiv. Oder vielleicht ist es – wie sie mit Erin Mannings (2020) "Anarchiv" schließt – auch gar kein Tun, sondern etwas, das sie im eigenen Werden erfasst (vgl. S. 136). Der "Inhalt" des (Körper-)Archivs entzieht sich dem Blick und wird erst durch seine Medialisierung zugänglich: In Form eines kleinen, vielschichtigen Buches.
Quellen:
Derrida, Jaques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin: Brinkmann und Bose 1997.
Gramsci, Antonio: Gefängnishäfte. Hamburg: Argument 1994. (Zit. n. Edward Said: Orientalismus. Frankfurt a. M.: Fischer 2008.)
Manning, Erin: For a Pragmatics of the Useless. Durham: Duke Univ. Press 2020.
Nelson, Maggie: Die Argonauten. Berlin: Hanser 2021.
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