Olga Moskatova (Hg.): Images on the Move. Materiality – Networks – Formats.

Bielefeld: transcript 2021. ISBN: 978-3-8376-5246-8. 288 Seiten, 42,00 € (print) oder open access. DOI: 10.14361/9783839452462.

Autor/innen

  • Joachim Schätz

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-15

Abstract

Das verteilte Bild (Rothöhler 2018), Vernetzte Bilder (Brantner/Götzenbrucker/Lobinger/Schreiber 2020), und nun Images on the Move: Die medienwissenschaftliche Forschung der letzten Jahre hat an neuen digitalen Bildpraktiken und -technologien vor allem herausgestellt, wie sie Bilder neu in Bewegung versetzen. In der Einleitung des 2021 erschienenen Bandes ordnet Herausgeberin Olga Moskatova diese Beschreibungen einem breiteren "circulatory turn" (S. 7) in der Forschung zu digitalen Medien seit der Jahrtausendwende zu. Anspruch dieser Fokussierung auf die neuen Verbreitungsweisen von Bildobjekten wäre es, so Moskatova mit Bezug auf Medienwissenschaftler Will Straw, Zirkulation nicht bloß als ein ergänzendes Zwischenglied in der Kette von Produktion zu Rezeption zu verstehen, sondern als zentrales Konzept, das Herstellung wie Konsum von Bildern mitumfasst und wesentlich bestimmt.

Diese Wendung hin zur Beforschung der Verteilung von Bildern bleibt, so Moskatova einleuchtend, nicht ohne Konsequenzen für die Theoriebildung der involvierten Medientypen. Speziell in der Fototheorie und -geschichte tritt statt der Fixierung auf den indexikalischen Abdruckcharakter des fotografischen Bildes (und dessen angebliche Krise im Wechsel von analog zu digital) nun die verhältnismäßig einfache Vervielfach- und Teilbarkeit fotografischer Bilder als triftiges medienspezifisches Differenzmerkmal in den Vordergrund. Vorsatz von Images on the Move ist es, diese Schwerpunktverlagerung zur Medialität der Verteilung von Bildern auch in anderen historischen und medienpraktischen Zusammenhängen als den klassischen Schauplätzen Streaming und Social Media auf ihre Produktivität zu testen. In den elf Aufsätzen des Bandes stehen – in Übereinstimmung mit dem fototheoretischen Fokus von Moskatovas Einführung – fast durchgehend fotografische Reproduktionsmedien im Zentrum. Entsprechend reicht der Horizont der medienhistorischen Vertiefung, mit wenigen Ausreißern, von der Gegenwart bis Mitte des 19. Jahrhunderts zurück.

Die thematische Dreiteilung des Buchs (in Beiträge zu Netzwerken, zu Formaten und zu den "Bewegungsbahnen" ausgewählter Bildkorpora) ist schlüssig und soll hier nur knapp umrissen werden: "Networked Images and Image Networks" nimmt in vier Beiträgen sehr unterschiedliche Infrastrukturen der Mobilität von Bildern in den Blick: von der industriellen Postkarten-Zirkulation (Ellen Handy), die von Großdruckereien in Chicago über nahegelegene Eisenbahnschienen in die abgebildeten Orte und von dort per Post weiter in "alle Welt" führten, bis hin zu den visuellen Daten, die Kühlschranksensoren auslesen, im Internet der Dinge an andere Geräte weitersenden und die nur noch in Ausnahmefällen in die Form menschenlesbarer Bilder umgerechnet werden (Simon Rothöhler, sehr konzis). Im zweiten Abschnitt, "Formats and Mobility of Images", reichen die besprochenen Bildformatierungen von der Encodierung von Videostreams (Frank Bauer/Philipp Kurth) bis zu Visitenkarten mit Fotoporträt im Frankreich der Jahrhundertwende (Nicole Wiedenmann), wobei in beiden Fällen Fragen der transportfreundlichen Komprimierung mindestens so entscheidend sind wie solche nach einer Treue zum Abgebildeten. Unter den Bildbeständen, deren "Trajectories and Traces" der letzte Abschnitt folgt, sind etwa die (grafischen, fotografischen, Film- und Fernseh-)Reproduktionen von Rubens-Werken, die an der je zeitspezifisch akzentuierten Kanonisierung des Künstlers zu seiner Dreihundert- und Vierhundertjahrfeier 1877 und 1977 beitrugen (Griet Bonne), sowie ein deutscher Wissenschaftsfilm zur Strömungsmechanik von 1927, dessen bewegte Verwertungsgeschichte von NS- zu US-Lehrfilminstitutionen zur Erinnerung als Göttinger Lokalhistorie am Ende kurioserweise wieder zurück zu physikalischer Bildanalyse führt (Mario Schulz/Sarine Waltenspül).

Alle elf versammelten Beiträge sowie das Vorwort der Herausgeberin sind lesenswert. Während die (etwa ökonomischen und ökologischen) Implikationen des gewählten Zentralbegriffs "Zirkulation" (statt etwa Dissemination oder Verteilung) für den Band noch etwas eingehender besprochen hätten werden können, sind auf der Ebene der einzelnen Texte Konzepte und Methoden plausibel abgegrenzt und auf den Gegenstand abgestimmt. Die Sprache des englischsprachigen transcript-Bands ist generell klar und gut lesbar. Auch den Texten deutschsprachiger Autor*innen, einer knappen Mehrheit im Band, sind nur selten Kollateralschäden des Sprachtransfers anzumerken. (Ausreißer: Einmal sind die "Hochzeiten" – offenkundig gemeint: Konjunkturen – eines Unternehmens irrtümlich als "weddings" [S. 123] übersetzt.)

In der Zusammenschau skizzieren die Texte auf anregende Weise drei methodische und konzeptuelle Herausforderungen, die über den Band hinausweisen: Erstens bedeutet die Ausweitung des Untersuchungsgebiets von digitalen Medien auf die letzten mehr als 150 Jahre eine Herausforderung der Periodisierung. Wie vertragen sich aktuelle Konzepte der Bildzirkulation beispielsweise mit dem klassischen Moderne-Diskurs der Jahrzehnte um 1900, den viele der Autor*innen (etwa Handy und Wiedenmann) bemühen (S. 33, S. 61, S. 121f)? Ein im Band häufig herangezogener Bezugspunkt in dieser Sache ist Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz, beziehungsweise dessen Relektüre durch Erika Balsom, wonach Benjamins Reproduktionsbegriff mindestens so sehr auf das Vervielfältigen und Verteilen der Aufnahmen hinauswollte wie auf ihre referenzielle Beziehung zum Aufgezeichneten. Darüber hinaus wäre ich aber neugierig gewesen auf weitere Überlegungen, wie einige der jüngeren Konzepte, beispielsweise Bruno Latours Urteil einer "a-modernity of circulation" (S. 19) – im Sinne von Zirkulation als Vermischung scheinbar reinlich-modern ausdifferenzierter Sphären – den emphatischen Moderne-Bezug einiger speziell fotohistorischer Beiträge eventuell auch verändern.

Auf produktive Weise a-modern im Latour'schen Sinn einer Hybridisierung ist der Band wiederholt darin, wie er oberflächliche Periodisierungen und konzeptuelle Zuordnungen zu Analog- vs. Digitalfotografien unterläuft. Besonders eindrücklich tut Jonathan L. Dentler das in einer Studie über telegrafische Fotoübertragung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der parallel als analog und als digital einzustufende Verfahren herangezogen wurden. (Eher aus der fototheoretischen Vogelperspektive denn entlang medienhistorischer Fallstudien bürstet auch Michelle Henning in ihrem Beitrag einige vertraute Konnotationen von Analog- vs. Digitalfotografie gegen den Strich.)

Die zweite Herausforderung, die dieser Band in der Zusammenschau verdeutlicht, betrifft die analytische Durchdringung von Zirkulation als eine Frage nicht nur von infrastrukturellen Makro-, sondern auch medienpraxeologischen Mikrodimensionen: Bestimmte Bildsorten zirkulieren massenhaft, auf Social Media oder als Postkarten, aber dabei gehen sie durch unzählige einzelne Hände, die im Teilen ihre eigenen Einschreibungen hinzufügen. Auf die Handlungsspielräume von User*innen und Sammler*innen verweisen Handy (zu Postkarten) und Wiedemann (zu Sammelpraktiken von Cartes-de-Visite), ohne aussagekräftige Beispiele für deren Nutzung vorzulegen. Überzeugender wird diese Schwierigkeit – Mediennutzungsverhalten zu analysieren, ohne es zum "typischen" Beispiel oder zur solitären Anekdote zu machen –, im Aufsatz von Lucas Hilderbrand gelöst. Sein überarbeiteter Wiederabdruck eines Textes von 2009 handelt von der Verbreitung von Todd Haynes' Film Superstar: The Karen Carpenter Story (US 1987) mittels illegaler Bootleg-Videokassetten, um rechtliche Einschränkungen zu umgehen. Hilderbrand hatte natürlich den Vorteil, Zeitzeug*innen zu ihren Sammel- und Sichtungspraktiken und der emotionalen Aufladung ihrer Superstar-Videokassetten befragen zu können.

Drittens schließlich geht der Band die interdisziplinäre Herausforderung an, digitale Praktiken der Bildzirkulation auch in ihren technischen Spezifika aufzurollen: In einem ausführlichen Beitrag erläutern die beiden Informatiker Frank Bauer und Philipp Kurth Unterschiede zwischen Streaming und Download, wie auch zwischen Codec und Container, die Unterscheidungen aus dem (auch kulturwissenschaftlichen) Alltagsverständnis verwirren. Die Übertragbarkeit solcher Inputs in die Medienkulturwissenschaft ist nicht bruchlos: Bei einigen Differenzierungen war mir nach vollständiger Lektüre nicht klar, welchen Unterschied sie für eine Analyse machen könnten, in anderen Fällen würden implizite Wertsetzungen der Autor*innen (etwa zur Effizienz von Streams im Vergleich zu "alten" Trägern wie DVDs, S. 169, S. 178) eine eingehendere Analyse lohnen – etwa auch aus der Perspektive von Laura U. Marks' rezenter Kritik am ökologischen Fußabdruck von Streaming. Andererseits steuert auch dieser Beitrag mit seinen Beobachtungen zur schwierigen Leserlichkeit nächtlicher Schlachtszenen aus Game of Thrones (2011–2019) im komprimierten Stream Beobachtungen bei zu einem der faszinierendsten Nebenthemen des Buchs: der Determinierung und Formatierung ästhetischer Gestaltungsentscheidungen durch Logistiken der Zirkulation. Wenn etwa in Dentlers Beitrag die Rede ist von Lehrbüchern für Fotojournalismus aus den 1930er Jahren, die Kompositionsregeln lehrten, um Fotos optimal auf ihre verlustarme telegrafische Übertragung abzustimmen (S. 59), dann ist das auch die Vorgeschichte zu den Regelwerken für streaming-kompatible Kameraarbeit, auf die Netflix heute Produktionsfirmen verpflichtet.

Quellen:

Brantner, Cornelia/Götzenbrucker, Gerit/Lobinger, Katharina/Schreiber, Maria (Hg.): Vernetzte Bilder. Visuelle Kommunikation in Sozialen Medien. Köln: Herbert von Halem 2020.

Rothöhler, Simon: Das verteilte Bild. Stream – Archiv – Ambiente. Paderborn: Wilhelm Fink 2018.

Autor/innen-Biografie

Joachim Schätz

Film- und Medienwissenschaftler, Universitätsassistent (PostDoc, Mitarbeiter von Lisa Gotto) am tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Er leitete das FWF-Projekt "Praktiken des Lehr- und Unterrichtsfilms in Österreich" (2019–2024, https://www.lehrfilmpraktiken.at). 2017–2019 Wissenschaftskoordinator am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft. Forschung in Projekten zu Industrie- und Werbefilm und Reisefilm. 2006–2013 Filmkritiker der Wiener Stadtzeitung Falter, 2014–2018 Mitglied der Programmkommission der "Duisburger Filmwoche. Festival des deutschsprachigen Dokumentarfilms". Forschungsinteressen: Gebrauchszusammenhänge des Films, Poetiken und Politiken der Komödie, Theorien des Details.

Publikationen (Auswahl):

– Katrin Pilz/Joachim Schätz (Hg.): Educational Film Practices. Themenheft des Journals Research in Film and History 5, 2023. film-history.org/issues/issue-5-educational-film-practices.

– Drehli Robnik/Joachim Schätz (Hg.): Gewohnte Gewalt. Häusliche Brutalität und heimliche Bedrohung im Spannungskino. Wien: Sonderzahl 2022.

– Joachim Schätz: Ökonomie der Details. Österreichs Industrie- und Werbefilm zwischen Rationalisierung und Kontingenz (1915-1965). München: edition text+kritik 2019.

Daniel Eschkötter/Lukas Foerster/Nikolaus Perneczky/Simon Rothöhler/Joachim Schätz: Amerikanische Komödie. Kino | Fernsehen | Web. Berlin: Kultuverlag Kadmos 2016.

– Elisabeth Büttner/Joachim Schätz (Hg.): Werner Hochbaum. An den Rändern der Geschichte filmen. Wien: Filmarchiv Austria 2011.

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Veröffentlicht

2023-11-16

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Rubrik

Medien