Katherine Groo: Bad Film Histories. Ethnography and the Early Archive.
Minneapolis: University of Minnesota Press 2019. ISBN: 978-1-5179-0032-8. 376 S., Preis: € 93,62.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-09Abstract
An welchen Schauplätzen wird Filmgeschichte gemacht, und wer schreibt daran mit? Im Winter 2018 platzierte die Filmwissenschaftlerin Katherine Groo einen Beitrag zu diesen Fragen, abseits der üblichen Fachöffentlichkeiten, in der Washington Post. Ihr Gastkommentar reagierte auf das Ende des auf Filmklassiker spezialisierten Streaming-Dienstleisters FilmStruck. Für den cinephilen Klagechor, der diese Schließung begleitete, zeigte sie schon im Titel wenig Sympathie: "FilmStruck wasn't that good for movies. Don't mourn its demise." Gegen die Annehmlichkeiten eines kommerziellen One-Stop-Shop-Anbieters für Filmgeschichte machte Groo die heterogene Menge bestehender, oft gemeinfreier Internet-Filmarchive (von staatlichen Institutionen wie dem National Film Board of Canada bis zu Non-Profit-Initiativen wie dem Internet Archive) stark. Und gegen FilmStrucks Angebot an abgesegneten "Klassikern" vor allem des Spielfilms (darunter das Sortiment des Edel-DVD-Labels Criterion Collection) brachte sie die Vielgestaltigkeit online auffindbarer filmischer Formen ins Spiel: "early film artifacts, small-gauge formats, amateur genres, short cinemas and literal film fragments."
Damit sind wir auch schon beim polemischen Kern von Katherine Groos im Frühjahr darauf erschienener Monografie Bad Film Histories. Ethnography and the Early Archive. Sie untersucht darin selbst Filme, von denen viele "early film artifacts" und "film fragments" sind, nämlich ethnografische Filme aus den 1890er bis 1930er Jahren. Ihre zentrale These lautet, dass diese Filme als oft bruchstückhafte Randphänomene der Filmgeschichte die Praktiken und Prämissen der aktuellen akademischen Filmgeschichtsschreibung in Frage stellen.
Im Gegensatz zum FilmStruck-Aufsatz ist das historiografische Modell, gegen das Groo anschreibt, hier aber eben nicht die – in der populären Filmkultur nach wie vor dominante – Kanon-Geschichte der prägenden Autor_innenpersönlichkeiten. Stattdessen wendet sich Groo gegen die sogenannte New Film History, die im angelsächsischen Raum in den späten 1970er Jahren angetreten war, genau diese 'alte' Film-als-Kunst-Geschichte abzulösen. In ihrer rigorosen Hinwendung zum Quellenstudium in den Archiven hat die New Film History Enormes beigetragen zum gegenwärtigen Verständnis von ökonomischen und institutionellen Formungen des Kinos, von formalen und stilistischen Mikro-Entwicklungen und unterschiedlichen Praktiken und Erfahrungen der Vorführung und Rezeption. Allerdings, so Groo, würde diese bis heute hegemoniale Tradition der Filmgeschichtsschreibung in ihrem Bemühen um eine Rekonstruktion, "wie es eigentlich gewesen" (S. 16), einem Objektivismus aufsitzen, der sich über die eigenen Prämissen und Methoden (nicht zuletzt: die Situiertheit und Seherfahrung von Filmhistoriker_innen) kaum Fragen stellt.
Groo nennt zwei Gründe, warum gerade eine Untersuchung des ethnografischen Films bis in die 1930er Jahre eine solche metahistorische Kritik nahelegt. Erstens wären die Grundannahmen der New Film History dem natur- und sozialwissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts überraschend ähnlich, der diese ethnografische Filmarbeit wesentlich prägte: So wie die "salvage ethnography" (S. 10) sich bemühte, im 'Verschwinden' begriffenen (oder bereits erfolgreich zum Verschwinden gebrachten) Kulturen in der Aufzeichnung ein Nachleben zu sichern, würden in positivistischer Filmgeschichtsschreibung Archivalien (Filme wie Schriftgut) in eine Ordnung gebracht, die darauf abziele, Bruchstückhaftes ganz, bedeutsam und erinnerungswürdig zu machen. Groo spricht wörtlich – ein Zentralbegriff des Buchs –von "recuperation", von der Erholung oder Genesung, die dieses Modell von Geschichtsschreibung dem untersuchten Film angedeihen lassen wolle. Nun seien aber, zweitens, die von Groo untersuchten Filme vor allem in ihren Weisen bemerkenswert, sich gegen ihre "Gesundung" zu sperren: Es handelt sich dabei vielleicht um vollständige, gestaltete Werke (ganz oder in Teilen überlieferte), vielleicht aber auch um Schnittreste oder ungeschnittene Aufnahmen, ohne dass der Unterschied dem Film (oder seinem Videofile) angesehen oder in den meisten Fällen durch andere Quellen geklärt werden könnte. Diese ethnografischen Filme dauern mal wenige Sekunden, mal viele Stunden; haben keine Titel oder mehrere; weisen erratische Schnittrhythmen auf, lange monotone Bildstrecken, exzentrische Kadrierungen, und Interaktionen im Bild, deren Dynamiken unverständlich bleiben.
Die Irritationen, auch Frustrationen, die aus solchen Beschreibungen sprechen, haben wohl viele Forschende beim Waten durch die Randgebiete der Film- und Videoarchive ähnlich erlebt. Groos denkanregender Move besteht darin, diese Undurchlässigkeit des historischen Artefakts und seiner Überlieferungsgeschichte nicht als Hindernis zu begreifen, das es auf dem Weg zur Beantwortung der 'guten' filmhistorischen Antworten elegant zu umgehen gilt. Sie zielt vielmehr geradewegs auf diese Unbestimmtheit und begrenzte Entzifferbarkeit der untersuchten Filme ab. "Rather than filling holes, this work tries to theorize the emptiness." (S. 3) Um das weniger großspurig, sondern näher an einem gängigen Beispielszenario zu formulieren: Wenn manche der Filme als Begleitmaterialien von Forschungsreisen nebenher gedreht und vielleicht nachher für verschiedene Arbeitszwecke ein- oder mehrmals grob geschnitten wurden, dann verliert die Suche nach einer Originalfassung – wie sie die Filmgeschichtsschreibung bis in die Formatierung von Filmografien und Archivdatensätzen hinein prägt (wo jeder vorläufige Archivtitel einer Kopie als Platzhalter für den zu eruierenden Originaltitel einsteht) – Bezugspunkt und Sinn. Aus solchen Aufnahmen lässt sich auch rückwirkend kein Werk mehr basteln.
Wie schon Alison Griffiths in ihrer imposanten Monografie Wondrous Difference (2002) dargelegt hat, wird der ethnografische Film der 1890er bis 1930er Jahre vielfach den Ansprüchen ethnografischer Wissensproduktion seiner Zeit nicht gerecht. Groo argumentiert nun sogar, dass die Filme in ihrer häufig erratischen Form noch nicht einmal die kolonial-rassistischen Ideologeme der anthropologischen Disziplin ihrer Zeit 'verlässlich' transportieren würden. Damit markiert sie eine deutliche Differenz zu Autorinnen (Griffiths, Catherine Russell, Fatimah Tobing Rony), die bisher einige der überzeugendsten Analysen der visuellen Anthropologie im untersuchten Zeitraum vorgelegt hatten. Wo diese nicht zuletzt das Arbeiten imperialer Machtverhältnisse in den Bildern ausführten, sieht Groo "a distinct lack of epistemological certainty rather than a clear expression of ideological force or a stable difference between spectators and subjects-on-screen." (S. 4)
Nach einer programmatischen Einleitung sucht Groo in fünf Kapiteln je verschiedene Schauplätze dieser Instabilität von (ethno- und filmhistoriografischer) Bedeutungszuschreibung auf. Dabei hat sie jeweils andere Begriffe aus dem Arsenal vor allem poststrukturalistischer Theoriebildung im Gepäck. Ihr Gegenentwurf zur New Film History bedeutet nicht zuletzt, aus poststrukturalistischen Überlegungen zu Geschichtsschreibung und Archiv zu lernen. So konfrontiert das erste Kapitel auch gleich Michel Foucaults Äußerungen zum Archiv mit Aufnahmen aus dem Firmenarchiv der Lumières und den "Archives de la Planète", die der Industrielle Albert Kahn als Privatunternehmung betrieb. (In Kahns Auftrag wurden zwischen 1909 und 1931 in über fünfzig Ländern hunderte Stunden Schwarzweißfilm und 72.000 Farbfotografien aufgenommen.) Die nächsten beiden Kapitel nehmen zentrale Merkmale des ethnografischen Films dieser Zeit in den Blick: Tanz (mit Lyotards Konzept der figure) und die Tötung von Tieren (entlang vor allem von Denkfiguren Jacques Derridas; Donna Haraway schaut auch vorbei). Kapitel vier behandelt, entlang der Alltagssprach-Philosophie Stanley Cavells, die Verknüpfung von Schrift und Filmbild im Einsatz der Zwischentitel. Im fünften Kapitel schließlich kommen mit dem Bildwissenschaftler W. J. T. Mitchell Schichtungen der archivarischen Überlieferung in den Blick, wenn zum Beispiel die Texturen eines aufgenommenen Landstreifens, die Schäden des Filmstreifens, verpixelte Passagen der Videokompression und das digitale Wasserzeichen des Archivs eine gemeinsame Landschaft ausbilden.
Über weite Strecken gelingt es Groo fulminant, ihre Beobachtungen und ausgewählten Konzepte ineinander zu verzahnen und aneinander zu schärfen. Nur an einzelnen Stellen kommt der schale Beigeschmack auf, den kulturwissenschaftliche Analysen von 'Stör-Momenten' häufig entwickeln: dass da auf ein Beispiel hin eine angenommene Ordnung unterkomplex und wenig flexibel gezeichnet wird, damit die erhoffte Störung sich verlässlich einstellen kann. Wenn einzelne untersuchte Expeditionsfilme gegen "the ideological and disciplinary demands for spatial, temporal, and narrative coherence" (S. 166) verstoßen, wer behauptet, dass diese Kohärenz-Anforderungen im Amateur- und Wissenschaftssegment so besonders streng waren? Und dass Bad Film Histories mit dem Projekt einer theoretisch versierten bis abenteuerlustigen Filmgeschichtsschreibung nicht so solitär dasteht, wie es die einleitende Breitseite gegen die New Film History (samt mitgemeintem Neoformalismus) suggeriert, lassen schon die wertschätzenden Anleihen bei zahlreichen anderen Filmhistoriker_innen (Jane Gaines, Miriam Hansen, Patrice Petro, …) durchblicken.
Ergiebiger als die Versuchung zur Wiederaufführung der 'theory wars' der 1980er Jahre ist aber, wie Groo ihren Anspruch eines "particularist approach to film historiography" ausfüllt. (S. 8) Über die Binsenweisheit hinaus, dass die Methode dem jeweiligen Gegenstand angemessen sein müsse, meint Partikularismus hier erstens ein Beharren auf den spezifischen (für Groo vor allem: kolonial und imperial determinierten) Konstellationen, in denen diese Filme hergestellt, eingesetzt und aufbewahrt wurden. Wenn in diesen Filmen ethnografische Ordnungen unleserlich werden, wenn Situationen sich unvorhergesehen entfalten und Menschen und Tiere im Bild aufbegehren, dann ist das weder einem (von Derrida deklarierten) destruktiven Trieb 'des Archivs' pauschal zuzurechnen noch einem intrinsischen Anarchismus des Mediums Film. Dass zu Objekten gemachte Menschen in einer 'Völkerschau' in die Kamera zurückschauen und unleserliche Subjektivität zur Geltung bringen, ist für Groo nicht (mit Mary Ann Doane) auf die Kontingenzmaschine Film zu verbuchen, sondern "the reliable consequence of bodies taken for objects and put on display." (S. 63)
Zweitens bringt Groos Partikularismus schließlich Aspekte der Forschungserfahrung und der Situiertheit historischen Wissens ins Spiel, die in 'guten' Filmgeschichten meist außen vor bleiben. Ihre Berichte über die Raumanlagen und Logistiken eines Archivs oder über die Aushandlung von Bildrechten für das Buch stiften tatsächlich über das Anekdotische hinaus Momente der Einsicht zu den Fragen, mit denen wir begonnen haben: An welchen Schauplätzen wird Filmgeschichte gemacht, und wer schreibt daran mit?
Downloads
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Copyright (c) 2020 Joachim Schätz
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.
Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.