Tabea Braun/Felix Hüttemann/Robin Schrade/Leonie Zilch (Hg.): Dokumentarische Gefüge. Relationalitäten und ihre Aushandlungen.
Bielefeld: transcript 2023. ISBN: 978-3-8376-6695-3. 264 Seiten, 39,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2024-2-06Abstract
Wie lässt sich ein politisierter, philosophisch reflektierter (Arbeits-)Begriff des Dokumentarischen entwickeln? Die Beitragenden des Sammelbands Dokumentarische Gefüge. Relationalitäten und Ihre Aushandlungen nehmen diese Frage als Ausgangspunkt ihrer Beschäftigung mit Wirklichkeitszugriffen und -eingriffen. Ihre Antworten versammeln einige Überlegungen zu dokumentarischen Gefügen und ihren Relationalitäten.
Die Publikation schließt an vorherige Bände der interdisziplinären Schriftenreihe und des Graduiertenkollegs "Das Dokumentarische. Exzess und Entzug" an. Anstatt 'das Dokumentarische' festzuschreiben, werden jeweils verschiedene (evidentielle) Operationen des Dokumentarischen herausgestellt und befragt, (reflexiv) angeeignet und umfunktioniert.
Dokumentarische Gefüge ist ein konzeptueller Vorschlag für die Heterogenität, (macht-)politischer, epistemischer und wissenschaftlicher Problemstellungen dokumentarischer Verfahren (vgl. S. 15). Dabei verfolgen die Herausgeber*innen einige Linien und Fäden einer 'nomadischen Wissenschaft' und feministisch-politischen Ökologie: Gefüge werden mit Gilles Deleuze und Felix Guattari "als offene, temporäre, dynamische Konstellationen" und "nicht-linear, nicht-hierarchisch, nicht-patriarchal" verstanden (S. 11). Der Gefüge-Begriff soll auf eine politisch-philosophische Positionierung in wissenschaftstheoretischen Diskussionen zu Wirklichkeitserfassung und Wahrheit verweisen. Relationalität – als Bedingung dokumentarischer Gefüge – wird im Sinne Donna Haraways als (artenübergreifende) Verwandtschaft und Methode des "worlding-with" (S. 14 zit. n. Haraway 2016, S. 58) gedacht. In dieser Perspektive werden Beziehungen, (Aus-)Handlungen und Verantwortungen ("response-abilit[ies]") zwischen menschlichen und mehr-als-menschlichen Akteur*innen berücksichtigt (vgl. S. 13–14). Auch innerhalb des Bands gibt es zahlreiche Verbindungen und Anschlussstellen; ich möchte der vorgeschlagenen Lesart folgen (vgl. S. 16) und die 9 Texte anhand meiner eigenen "kinships" vorstellen.
Robin Schrade fragt nach Wissen/schaft/spraktiken, die 'Dinge' – in diesem Fall abgedruckte Screenshots in Safiya Umoja Nobles Algorithms of Oppression (2018) und Simon Stricks Rechte Gefühle (2021) – zu (zitierfähigen) Dokumenten werden lassen. Noble und Strick dokumentieren, isolieren und analysieren einzelne Suchmomente im Internet gegen die Logik der Flüchtigkeit, und finden damit eine widerständige Strategie im Umgang mit diskriminierenden Web-Inhalten. Diesen Kontext unterschiedlicher methodischer Zugriffe/Eingriffe und divergenter Aushandlungsprozesse fasst Schrade als dokumentarisches Gefüge. Auch Felix Hüttemann schreibt über dokumentarische Werdens-Prozesse: über die "dokumentarisch[e] Operation des Spuren-Hinterlassens" (S. 189) und Dokumente des Wohnens. Gebrauchsspuren (z. B. auf einem Designobjekt) schreiben sich in der Verschränkung von umgebenen/umgebenden Aktant*innen ein, die wiederum ein dokumentierendes, u. a. subjektivitätskonstituierendes, Gefüge (des Wohnens) bilden. Ein Gefüge, das kritische Fragen in Bezug auf Gender, Klasse und Wohnungslosigkeit aufwirft (vgl. S. 199). Operationen bzw. Applikationen eines "Dokumentarisch-machen" (S. 36) werden zudem im Beitrag von Elisa Linseisen geprüft. Mit dem Begriff "Protodokumentarismus" befragt Linseisen die dokumentarische Gefügigmachung von Welt. Durch die Vermittlung von "gefügiger Wirklichkeit" entstehen problematische Hierarchien, Ausschlüsse und Repräsentationen (S. 29), wie das Beispiel der National-Geographic-App zeigt. Die drei Autor*innen benennen Prozesse und Operationen, die die dokumentarische Lesbarkeit bzw. dokumentarisierende Lektüre von 'Dingen' beeinflussen, steuern – und/oder herausfordern. Sowohl Schrade als auch Linseisen verwenden für Letzteres den affirmativen Begriff der "Gegen\Dokumentation", der bereits im zweiten Band der Schriftenreihe eingeführt wurde.
Robert Dörre schließt nach meiner Lesart an Hüttemann und seine Überlegungen zur Subjektivierung (durch Umgebungen) an. Dörres Beitrag fokussiert die Konfiguration(en) von Selbst durch selbstdokumentarische Video-Blog-Formate wie dem Follow-me-around (FMA). Er schlägt die Bezeichnung "haptische Kamera" für die Wahrnehmbarkeit, d. h. Sichtbarkeit und Fühlbarkeit, der Handkamera und ihrer "apparativen Materialität" vor (S. 168). FMAs werden somit als Dokumente der Relation(en) von Selbst und (Aufnahme-)Apparat begreifbar. Bei Lena Halbein werden die (verdeckten) Einschreibungen des Selbst zum Problem: Anhand von Joachim Schmids Fotobuch Other People's Photographs (2011) und unter Einbezug seiner theoretischen Arbeiten kritisiert Halbein die unmarkierte Position des Fotografen. Seine Praxis des Suchens, Sammelns und Kategorisierens gefundener Alltagsfotografien auf Flickr muss als absichtsvolles, subjektives, algorithmisch bedingtes Vorgehen erkannt werden. Schmids "Bildkompendium", so Halbein, ist vorwiegend weiß, heteronormativ und reduktiv, also nicht repräsentativ für zeitgenössische Alltagsfotografie (S. 122). Während sich Halbein mit künstlerischer Autor*innenschaft befasst, denkt Katja Grashöfer über eine automatisierte Form und maschinelle (Text-)Produktion nach. Mit Hans Magnus Enzenzbergers Poesie-Automat (1974) und Mario Klingemanns Installation Appropriate Response (2020) hinterfragt Grashöfer Vorstellungen von Originalität, menschlicher Genialität und Kreativität. Verfahren automatisierter Autor*innenschaft wie von ChatGPT fasst Grashöfer letztlich als "ein kollaboratives Ins-Werk-Setzen" humaner und automatisierter Akteur*innen (S. 240). Es geht in diesen Beiträgen um das Arbeiten und In-Bezug-Setzen mit apparativen, intelligenten Techniken und zunehmender Verwobenheit: um Mensch-Maschine-Assemblagen.
Die übrigen drei Texte lese ich in Hinblick auf die Eigenschaften ihrer 'Gegenstände' – die Ereignishaftigkeit, Ephemeralität, Lückenhaftigkeit – zusammen. Niklas Kammermeier untersucht ausgehend vom live aufgezeichneten Auftritt des russischen Außenministers Sergei Lawrow beim UN-Menschenrechtsrat 2022 (nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine) die komplexen Strategien und potenziellen Effekte der Sichtbarmachung (be)schuldig(t)er Menschen (vgl. S. 134). Mit dem kultur-/theatertheoretischen Begriff des Auftritts – als Schwellenübertritt und Ereignis, strategische Inszenierung und Anerkennungspraxis – wird die "Unterbrechung und Transformation des Alltags" u. a. als "Produktion von Evidenz" lesbar (ebd.). In Cecilia Preiß' Beitrag geht es um die Ausstellung und Diskursivierung solcher (subjektiven) Momente, die sich dem Zugriff von (musealen) Archiv-Institutionen, der Konservierung und Wiederholung entziehen. Preiß verweist auf 'das Dokumentarische' als konstitutiven Bestandteil zeitgenössischer ephemerer Medienkunst. Dokumentarische Verfahren werden nicht nur auf Produktions- und Rezeptionsebene, sondern auch über sekundäre Online- und Vernetzungsformate wie Social Media, Videoportale, Homepages etc. eingesetzt. Auch Esra Canpalat widmet sich dem, was in traditionellen Archiven (bisher) abwesend ist: eine andere (Gegen-)Geschichte türkischer Leben. Canpalat untersucht Aneignungen von nationaler Geschichte sowie Zugänge zu fehlenden oder zerstörten Archiven und stellt dabei zwei gegen\dokumentarische Praktiken gegenüber. Während Taner Akçam unveröffentlichte, vermeintlich eindeutige Staatsdokumente entbirgt, füllt Meltem Ahıska die Lücken mit persönlichen Erzählungen und Erfahrungen.
Dokumentarische Gefüge lässt sich entlang unterschiedlicher Themen, Begriffe und medialer Gegenstände (quer) lesen. Unter anderem werden die Autorität/Prekarität von Dokumenten, das Eingebundensein in ihre Werdens-Prozesse, in Wissensorganisationen und Umgebungen herausgestellt und digitale, v. a. visuelle Medien und Institutionen untersucht. Der Band bietet eine Vielfalt an dokumentarischen Materialien, Verfahren und Zugängen; an einigen Stellen werden die konzeptuellen Vorschläge der Herausgeber*innen – ein Denken mit/in Gefügen und Relationalitäten – aufgegriffen, an anderen aber leider nicht weiterverfolgt bzw. benannt. Die (gegen\)dokumentarischen Lesarten der Beitragenden, ihre Forschungs- und Schreibpraktiken, bilden vielleicht selbst ein dokumentarisches Gefüge, an das Interessierte der Kulturwissenschaften anknüpfen und von hier aus weiterdenken können.
Literatur:
Haraway, Donna. Staying with the trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham: Duke University Press 2016.
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