Sophie-Charlotte Opitz: Bilderregungen. Die Produktionsmechanismen zeitgenössischer Kriegsfotografie.
Weimar: Jonas 2023. ISBN: 978-3-89445-577-4. 342 Seiten, 42,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2024-1-11Abstract
Der auf den ersten Blick etwas holprige Titel dieses Buches leitet sich von der doppelten Bedeutung ab, die er nahelegt. Die Leseweise Bilder-Regungen zielt auf den Wirkungszusammenhang fotografischer Aufnahmen aus dem Bereich der Kriegs- und Konfliktfotografie ab. Was bewirken derartige Bilder? Wie wirken sie auf Positionen und Meinungen? Die Veröffentlichung der Aufnahmen aus Abu Ghraib und ihr nachhaltiger Einfluss auf die Wahrnehmung des Irak-Kriegs wären hierfür ein Beispiel. Die Variante "Bild-Erregungen" verschiebt den Fokus auf den Entstehungszusammenhang der Fotografien. Die Frage, wodurch ein Bild geformt wird, löst jene nach seiner Wirkung ab. Diesen beiden Leseweisen liegt die Annahme zugrunde, dass Fotografien nicht nur formen, sondern immer auch geformt werden. Beide Phänomene bedingen einander.
Die Autorin Sophie-Charlotte Opitz hat ihr Buch in drei zentrale Abschnitte unterteilt. Neben einer umfassenden Einleitung, die einen Blick auf die wesentlichen Publikationen und den aktuellen Forschungsstand wirft, sind dies die Abschnitte "Intra-" beziehungsweise "Intermappings". Im ersten Fall handelt es sich um ein Kapitel über die ästhetischen Konzeptionen von Kriegs- und Konfliktfotografie, das von einem starken Praxisbezug bestimmt wird. Im Fokus stehen hier die Projekte von zwei Fotografinnen und drei Fotografen mit ganz unterschiedlicher Herkunft und Arbeitsweise. Ihre fotografisch höchst unterschiedlichen Projekte bilden gewissermaßen den Werkkorpus der Analyse. Das Kapitel "Intermappings" widmet sich dann den Bezügen zwischen den Fotograf*innen beziehungsweise den behandelten Werken. Die Autorin schickt voraus, dass es ihr dabei nicht darum gehe, allgemeingültige Aussage über ihr Thema zu treffen. Vielmehr sei sie an den Räumen interessiert, die sich zwischen den verschiedenen Positionen eröffnen. Anders ausgedrückt: Man hat es hier nicht mit einem Werk zu tun, das paradigmatisch darstellen möchte, was man unter Kriegs- und Konfliktfotografie zu verstehen habe, sondern mit dem Versuch, sich den vielfältigen Zusammenhängen und Mechanismen in Hinblick auf Entstehung und Wirkung derartiger Bilder zu nähern.
Die für dieses Vorhaben gewählte Methode ist eine transdisziplinäre, die stark an Überlegungen aus dem Bereich der Visuellen Kultur anknüpft und Aspekte wie Visualität, (un-)Sichtbarkeit, Repräsentation, Medialität und Identität ins Zentrum der Analyse rückt. Als weiterer methodischer Aspekt gerät die Gedächtnisforschung in den Blick, die den kulturellen und sozialen Rahmen untersucht, in den visueller Phänomene notwendigerweise immer eingebettet sind. Die Einführung umfasst deshalb eine knappe Darstellung der hierfür wesentlichen Modelle von Maurice Halbwachs bis zu Aleida und Jan Assmann. Opitz argumentiert, dass die veränderte Rolle, die Fotografien vor dem Hintergrund von Digitalisierung und den damit zusammenhängenden neuen Produktions- und Vermittlungsstrukturen zukommt, sich auch auf dem Gebiet der Erinnerungskultur widerspiegle. Das Archiv erfahre dadurch eine neue Dynamik, bei der nichtmehr allein der Gedanke des Speicherns im Zentrum stehe. Fotografien seien demnach nicht länger als abgeschlossene Werke zu verstehen, "sondern dienen als materieller Beweggrund zur Speicherung und/oder Transformation und/oder Erzeugung von Erinnerungen." (S. 24)
Als repräsentativ für den Abschnitt der "Intramappings" sei hier auf zwei der fünf behandelten Fotograf*innen verwiesen. Zum einen ist – nicht zuletzt aufgrund der Aktualität des Nahostkonflikts – der israelische Fotograf Shai Kremer zu nennen. Aufgewachsen in einem Kibbutz, studierte Shai Kremer zuerst an der Camera Obscura School of Arts in Tel Aviv, um 2002 in die USA zu gehen, wo er in New York ein Studium für Photography and Related Media anschloss. Kremer hat in unterschiedlichen Bereichen der Fotografie gearbeitet und widmet sich seit einigen Jahren ausschließlich künstlerischen Arbeiten, die einen starken politischen Kontext aufweisen. In diesem Sinne versteht er sich nicht als Kriegsfotograf, arbeitet aber in einem inhaltlichen Naheverhältnis, das vor allem auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina fokussiert. Allen seiner Arbeiten ist gemein, dass sie landschaftliche oder urbane Veränderungen durch Konflikte bzw. kulturelle Einflüsse thematisieren. Die im Buch behandelten Projekte widmen sich dem Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft sowie den ihm eingeschriebenen Machtverhältnissen. Ein Beispiel: Insgesamt neun Jahre (1999-2008) hat Kremer an dem Projekt Infected landscapes gearbeitet. Dem Projekt, das Spuren untersucht, die das Militär in der israelischen Landschaft hinterlassen hat, ist eine politische Kritik eingeschrieben. Der Zustand, in dem Politik und Militär auf die israelische Bevölkerung wirken, sei laut Kremer schlichtweg inakzeptabel. Indem er in seinen Aufnahmen die Menschen ausspart, die die Landschaften prägen, folgt er einer Ästhetik der Absenz, die ihre Produktivität dem Widerspruch zwischen einem militärischen Konflikt und der scheinbaren Friedlichkeit der abgelichteten Landschaften verdankt. Auf einem der Bilder sieht man einen von unzähligen Fußabdrücken gezeichneten Pfad durch ein Naturresort. Die Soldaten selbst, die die Spuren hervorgebracht haben, sind nicht zu sehen. Ein unheimliches Bild, das das Verhältnis zwischen künstlerischer Fotografie und Konfliktfotografie befragt; gleichzeitig eine deutliche Referenz auf Roger Fentons berühmtes Valley oft he Shadow of Dead aus dem Krimkrieg von 1855 – und damit aus der absoluten Frühzeit der Kriegsfotografie.
Nicht weniger eindrucksvoll sind die Fotografien Paula Luttringers, die seit Mitte der Neunzigerjahre mit ihren Arbeiten die Geschichte ihres Geburtslandes Argentinien befragt. Die 1955 geborene Luttringer geriet 1977 als Schwangere in Gefangenschaft der Militärjunta, konnte aber bald darauf mit ihrem Neugeborenen das Land verlassen. Als sie Jahre später nach Argentinien zurückkehrte, sah sie eine Ausstellung über inhaftierte Mütter und entdeckte so die Fotografie als Medium für ihre künstlerische Arbeit. Ihre konzeptuell wie intuitiv angelegten Werke sind durchwegs subjektiv und von einer starken politischen Haltung gekennzeichnet. In ihrem Projekt Lamento de los muros (dt. "Das Wehklagen der Mauern") etwa verbindet sie verschriftlichte Erinnerungen von einst inhaftierten Frauen mit architektonischen Nahaufnahmen ebenjener Gefängnisse, in denen die sogenannten Desaparecidas (die "Verschwundenen" der argentinischen Militärjunta) einst ihrem ungewissen Schicksal harrten. Visuell eindrucksvolle Aufnahmen in anklagendem Schwarz-Weiß, die die Seherfahrung der Betrachter*innen mit der furchtbaren Ungewissheit der Inhaftierten gleichsetzen. So, wie die Desaparecidas nicht wussten, wo man sie eingekerkert hatte, sind auch diese Aufnahmen nicht zuordenbar.
Derartige Projekte, die ausführlich analysiert und beschrieben werden, verdeutlichen, woran es der Autorin mit ihrem Buch gelegen ist. Es geht hier nicht nur um eine Aufarbeitung des Genres der Kriegs- und Konfliktfotografie, sondern gleichsam um eine Erweiterung seiner Grenzen, um ein Verständnis dafür, welche Arten von Fotografie konfliktgeladenen Kontexten entspringen können und was sie zu leisten vermögen.
Der Abschnitt "Intramappings" gliedert sich seinerseits in weitere Unterpunkte, wobei es um unterschiedliche Präsentationskontexte (Kapitel "Ästhetische Dispositive"), Fragen nach der Ontologie des Bildes selbst ("Das Bild als (welches) Ereignis?") und schließlich um die gestalterischen Mittel geht, die konkrete Erscheinungsformen der Fotos bestimmen. In all diesen Beobachtungen baut die Autorin auf die im Teil "Intramappings" vorgestellten Arbeiten auf und verortet ihre Fragestellungen in einem wissenschaftlichen Kontext, der essayistische Bemerkungen Susan Sontags genauso berücksichtigt wie die bildtheoretischen Ausführungen William J. T. Mitchels oder Umberto Ecos Überlegungen zum Offenen Kunstwerk, das hier zu einer Offenen Fotografie wird.
"Produktionsmechanismen zeitgenössischen Kriegsfotografie" lautet der Untertitel dieses Buches. Das ist nachgerade eine Verharmlosung, denn zweifellos liegt hier ein Werk vor, das weit über diese Aspekte hinausreicht und seinen Gegenstand in einer Vielschichtigkeit befragt, die schon einmal schwindlig machen kann. Wenn es auch nicht das erste Werk ist, das stark nach dem Verhältnis zwischen Konfliktfotografie und künstlerischer Fotografie fragt (das Referenzwerk dazu wäre Agnes Matthias' Die Kunst, den Krieg zu Fotografieren), ist der Abschnitt der "Intramappings", der neben bekannten Namen auch Arbeiten weitgehend unbekannter Vertreter*innen vorstellt, als besonders lohnende Lektüre hervorzuheben. "Wer eine Hölle als das bezeichnet, was sie ist, hat damit natürlich noch nicht gesagt, wie man Menschen aus dieser Hölle herausholen und das Höllenfeuer eindämmern kann", lautet ein ernüchternder Kommentar Susan Sontags über die beschränkte Wirkungsweise von Kriegsfotografien. In einigen der hier vorgestellten Projekte steckt so viel Energie, dass man es ihnen zutrauen würde, dieses Höllenfeuer, wenn schon nicht zu zähmen, dann doch zumindest ein wenig besser zu verstehen.
Literatur:
Matthias, Agnes: Die Kunst, den Krieg zu Fotografieren. Krieg in der künstlerischen Fotografie der Gegenwart. Marburg: Jonas 2005.
Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt a. M.: Fischer 2005.
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