Gunter Lösel: Die dunkle Seite des Spiels. Theater zwischen Spiel, Wirklichkeit und Fiktion.

Bielefeld: Transcript 2024. ISBN: 978-3-8376-7024-0. 220 Seiten, 39,00 € / Open Access.

Autor/innen

  • Andreas Kotte

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2025-2-01

Abstract

Während in der praktischen Schauspielausbildung dem Spiel stets enorme Aufmerksamkeit geschenkt wurde, foutierte sich die Theaterwissenschaft über Jahrzehnte um Konzepte, die Spiel als originär für die Konstitution von Theater nachweisen könnten. Dass der Nestor der universitären Theaterwissenschaft, Max Herrmann, Theater als ein "soziales Spiel" bezeichnet hatte, wurde – außerhalb weniger Schriften zur Schauspielkunst, zu Theatralitätsgefügen und szenischen Vorgängen – nahezu folgenlos repetiert, bis im vergangenen Jahr Gunter Lösel, Psychologe, Improvisateur und Schauspiellehrer, die differenzierteste Auslegeordnung zum theaterbezogenen Spiel vorgelegt hat, die der Rezensent bisher lesen durfte. Der Gestus des Buches offenbart sich im ersten Satz: "Dies ist der Blick eines Theatermachers, der das Theater liebt, aber immer auch gefragt hat, was das Ganze eigentlich soll." Der Gestus erleichtert, vom Gegenstand Spiel getragen, das Lesen ungemein, schmälert aber die Schärfe der Analyse nicht im Geringsten. Das Buch bietet einen Parforceritt durch die Spieltheorien, eine Revision der theaterwissenschaftlichen Grundkategorie "Dopplung des Schauspielers" und einen Vorschlag, die dunklen Seiten des Spiels auch für Theater höher zu bewerten. Die Darstellung aller Themenbereiche geschieht im ständigen Ringen um die geeignetste Perspektive, sei es die philosophische, die anthropologische, die entwicklungspsychologische, die theaterpraktische oder die theaterwissenschaftliche. Schon aus einer solche knappen Vorbemerkung geht hervor, dass sich eine Rezension arg beschränken muss auf wenige Kernpunkte und zum Beispiel die Tatsache, dass das Spiel des Versteckens und Suchens der Nahrung bei Krähen deren Hirnmasse um ein Drittel vergrössert, unkommentiert lässt (vgl. S. 54).

Handlungen können im Modus des Spielens oder des Nichtspielens durchgeführt werden. Damit betrachtet der Autor Spiel als eigenständige Erscheinung: "Das Spiel enthält Qualitäten der Wirklichkeit, die Wirklichkeit enthält Qualitäten des Spiels, und wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob das Spiel die Wirklichkeit spiegelt oder ob die Wirklichkeit das Spiel limitiert" (S. 51). Diese Ambivalenz ist zu akzeptieren, aber strukturelle Ähnlichkeiten beider Seiten existieren ohne Frage. Das Theater, dem sich Lösel zunächst semiotisch zuwendet, schafft bekanntlich Parallelwelten, genauso wie im Karneval eine Verdopplung der Welt erfolgt. Daraus ergibt sich im Theater die sattsam bekannte Aufspaltung der Schauspielenden in reale Personen und fiktive Figuren. Der Autor referiert die Position nach einer Variante von Erving Goffman, in der sich auch die Zuschauenden verdoppeln und nennt dies die Zwei-Welten-Theorie des Theaters. Deren Probleme – Wer sind zum Beispiel die Performer in den Performances? Die Privatpersonen, die Figuren oder etwas Drittes? – lösen eine Suche aus und trennen letztlich den Spieler von der Privatperson in der Zwei-Welten-Theorie ab.

"Es entsteht eine Dreiecksgestalt, 1. Die Figur, ein Körper, der zum Zeichen wird, Zeichen aussendet und in einer Welt von Zeichen agieren kann. 2. Der Spieler/die Spielerin, ebenfalls ein Körper, der sichtbar wird, der oder die die Operationen des Theaterspiels durchführt, und 3. Die individuelle Person, die mit ihrem Körper immer auch anwesend bleibt, mit spezifischen, individuellen Merkmalen, Sinnen, Gefühlen und Geschichte" (S. 88).

Was auf den ersten Blick wie ein Taschenspielertrick aussieht, erweist sich auf den zweiten als bedeutsamer Vorschlag. Denn die Schauspielerin, die sich am Abend vor dem Vorhang verbeugt, ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Figur, aber bei weitem noch nicht die Privatperson. Das wird sie vielleicht bei der Premierenfeier. Der Übergang zur Drei-Welten-Theorie – angeregt durch den Theaterwissenschaftler Klaus Schwind (S. 91) – bedeutet eine Sichtbarmachung des Spiels als "lebendige Mitte" (Hegel), als punctum saliens. Spielerin und Spieler sind die Agierenden (das Agens), die mit der Fiktion und der Privatperson umgehen können, nicht müssen. Sie spielen für die Schau und mit den Schauenden. Es darf durchaus – wie in den Zwei-Welten-Theorien beschrieben – dargestellt oder verkörpert werden, aber das sind untergeordnete Varianten des Spiels. Drei Ebenen werden aktiviert, Realität, Spiel und Fiktion, die im Alltag wie im Theater existieren. Im Alltag sind sie vermischt, aber im Theater werden sie sichtbar gemacht – so wie ein Prisma weißes Licht in einen Regenbogen spaltet (S. 93). Die dreifache Rahmung gilt für alle Komponenten von Theater gleichermaßen. Selbst Performances verweigern sich einem solchen Herangehen nicht. Spiel, Fiktion und Wirklichkeit sind für den Autor verwandte Paralleluniversen, die nach eigenen Gesetzen funktionieren. Im Prisma Theater wird der gemischte Alltag zerlegt beschreibbar (S. 96). Durch den Bezug auf die gleichen drei Welten spiegelt sich die Aufsplittung der Spielenden ("Person, Spieler:in, Figur") in einer Aufsplittung der Zuschauenden in "Person, Zuschauer:in, Teilnehmener:in an der Fiktion" (S. 208).

Nachdem die ersten beiden Kapitel über Spieldefinitionen und die Spielhaftigkeit der Welt zum Nukleus der Dreiecksgestalt und der Drei-Welten-Theorie geführt haben, wird diese nun variiert und ausgefaltet unter Nutzung auch praktischer Erfahrungen. Das reicht über Abschnitte zum magischen Kreis, über Unbewusstes, Suspension of Disbelief, Immersion, Identifikation, Avatare, Imagination und die Facetten des Schauspiels (nicht mehr klassisch nach Schulen), über Spiegelneuronen und Games bis zur Ästhetik des Spiels im Theater. Im vierten Kapitel zu "Performativen Spielen" wird Spiel als ein sich aufspaltendes System in zwei Kreisen beschrieben. Um das impulsgebende primäre Spiel der Agierenden bildet sich ein zweiter Kreis der Zuschauenden, deren sekundäres Spiel eines besonderen Involvements und starker Erwartungen bedarf. Die Zuschauenden haben weniger Einfluss auf das primäre Spiel der Agierenden und strengen sich weniger an, aber für sie hält es stärkere emotionale Konsequenzen und Bedeutungen bereit. Im Grunde gehören diese Ausführungen zum breiten Konsens in der Theatertheorie. Bedeutsam werden sie durch die demonstrative Ausdehnung auf alle Schauereignisse, wenn etwa Wetten auf den Ausgang des Vorgangs als Konsequenzen auf der Seite des sekundären Spiels mit einbezogen werden (S. 156) sowie dadurch, dass die Zuschauenden "aus ihrer sicheren Position heraus ein gesteigertes Risiko auf der Bühne" erwarten. "Ohne dieses Risiko wäre das Zuschauen sinnlos. Würde Rotkäppchen auf dem Weg bleiben, gäbe es kein Märchen" (S.168). Dieser Argumentationsstrang leitet im 5. Kapitel über zu einer höheren Bewertung der dunklen Seiten des Spiels als bisher in der Theaterwissenschaft vorgenommen. Die Gewährsmänner Aristoteles, Platon, Nietzsche und Freud zwingen den Autor, das Spiel dem fröhlichen Zeitvertreib zu entführen und Gefährdungen wie Spielsucht, destruktive Überbietungswettkämpfe (Potlatch), das Russian Roulette oder die Korruption von Spielen (Roger Caillois) einzubeziehen. Die Abseitigkeiten von Spielen wie Videos über Streiche ("pranks") auf Videoplattformen sowie Performances führen ihn zu Richard Schechners "Dark Play": "Das dunkle Spiel unterläuft die Ordnung, löst den Rahmen auf und bricht seine eigenen Regeln" (S. 188). Möglicherweise folgen nicht alle Lesenden vorbehaltlos der Argumentation, das dunkle Spiel setze sich vor allem auf der Zuschauerseite durch, weil diese "wollen, dass das Spiel eskaliert, dass das Risiko der Figuren/ Schauspielenden/ Individuen auf der Bühne zunimmt und dass Konflikte sich radikal entladen" oder dass "sie erwarten, dass dies mindestens zu einem gewissen Grad passiert" (S. 201). Allerdings kann die dunkle Seite des Spiels als erforderlich für die harmlose am Ende des Buches als erwiesen gelten. Und Indizien für ein Spiel, das in einer ökonomisierten, rationalistischen und digitalisierten Welt als ein Refugium des Ambivalenten auftritt, sind unbestreitbar, ob man nun die Ambivalenz zur Angstlust verschärft oder nicht. Ist der Durchbruch im Spielverständnis von Theater gelungen? Die weitere Forschung wird es erweisen. Aber eine Nominierung für den Oscar zu einem der relevantesten theaterwissenschaftlichen Bücher der letzten fünf Jahre sollte man dem Autor schon zugestehen.

Autor/innen-Biografie

Andreas Kotte

Gründungsprofessor, jetzt Emeritus am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, das er von 1992 bis 2020 als Direktor leitete. Studium der Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaft und Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte dort 1985 mit einer Arbeit zum Halberstädter Adamsspiel, einem Grenzfall mittelalterlicher Theaterkultur (Francke 1994). 1988 Habilitation zu den Strukturveränderungen im ungarischen Theater 1980–1987. Mehrfach übersetzte Studienbücher zur Theaterwissenschaft (UTB 2005) und Theatergeschichte (UTB 2013), Aufsatzsammlung Schau Spiel Lust (Chronos 2020). Herausgeber von 39 Bänden der Buchreihen Theatrum Helveticum und Materialien des ITW Bern sowie des dreibändigen Theaterlexikons der Schweiz.

Cover: Die dunkle Seite des Spiels

Downloads

Veröffentlicht

2025-11-12

Ausgabe

Rubrik

Theater