Rainer Rother/Karin Herbst-Meßlinger (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Film.

München: edition text + kritik 2009. ISBN 978-3-86916-030-6. 280 S. Zahlreiche s/w-Abbildungen. Preis: € 24,-.

Autor/innen

  • Eva Krivanec

Abstract

Deutlich über eine reine Motivgeschichte hinausgehend behandeln die in dem Band Der Erste Weltkrieg im Film versammelten Beiträge eine Fülle von Aspekten, die das Verhältnis von Kinematographie und der Darstellung des Ersten Weltkriegs, von frühen, während des Krieges in Kinos ausgestrahlten 'Dokumentar'-Filmen bis zu Spielfilmen nach 1945 und Fernsehdokumentationen der Gegenwart, ausloten.

Der 2009 in der edition text+kritik erschienene Sammelband mit insgesamt 15 Beiträgen geht zurück auf ein im Herbst 2008 von der Deutschen Kinemathek in Berlin organisiertes Symposium. Renommierte deutsche Weltkriegshistoriker wie Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich sind ebenso mit Aufsätzen vertreten wie Film- und LiteraturwissenschafterInnen, darunter Jeanpaul Goergen, Corinna Müller und Thomas F. Schneider. Für die Integration internationaler Perspektiven sorgen Beiträge von Clément Puget (Université Bordeaux III), Leen Engelen (University College Limburg), Jerome Kuehl (London) und Horst Tonn (Universität Tübingen).

Die Konzeption des Sammelbandes besticht zunächst durch die Berücksichtigung des bemerkenswerten Phänomens, dass die kulturelle, also auch die filmische Verarbeitung des Ersten Weltkriegs nicht erst nach dessen Ende einsetzt hat, sondern schon knapp nach dessen Beginn. 

Gerhard Hirschfeld verknüpft in seinem Beitrag zwei interessante Gedanken: erstens, dass es sich beim Ersten Weltlkrieg zwar nicht um den ersten Krieg, in dem Medien eine Rolle spielen, aber doch um eine ganz neue Dimension "politische[r] Kommunikation, sprich: Propaganda" (S.14) mit sämtlichen verfügbaren Medien handelt. Zweitens, dass sich, speziell in Deutschland, eine große Anzahl von Institutionen, aber auch von Privatpersonen, gleich zu Beginn des Krieges aufgerufen fühlten, umfangreiche Weltkriegssammlungen anzulegen. Diese interessierten sich nicht nur für Druckwerke, sondern versuchten, sämtliche mediale Spuren des Kriegs zu sammeln und zu bewahren. Der Stuttgarter Unternehmer Richard Franck etwa zählt in einer Broschüre 1915 u.a. folgendes auf: "[...] Feldpostbriefsammlungen, [...], Ansichten und Fotografien von den Kriegsschauplätzen, [...], hektographierte Schützengrabenzeitungen, Soldatenkunst aus dem Felde, [...] Kriegsplakate, deutsche und ausländische Kriegskarikaturen." (S.18). Auch Kriegsmuseen und Kriegsausstellungen waren während des Kriegs eine beliebte Form der propagandistischen Darstellung von Kriegsgerät und Kriegsgeschehen und leisteten "einen wichtigen Beitrag zur Popularisierung moderner Ausstellungstechniken" (S.22).

Die Historisierung der Gegenwart im Ersten Weltkrieg zeigt sich auch besonders eindrucksvoll, wie Jeanpaul Goergen beschreibt, in den deutschen und britischen Filmen über die Schlacht an der Somme (Juni bis November 1916). "Am 21. August 1916 – rund sechs Wochen nach Beginn der Somme-Offensive, die Schlacht ist noch in vollem Gange – kommt der knapp 80 Minuten lange Film The Battle of the Somme in die britischen Kinos." (S.32). Dieser Film wurde von den zeitgenössischen KinobesucherInnen als durch und durch authentischer, dokumentarischer Bericht der Ereignisse wahrgenommen, selbst wenn aus heutiger Perspektive nur wenige Szenen als tatsächliche Filmdokumente des Kriegsgeschehens angesehen werden können. Auch in den neutralen Ländern hinterließ der Film einen großen Eindruck. Dies gab den Anlass zur deutschen Antwort, die allerdings erst im Januar 1917 in die Kinos gelangte: Bei unseren Helden an der Somme. "Der Film schwankt unentschieden zwischen Pamphlet und 'Propaganda durch Fakten', richtet sich mal an die Zuschauer in den neutralen Ländern, mal an das heimische Publikum" (S.35). Jedenfalls ist der propagandistische Charakter viel offensichtlicher als in seinem britischen Pendant und auch die 'Authentizität' der Bilder wurde schon damals stärker angezweifelt. Goergen geht schließlich noch dem Fortleben der 'Wirklichkeitsbilder' dieser Schlacht, insbesondere aus The Battle of the Somme in späteren Dokumentarfilmen und Fernsehdokumentationen nach.

Mit Darstellungsformen des Ersten Weltkriegs im Spielfilm der Zwischenkriegszeit beschäftigen sich die folgenden vier Beiträge des Sammelbands. Philipp Stiasny analysiert in sehr aufschlussreicher Weise "die vielfältigen Bemühungen, bereits im Stummfilm Formen für die Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Weltkriegs auszuprobieren" (S.49). Formen, die aufgrund der Dominanz der frühen Tonfilme über den Ersten Weltkrieg, allen voran Im Westen nichts Neues, in Vergessenheit geraten sind. Für den deutschen Stummfilm zeigt sich, dass "die Zahl der ausgesprochenen Frontfilme im Bereich des Spielfilms vergleichsweise klein" (S.50) war. Die Verarbeitung der Kriegserfahrung manifestiert sich vielmehr auf einer subtileren thematischen, motivischen und formalen Ebene, wie Anton Kaes etwa in seiner Interpretation von Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) "als Versuch, die Traumatisierung eines Kriegsneurotikers [...] zu reflektieren" (S.52), bereits gezeigt hat.

Thomas F. Schneider behandelt in seinem Beitrag zu All Quiet on the Western Front (1930) sowohl die ausgeklügelten Vermarktungsstrategien, als auch den Kampf um die erinnerungspolitische Hegemonie in einer politisch bereits hoch aufgeladenen Situation, die daraus resultierenden Eingriffe der Zensur sowie die Störaktionen der Nationalsozialisten bei Filmvorführungen in Deutschland. Statt nur einer weiteren Lektüre dieses ikonischen Films präsentiert der Beitrag einige neue Aspekte der Produktions-, Aufführungs- und Wirkungsgeschichte und nicht zuletzt sehr interessantes Bildmaterial zu zensierten Szenen.

Corinna Müller geht dem besonderen Einschnitt, den der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm für die Darstellung des Ersten Weltkriegs im Film bedeutete, unter dem Titel "Akustik des Krieges" nach. Sie stellt eine schlüssig argumentierte Verknüpfung her zwischen der völlig neuartigen akustischen Dimension der Weltkriegserfahrung der Soldaten in den Schützengräben – "ein einziges unentwirrbares Getöse" (S.91) – und der Möglichkeit des Tonfilms, die akustische Dimension 'realistisch' wiederzugeben.

In Clément Pugets Beitrag zur Rolle des Ersten Weltkriegs im französischen Film der Zwischenkriegszeit sticht ein Regisseur besonders hervor, und zwar Abel Gance, der schon während des Kriegs begonnen hat, pazifistische Filme zu drehen und den das Thema 'Grande Guerre' bis 1940 nicht losgelassen hat. "Empört über das Verhalten der deutschen Armee, die in der Schlacht um Ypern am 22. April 1915 unter Verstoß gegen das Kriegsrecht erstmals Giftgas einsetzte, drehte Gance im Januar 1916 den Film Les Gaz mortels, ohne allerdings darin zu erwähnen, dass die französische Armee inzwischen ebenfalls Giftgas einsetzte." (S.119) Allgemein zeigt gerade das Medium Film, wie sehr sich ein radikaler Pazifismus in der französischen Öffentlichkeit der 1920er Jahre durchsetzen konnte.

Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes bilden vier Beiträge zur kulturellen und filmischen NS-Rezeption des Ersten Weltkriegs. Gerd Krumeich bietet eine sehr spannende Analyse der Instrumentalisierung und Umdeutung der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg durch die Nationalsozialisten unter dem pointierten Titel "Wie die Nazis den Ersten Weltkrieg gewannen". Der Erste Weltkrieg, so Krumeich, wird nach wie vor in seiner Bedeutung für den Aufstieg der Nationalsozialisten in der historischen Forschung unterschätzt. "Zentral für die positive Rezeption des Nationalsozialismus war das immer wieder propagierte Bestreben, das Trauma des 'schandvoll' und 'durch Verrat' verlorenen Krieges zu tilgen." (S.132).

Rainer Rother verfolgt nun diese Instrumentalisierung der Weltkriegserfahrung in die NS-Filmproduktion hinein. Er zeigt, dass sich die NS-Weltkriegsfilme, die zwischen 1933 und 1939 entstanden, in einem entscheidenden Punkt von nicht-pazifistischen Filmen der Weimarer Republik unterschieden: Der Erste Weltkrieg sollte nun aus der Perspektive der NS-"Revolution" von 1933 gedeutet werden und diente dazu, "die an die Macht gelangte Partei in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen" (S.148).

In Leen Engelens Beitrag werden erstmals die politischen und diplomatischen Interventionen NS-Deutschlands gegen belgische Filme zum Ersten Weltkrieg kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs historisch untersucht.

Karl Prümm entwickelt eine höchst aufschlussreiche Analyse zur Mythologie des Frontkämpfers und zu deren Verarbeitung in NS-Kriegsfilmen. "Der Frontsoldat war aus allen militärischen Rangordnungen herausgehoben, wurde zur Projektionsfigur aller Kriegsteilnehmer und in dieser allumfassenden Neutralität schließlich zur Figuration des Krieges schlechthin." (S.180). Beispielhaft ist hier der Film Stosstrupp 1917 (1934), der als Replik der neuen Machthaber auf Pabsts Westfront 1918 zu verstehen ist: Trotz akustisch entfesselter Kriegsgewalt werden hier "Bilder der Unverwundbarkeit" (S.192) der überlebenden Frontsoldaten konstruiert. Die 'Gemeinschaft' der Frontsoldaten wird als große Familie stilisiert, in der alle für einander einstehen.

Die drei Beiträge zur Darstellung des Ersten Weltkriegs in Fernsehdokumentationen von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart bleiben ein wenig hinter den Erwartungen, die die vorangegangenen Beiträge geweckt haben, zurück. Etwas ratlos lässt einen Jerome Kuehls – durchaus humorvoller – Bericht über die Produktionsumstände der BBC-Fernsehserie The Great War zurück, da dieser sich gegen eine wissenschaftliche Lektüre zu sträuben scheint. Als Fazit bleibt, dass das meiste Bildmaterial dieser Dokumentation nicht authentisch war, sondern sich die Produzenten auch aus Quellen von vor 1914 oder nach 1918 bedienten, die zum Teil bewusst mit nicht den Bildern entsprechenden Texten unterlegt wurden.

Mühl-Benninghaus' knapper Text zu deutschsprachigen Fernsehdokumentationen seit den 1990er Jahren geht über eine kursorische Behandlung der erwähnten Dokumentationen und eine sehr naheliegende Typologie des Umgangs "mit dem Problem des letztlich unsichtbaren Frontverlaufs" (S.212) nicht hinaus. Auch Sönke Neitzel, der eine genauere Analyse historischer Dokumentationen des ZDF vorlegt, stellt vor allem fest, dass der Erste Weltkrieg im Vergleich zur NS-Zeit nur eine untergeordnete Rolle im 'Geschichtsfernsehen' spielt und dass sich die Dokumentationen aufgrund des spärlichen filmischen Materials aus der Zeit und der kaum noch lebenden ZeitzeugInnen in diesen Punkten von den Geschichtsdokus zum Nationalsozialismus unterscheiden.

Sehr lesenswert sind schließlich die beiden letzten Texte des Sammelbands, jener von Susanne Brandt über Filme der DEFA zum Ersten Weltkrieg und jener von Horst Tonn über die Darstellung des Ersten Weltkriegs im amerikanischen Spielfilm nach 1945.

Insgesamt handelt es sich um einen sehr gelungenen und vielfältigen Überblick über die Filmbilder und -geschichten, Tonspuren und Mythologien zum Ersten Weltkrieg. Gerade die Einbeziehung von Texten, die sich weniger mit konkreten Filmen, sondern mit allgemeinen kulturellen Phänomenen in der Rezeption und Nachwirkung des Ersten Weltkriegs beschäftigen, ermöglicht eine profunde Kontextualisierung der filmhistorischen Erkenntnisse. So kann für den/die LeserIn sogar ein vielstimmiger Dialog zwischen den einzelnen Beiträgen entstehen. Um den Sammelband tatsächlich zu einem Handbuch der filmischen Rezeption des Ersten Weltkriegs zu machen, wünschte man sich freilich eine artikelübergreifende Filmographie und einen Index von Eigennamen und Filmtiteln – eine solch aufwändige Gestaltung des Anhangs scheint aber mit den verfügbaren Mitteln für Sammelbände leider oft nicht leistbar.

Autor/innen-Biografie

Eva Krivanec

Veröffentlicht

2010-11-16

Ausgabe

Rubrik

Film