Manuel Palacio: Kleine (Sozial-) Geschichte des Spanischen Fernsehens

Marburg: Schüren 2022. ISBN: 978-3-7410-0409-4. 160 Seiten, Preis: 20,00 €.

Autor/innen

  • David Krems

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-13

Abstract

„Never judge a Book by its cover!“ - Eine bekannte Redensart, an die man reflexartig denken muss, wenn man das hier behandelte Werk zur Hand nimmt. Das Cover-Motiv hat man sich bei der erfolgreichen spanischen Netflix-Serie La casa de papel (Haus des Geldes) geliehen, was sicher auch ein Zugeständnis an die Aufmerksamkeitsökonomie des Buchmarktes ist, markiert die gefällige Abbildung doch nur den äußersten Eckpunkt eines breiten, hierzulande weitgehend unbekannten Themas. Bei genauerem Betrachten ergibt sich jedoch ein komplexeres Bild. Immerhin ist das Motiv am Cover sichtlich ins Wanken geraten, was man als Hinweis darauf lesen darf, dass es hier einiges zu hinterfragen und entdecken gibt. Und auch Salvador Dalís Maske, die La casa de Papel so populär gemacht hat, ist, wie sich zeigen wird, keine gänzlich falsche Fährte.

Der Titel des Buches macht sein Anliegen klar: Es geht hier nicht allein um die Geschichte des spanischen Fernsehens, sondern auch um etwaige Rückschlüsse auf Geschichte und Mentalität eines Landes. Das Programm ist gesetzt, die Eckpunkte vorgegeben: Ausgehend von Franco-Ära und Transición wandert der Autor vorhersehbar chronologisch bis in die Gegenwart. Das mag ein wenig bieder wirken, ist in diesem Fall aber sicher nicht der schlechteste Weg, ist doch vieles von dem, was Spanien lange zu einem europäischen Sonderfall machte, in jener Zeit zu verorten, in der auch die Geschichte des Fernsehens ihren Anfang nahm. Und das durchaus in einer Perspektive, die über die hier behandelte hinausgeht, denn das Fernsehen als eine Erfindung der 30er-Jahre fällt mit der Zeit der Zweiten Spanischen Republik und den bekannten Folgen zusammen: Erhebung der Militärs, Bürgerkrieg, Diktatur. Der Autor steigt gegen Ende dieses Abschnitts ein, der beinahe vier Jahrzehnte (1939–1975) umfasst. Gerade einmal eine Handvoll Empfangsgeräte gab es auf der iberischen Halbinsel, als in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre der erste Sendebetrieb aufgenommen wurde. Die Diktatur währte damals bereits gut zwei Jahrzehnte und vieles, was damals in Spanien geschah, geschah auf höchst eigenwillige Weise. Das gilt auch für die Gründung des spanischen Fernsehens TVE (Television Española), das ohne offizielle Legitimation – und damit auch ohne gesicherte Finanzierung – seinen Betrieb aufnahm.

Wer sich nun vorstellt, dass das Fernsehen in einem autoritär geführten Staat eine stramm durchorganisierte Propagandamaschine sei, wird gehörig überrascht. Vielmehr liest man von der Willkür einer Zensur, deren Personal und Kompetenzen nirgends festgeschrieben waren, vom Einfluss unterschiedlicher politischer (Falange) oder religiöser (Opus Dei) Gruppen, und erfährt, dass das spanische Fernsehen auch in Hinblick auf seine Finanzierung früh einen ungewöhnlichen Sonderweg ging bzw. gehen musste. Da es keine gesicherten finanziellen Mittel gab, setzte TVE schon sehr bald auf ein Modell, dass dem US-amerikanischen näherstand als allen europäischen Modellen, da es sich zu ganz wesentlichen Teilen aus Werbeeinnahmen finanzierte. Das ging so weit, dass sich das TV-Programm wie eine Aneinanderreihung von Werbesendungen las, bei denen bereits durchaus multinationale Konzerne (Philips, Nescafé) als Sponsoren auftraten. Eine gewisse Paradoxie lässt sich auch hier erkennen, stand das Lebensgefühl, das der internationale Markt in Form der Werbung auf die iberischen Bildschirme brachte, doch oft im Widerspruch zu den dort geltenden Normen. Gleichzeitig gab es bereits politische Kräfte, die an einer Modernisierung des Landes durchaus interessiert waren, ging es doch darum, sich im europäischen Kontext als moderner, gewöhnlicher Staat und Wirtschaftspartner (Stichwort Desarollismo) zu präsentieren.

Palacio erklärt, dass dieses organisatorische Durcheinander aber keineswegs als Fehler der zuständigen Stellen gedeutet werden dürfe, sondern dem simplen Kalkül entsprach, sich alle Möglichkeiten offen zu halten. „Die mangelhafte Ausgestaltung des Rechtsmodells kann jedoch nicht als Nachlässigkeit Seitens der Franquisten gewertet werden, vielmehr ist gerade der rechtliche Schwebezustand der wesentliche Aspekt des spanischen Modells“ (S. 19).

Der Autor reichert die wenigen verfügbaren Daten aus dieser Frühzeit des TVE mit Anekdoten und Einschätzungen an. Es ergibt sich das eigentümliche Bild eines Landes, dessen einzige zugelassene politische Kraft längst selbst in unterschiedliche Lager zerfallen ist, und an deren Spitze ein alter, kranker Mann steht, der immer noch gerne selbst zum Telefon greift, wenn ihm etwas nicht passt – wie zum Beispiel das TV-Programm, das er gerne und aufmerksam verfolgt.

Verdeutlichen lässt sich die Gemengelage, die am Ende der Diktatur herrschte, gut mit einem Beispiel, das Palacio ausführlich beschreibt. Der Eurovision Song Contest, dessen Bühne Spanien seit 1961 gerne nützte, um sich als fortschrittliches Land zu präsentieren, geriet 1968 zu einem Musterbeispiel spätfranquistischer Schaupolitik. Im Vorfeld wurde der bereits gesetzte Kandidat Joan Manuel Serrat in letzter Minute ausgetauscht, da er – ein gebürtiger Katalane – angedeutet hatte, Teile des Liedes auf Katalan singen zu wollen. Ein Affront gegen den spanischen Staat, der sich allein das Kastilische zur offiziellen Sprache erkoren hatte. Ersatz fand man in der jungen Sängerin Massiel, die das Lied mit dem politisch eher gefahrlosen Titel „La, la, la“ ohne Aufbegehren vortrug – und die Veranstaltung prompt gewann. Wer glaubt, das alles sei bloß eine Fußnote der spanischen Fernsehgeschichte, irrt. Einerseits wurde Joan Manuel Serrat zum Dissidenten – und es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet er heute von katalanischen Separatisten angefeindet wird, weil er eben auch gerne auf Spanisch (Kastilisch) gesungen hat – andererseits durfte Spanien im Folgejahr den nächsten Song Contest ausrichten, was man zur nobelsten aller Aufgaben erkor. Unglaubliche 100 Millionen Peseten (etwa 6 Millionen Euro) nahm man in die Hand, um sich vor dem Rest Europas im besten Licht zu präsentieren. Und es lief auch alles gut – inklusive eines bei Salvador Dalí in Auftrag gegebenen, seltsam aus der Zeit gefallenen Plakates – bis ein paar Wochen vor Beginn des Spektakels in Madrid eine Revolte losbrach und der Ausnahmezustand verhängt wurde, was kurzerhand das ganze Land in eine Showbühne verwandelte, galt es doch die politischen Wirren vor der internationalen Presse tunlichst zu vertuschen. Kurzum: Bei der Lektüre wird verständlich, warum der Eurovision Song Contest, der anderenorts gerne belächelt oder schlicht zur Kenntnis genommen wird, in Spanien auch heute noch regelmäßig für große Emotionen sorgt. (Die heftige Polemik um einen bei der aktuellen Vorauswahl nur knapp unterlegenen feministischen Song, der sich so ziemlich in allem von der schließlich gebotenen hochpeinlichen Performance unterschied, kann als aktueller Beleg hierfür dienen.)

Während der Transición erweist sich das Fernsehen als strategischer Partner der Politik. Etwa da, wo es um die Installation von Juan Carlos I und ein Werben für die Staatsform der demokratischen Monarchie geht. „Man kann sagen, dass das Ziel, das die gesamte politische Rechte während der Übergangszeit vereinte, darin bestand, das monarchistische System zu legitimieren und gleichzeitig die Figur Juan Carlos I als Staatsoberhaupt zu stärken“ (S. 57). Wirklich frischer Wind kommt in das spanische Fernsehen erst nach Francos Ableben (1975) und den ersten freien Wahlen (1977). Palacio erzählt von der bedeutenden Rolle, die TVE in diesem Kontext spielte, was sich gut an der Person Aldolfo Suárez festmachen lässt, der, bevor er erster Ministerpräsident des postfranquistischen Spaniens wurde, TVE-General gewesen war.

Als sich 1982 mit dem Wahlsieg des PSOE erstmals seit der Zweiten Republik die politische Linke an die Staatsmacht kam, brachte das für TVE Veränderungen, die Palacio als Kulturkampf beschreibt: Die Kirche verlor an Einfluss (Spanien war mit der Verfassung von 1978 dem Papier nach ein laizistischer Staat geworden) und rechte Kreise liefen Sturm. Zentraler Konfliktpunkt waren die Darstellung des Militärputsches von 1936 und die Beurteilung der Diktatur. Auch eine Diskussion um ein Abtreibungsgesetz, das der PSOE 1983 auf den Weg brachte, sorgte für gesellschaftlichen Konfliktstoff. Damit bekamen innerhalb Spaniens erstmals Fragen eine breitere Öffentlichkeit, die das Land bis heute beschäftigen. Man bedenke, dass das entscheidende Gesetz zur Aufarbeitung der Verbrechen des Bürgerkriegs – umgangssprachlich als Gesetz der historischen Erinnerung (Ley de memoria histórica) bezeichnet – erst 2007 verabschiedet wurde.

Palacio erzählt all dies mit Blick auf bekannte Produktionen des TVE und verweist auch immer wieder auf relevante Filmproduktionen, die in Zusammenhang mit dem Fernsehen entstanden sind. Dabei begreift er Fernsehgeschichte als historische Abhandlung mit Verweisen auf Politik und Gesellschaft. Mitunter hat man so das Gefühl, viel eher einen Kommentar zur Politik als zum Fernsehen zu lesen. Das ist weniger als Wertung denn als Hinweis für all jene zu verstehen, die hier ein medienwissenschaftliches Werk mit entsprechenden Analysen erwarten.

Die Zeit bis zum Aufkommen der privaten Fernsehsender (1990) beschreibt Palacio als goldenes Zeitalter des TVE. Durch die Monopolstellung des stattlichen Senders flossen die Werbeeinnahmen in Strömen und die Regierung unter PSOE-Führung (der Sozialist Felipe González war bis 1996 Ministerpräsident) übte sich in einer weltoffenen, toleranten Haltung. Als Höhepunkt dieser Zeit wird zurecht das Jugendfernsehen der sogenannten Movida beschrieben. Die Movida war eine Jugendbewegung, die vor allem in Madrid der 1980er-Jahre für ein neues Lebensgefühl sorgte, das von einem Aufbegehren gegen gesellschaftliche Normen, dem Bruch mit Folklore-Stereotypen, reichlich Drogen und sexueller Befreiung bestimmt war. Als wichtigste Protagonist*innen dieser Bewegung sind wohl der Regisseur Pedro Almódovar und die Musikerin/Moderatorin/Schauspielerin Alaska zu nennen, die ihre Karrieren zu jener Zeit begannen (und bis heute fortsetzen konnten). La bola de cristal (1984–1988) war eine im Rückblick schlichtweg als legendär zu bezeichnende Sendung, die mit der ihr zugestandenen inhaltlichen und gestalterischen Freiheit Fernsehgeschichte schrieb und ihrem Publikum unerhört subversive Botschaften mitgab: „¡Viva el Mal! ¡Viva el Capital!“

Die Zeit des beginnenden Privatfernsehens – unter eifrigem Mitwirken von Berlusconis Mediengruppe Mediaset (Tele 5) – beschreibt Palacio als krude Mischung aus plumpem Sensationalismus und kuriosem Spektakel mit viel nackter Haut und erschreckend unverhohlenem Sexismus. Ein mit dem Euphemismus „Fiesta-Fernsehen“ belegtes Programmangebot, das man, abgesehen von lokalen Besonderheiten, auch aus anderen Ländern hinreichend gut kennt. Infolge einer Wirtschaftskrise, die Spanien Anfang der 90er-Jahre erreichte, büßte diese Form des Spektakel-TVs allerdings einiges von seiner Popularität ein. In Hinblick auf die Übernahme zahlreicher Formen und Formate in andere, auch öffentliche Programme, spricht Palacio von einer „Italianisierung“ des nationalen Fernsehmodells, die einer Vorliebe für US-amerikanische Produkte (vor allem Spielfilme) gegenübersteht, wie sie noch für die Frühphase des spanischen Fernsehens charakteristisch war. Die enorme Wirtschaftskrise der Nullerjahre führte schließlich dazu, dass am privaten TV-Markt nur mehr zwei bedeutende Unternehmen übrigblieben: Atresmedia (mit z.B. Antena 3) und Mediaset (Tele 5). Daneben konnte sich mit La Sexta (Atresmedia) auch ein progressiver Kanal etablieren, der von einem politisch linksstehenden Publikum favorisiert wird und dem nachgesagt wird, nachhaltigen Einfluss auf die Popularität des Politikers Pablo Iglesias (bis vor kurzem stellvertretender Ministerpräsident) und seine betont linke Protest-Partei Podemos gehabt zu haben.

Das letzte Kapitel des Buches gilt schließlich den populären fiktionalen Formaten der jüngeren Vergangenheit bzw. der Gegenwart. Mit einer ganzen Reihe von – teils von TVE, teils von privaten Sendern – produzierten TV-Serien, hat Spanien auf diesem Bereich eine enorme Produktivität (etwa 2.000 Stunden pro Jahr) erreicht, die in Europa lediglich noch von England und Frankreich übertroffen wird. Einige der Serien haben es zu beachtlichen Erfolgen (inklusive internationalen Ablegern) gebracht und werden regelmäßig von einem Millionenpublikum gesehen. Als wesentliches Charakteristikum für diese Formate beschreibt Palacio den spanischen Kostumbrismus, der für ein typisches Figurenrepertoire steht, das oft einer einzigen fiktiven Familie entstammt und an Orten der häuslichen Zusammenkunft (etwa der Küche) ihre Problemchen verhandelt. Insgesamt hat man es hier mit TV-Titeln zu tun, die in Spanien so gut wie jede(r), außerhalb Spaniens so gut wie niemand kennt. Ausnahme und Abschluss macht schließlich die Serie, die das Cover des Buches schmückt: La casa de papel (2017–2021), die bisher erfolgreichste nicht-englischsprachige Netflix-Serie überhaupt.

Palacio trägt viele Details zusammen und malt ein buntes Mosaik der verschiedenen TV-Epochen, dem es allerdings oft an Tiefe fehlt. So gleicht auch dieses letzte Kapitel streckenweise einer erläuterten Aufzählung von TV-Titeln ohne weitergehende Einordnung. Auch der Versuch einer detaillierteren Analyse, die etwas mehr über die einzelnen Genres, ihr Publikum oder gesellschaftliche Prozesse verraten würde, bleibt aus.

Da die deutschsprachige Literatur zum Thema des spanischen Fernsehens alles andere als umfangreich ist, ist die Übersetzung dieses Werkes zu begrüßen. Palacios Geschichte liest sich – trotz teilweise holpriger Übersetzung – flott und niederschwellig. Anschlüsse an medienwissenschaftliche Diskurse oder Verweise auf aktuelle Literatur sucht man allerdings vergeblich, und auch das Publikum gerät bestenfalls in Form von Statistiken oder politischen Gruppierungen in den Blick. Die erwähnten Produktionen dürften den wenigsten Leser*innen außerhalb Spaniens etwas sagen, was dazu führt, dass sie im Falle der oftmals schmalen inhaltlichen Erläuterungen als austauschbare Stationen einer chronologischen Abfolge von TV-Ereignissen erscheinen. Es handelt sich demnach weniger um eine medienwissenschaftliche denn eine politische Arbeit, die erfreulicherweise auch aktuellen Diskussionen Raum gibt. So wird immer wieder die durch zahlreiche Verfehlungen und Skandale arg in Verruf geratene Rolle der Königsfamilie (allen voran in Gestalt des einst hoch gewürdigten Monarchen Juan Carlos I) thematisiert und auch die kritische Neubewertung der bisher einheitlich positiv kommentierten Transición, wird angesprochen. Kurz: Wer an spanischer Politik und Gesellschaft interessiert ist, hat hier durchaus eine lohnende Lektüre vor sich. Wem allerdings der Sinn nach einer medienwissenschaftlich fundierten Betrachtung steht, wird sich noch eine Weile gedulden müssen.

Autor/innen-Biografie

David Krems

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Promotion über Fototheorie. Arbeiten in verschiedenen Bereichen der Fotografie und des Films. Seit 2009 Medienarchivar und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Experimentalfilmemacher und Autor.

davidkrems.com


Publikationen

David Krems: "Ein Jahrhundert des Lichts – die Fotogramme des László Moholy-Nagy". In: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft, 65. Jg., 1-2/2019, S. 93 – 106.

David Krems: Fast ein Wunder. Wien 2019 (Roman).

David Krems: Inszenierungen des Fotografischen: Technik und Ästhetik im medialen Wechsel. Wien 2017 (Dissertation).

David Krems: Falsches Licht. Wien 2017 (Roman).

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Veröffentlicht

2022-05-18

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Medien