Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918.
Essen: Klartext, 2005. (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Neue Folge, Band 18) ISBN 3-89861-219-8. 320 S. Preis: 35,90 €.
Abstract
Die vier Jahre von 1914 bis 1918 bleiben in theater- und kulturgeschichtlichen Überblickswerken zumeist ausgespart. Im Allgemeinen hat sich die Forschung auf die Jahrhundertwende einerseits, auf die Zwischenkriegszeit andererseits konzentriert. Der Historiker Martin Baumeister hat nun mit seinem Buch Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918 eine erste Theatergeschichte des Ersten Weltkriegs in Deutschland vorgelegt, die materialreich und mit analytischer Schärfe diese Leerstelle füllt.
Die in zwei Teile gegliederte Studie, eine leicht gekürzte Fassung von Baumeisters Habilitation an der Berliner Humboldt-Universität, beschäftigt sich zum einen mit dem "Kriegstheater" in Berlin, der Hauptstadt des Deutschen Reichs, zum anderen mit dem Fronttheater, das durch das Stagnieren der Frontlinie besondere Bedeutung bekam.
Einleitend gibt Baumeister einen Überblick über die Forschungsliteratur, die das zunehmende Interesse an kulturellen Aspekten der Geschichte des Ersten Weltkriegs dokumentiert und gleichzeitig feststellt, dass dabei dem Theater bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Sein zentrales Forschungsinteresse beschreibt Baumeister so: "Will man die Formulierung vom 'enactment of the nation' wörtlich nehmen, so liegt es durchaus nahe, den Blick auch auf die Bühnen der Zeit zu richten, wo 'Nation' und 'Volk' in Figuren, Bildern und Handlungen unmittelbar sinnlich erfahrbar gemacht wurden." (S. 14) Gerade die "ambivalente Stellung zwischen Eliten- und Populärkultur machte das Theater zu einem besonders sensiblen Medium" (S. 15), das das durch den Krieg gesteigerte und politisierte Bedürfnis nach kollektiver Selbstrepräsentation anschaulich verkörperte. Denn der Theaterbetrieb stand während des Kriegs keineswegs still, wie man vielleicht vermuten würde. Im Gegenteil, mit Beginn des Kriegs entstand zunächst eine Fülle neuer, unmittelbar aktualitätsbezogener Stücke, gedacht für den unmittelbaren Gebrauch und bald schon vergessen. Im Herbst 1914 fanden sie jedoch ein großes Publikum.
Im ersten, der Theatermetropole Berlin gewidmeten Teil geht Baumeister zunächst auf die Theatralität der Ereignisse in den ersten Augusttagen 1914 ein, in denen der öffentliche Raum zur Bühne wurde. "Politik hatte im Verlauf der Julikrise mit dem Abhalten von Umzügen, dem gemeinsamen Singen von Liedern und ritualisierten Reden in der öffentlichen Sphäre der Straße und im halböffentlichen Raum der von den gesellschaftlichen Eliten besuchten Cafés und Restaurants eine 'theatralische' Dimension erhalten." (S. 37) Dazu kamen um neue Einkommensquellen, aber auch um das patriotische Gemeinwohl besorgte KünstlerInnen, die patriotische Vorträge, Konzerte oder Sketches in den Kaffeehäusern zum Besten gaben. Die aggressive Abgrenzung gegen die äußeren Feinde machte Platz für ein - scheinbar Klassengegensätze überwindendes - nationales Einheitsgefühl im Inneren. Spontane Gewalt gegen vermeintliche Feinde, Verräter oder Spione gehörte ebenso zum Alltag der ersten Kriegswochen wie Akte der Solidarität und Hilfeleistung. Auch die Theater fanden ihre gesellschaftliche Rechtfertigung im Krieg durch Wohltätigkeits- und Benefizveranstaltungen.
Mit Beginn der Theatersaison im Frühherbst 1914 nahmen die meisten Berliner Bühnen ihren Betrieb wieder auf. Die Wiedereröffnung "stand wie selbstverständlich im Zeichen des Krieges" (S. 51). Während das Kulturtheater zum einen mit dem Rückgriff auf nationale Klassiker, zum anderen mit der Bearbeitung entsprechender historischer Stoffe, wie etwa der Befreiungskriege gegen Napoleon oder des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71, in relativer Kontinuität seine "zentrale Rolle als Medium der Geschichtskultur des Reichs" (S. 53) weiterspielte, war der Bruch im Unterhaltungstheater deutlicher zu spüren.
In den verschiedenen Genres des kommerziellen Unterhaltungstheaters - Lustspiel, Schwank, Posse, Revue und Operette - wurden nun schnell verfasste Zeitstücke auf die Bühne gebracht. Dabei ging es vor allem um die Konstitution und Repräsentation des Volks. "Die mondänen Unterhaltungsstätten im Umkreis der Friedrichstraße schlugen nun demonstrativ den Ton der Vorstadtbühnen an. Das 'Volk' eroberte mit einem Schlag die Theater der Hauptstadt." (S. 69). Inszeniert wurden hier, in direkter Verarbeitung des Tagesgeschehens, die kriegerische Mobilisierung und die nationale Einheit, häufig repräsentiert durch eine Familie, aber auch durch ein Figureninventar, das lokale, volkstümliche Bezüge betonte und demonstrativ divergente gesellschaftliche Akteure - Fabriksbesitzer, mondäne "Damen von Welt", Kleinbürger, sozialdemokratische Arbeiter, Juden etc. - zur gemeinsamen militärischen Tat schreiten ließ.
In dem "Problemzonen" betitelten zentralen Abschnitt zum populären Theater zu Kriegsbeginn liefert Martin Baumeister aufschlussreiche Analysen zur Verhandlung der Geschlechterverhältnisse und zum Auftritt jüdischer Figuren in diesen Stücken. Ein Kapitel der Habilitation zu Feindbildern und Darstellung der Feinde ist leider der Kürzung für die Buchfassung zum Opfer gefallen. Eine weitere kritische Frage ist die konkrete bühnengerechte Darstellung des Kriegs oder der Mobilisierung in diesen Stücken. Hier macht Martin Baumeister eine interessante Feststellung, die ein grundsätzliches Problem von Kriegsdarstellungen auf der Bühne berührt: "In scheinbar paradoxer Manier froren die Stücke, die von forcierter Bewegung, von Aufbruch und Kampf handelten, ihr Thema in einer Reihe bewegungsarmer oder gar erstarrter Bilder ein." (S. 111)
Während die meisten dieser Zeitstücke im Lauf der Sommersaison 1915 wieder von den Bühnen der Hauptstadt verschwanden, wurde das "vaterländische Volksstück" Immer feste druff! im Theater am Nollendorfplatz zu einem Dauererfolg, der auch an vielen anderen Bühnen des Deutschen Reichs gespielt wurde und dessen Lieder und Couplets über Schallplatte weite Verbreitung fanden, gerade auch an der Front. Der martialische Titel, die heitere Kriegsbegeisterung und die Ansiedelung des Stücks "im Grenzbereich zwischen Posse, Revue und Operette" (S. 130), aber auch die Besetzung mit den Komikerstars Karl Geßner und Claire Waldoff scheinen für den Erfolg maßgeblich gewesen zu sein.
Ersetzt wurden die Zeitstücke nun vorrangig von möglichst realitätsfernen, behaglichen bis sentimentalen Operetten und Singspielen, viele davon kamen aus Wien. Baumeister geht dieser Entwicklung in einem kurzen Kapitel nach, verfolgt aber die Entwicklungen, gerade auch im Kulturtheater, wo sich etwa ab Ende 1916 eine deutlich kriegskritischere Theaterproduktion erkennen lässt, nicht näher. Er bleibt bei der Frage, wie sich das kriegsbezogene Theater weiterentwickelt hat. Hier tritt der vom Vortrags- und Varietékünstler zum Theaterunternehmer aufgestiegene Otto Reutter, eine der populärsten Figuren der Berliner Kleinkunst, in Erscheinung. Er brachte nach einer ersten Kriegsrevue mit dem Titel 1914 , die ganz dem Typus der patriotisch-kriegerischen Zeitstücke entsprach, zwischen 1915 und 1918 eine Serie von vier Revuen auf seine Bühne, das riesige Palast-Theater am Zoo. Seine Revuen beschäftigten sich mit dem aktuellen Leben an der Heimatfront, zeigten also "die 'andere Seite' des Krieges" (S. 150). Die in diesen Stücken angesprochenen Themen passen nicht mehr in den eng gesteckten Rahmen des Mobilisierungsnationalismus von 1914. Hier werden die Ambivalenzen des in Bewegung geratenen Geschlechterverhältnisses ebenso sichtbar wie die Belastungen und das Leiden der Zivilbevölkerung. Allerdings versuchte Otto Reutter diese Missverhältnisse zu entschärfen und das Publikum durch komische Verfahren zu entlasten. In den letzten Kriegsjahren hat sich schließlich die Darstellung des aktuellen Kriegs im Berliner Unterhaltungstheater auf ein Genre zurückgezogen, das nicht gerade dafür prädestiniert scheint: auf den Zirkus. Das Genre der Sensationsstücke und Technikspektakel bot offensichtlich eine Grundlage, um den immer gewaltigere Dimensionen annehmenden Massenkrieg bühnenwirksam zu inszenieren. Diese patriotischen "Massenschaustücke", wie etwa Torpedo – los im Zirkus Sarrasani, stellten sich explizit in den Dienst der Inlandspropaganda.
Der zweite, kürzere Teil des Buchs widmet sich dem "Theater im Kriegsgebiet". Diesen beginnt Baumeister mit einem (theater-)wissenschaftsgeschichtlichen Exkurs (eine innerhalb der Theaterwissenschaft selbst kaum gepflegte Praxis). 1925 richtete der Leiter des theaterwissenschaftlichen Instituts der Universität Köln, Carl Niessen, einen Appell an alle ehemaligen Leiter von Fronttheatern, ihm für wissenschaftliche Zwecke Materialien und Informationen zu Theateraktivitäten an der Front und in der Etappe zu überlassen. Die Resonanz war enorm, aus dem gesammelten Material entstand das noch heute bestehende "Zentrale Archiv für Kriegstheater". Baumeister betont, dass dieses wissenschaftliche Projekt keineswegs frei war von politischen Implikationen. Die Debatte um die Deutung von Krieg und Niederlage in Deutschland war noch virulent, und es ging Niessen auch um die positive Darstellung des deutschen Heeres und seiner kulturellen Leistungen.
Die Zahl der Theateraktivitäten an der Front, im Etappenbereich, in Gefangenenlagern und in besetzten Gebieten war in der Tat groß. An etwa 700 Orten wurde für deutsche Soldaten Theater gespielt. Das reichte von Künstlertourneen über längerfristig bestehende Theatergruppen, die direkt einzelnen militärischen Einheiten zugeordnet waren, bis zu spontanen Zusammenschlüssen von Soldaten, die als Amateure Aufführungen gestalteten. Ziel und Inhalt dieser Aufführungen war vor allem Unterhaltung. Auch Erfolgsstücke aus den Großstädten kamen an die Front, viele ältere Militärschwänke und Lustspiele wurden aufgeführt, es gab bunte Abende und artistische Darbietungen, oft verbunden mit patriotischen Vorträgen oder Kinovorführungen. "Den Soldaten im Operationsgebiet wurde jedoch in geradezu paradoxer Weise 'ihr' Bild vorgeführt, wie es die heimische Unterhaltungsindustrie entworfen hatte." (S. 226) Die konkreten Erfahrungen der Soldaten, die auf der Bühne standen und im Publikum saßen, wurden kaum thematisiert.
Anhand einiger gut dokumentierter Beispiele gibt Baumeister einen direkten Einblick in die Aktivitäten einzelner Frontschauspieler oder -entertainer, darunter auch in jene von Erwin Piscator, der als Mitglied des in Courtrai in Belgien stationierten "Gruppen-Theater Wijtschate" dem Inferno an der Front entfliehen konnte, ohne jedoch seinen künstlerischen und politischen Ansprüchen entsprechen zu können. Baumeister analysiert schließlich das Fronttheater allgemein als "vieldeutige symbolische Praxis" (S. 258), die extreme Gegensätze wie Tod und Spiel, Schrecken und Lachen, Sterben und Verkleiden zu verbinden scheint. Auch dem Phänomen der Travestie, die ja zwangsläufig dazugehörte, sich aber zu einem eigenständigen und besonders beliebten Teil dieser Fronttheateraufführungen entwickelte, widmet Baumeister einen Abschnitt.
Das letzte Kapitel behandelt schließlich die Theater in den von Deutschen besetzten Gebieten, vor allem in den Städten Nordfrankreichs und Belgiens, sowie in dem "Ober-Ost" genannten Verwaltungsgebiet, das große Teile Polens und Litauen umfasste. Hier wurde die Vereinnahmung städtischer Theatergebäude und deren Nutzung als "Deutsche Theater" zur "symbolischen Besitznahme" (S. 269). Bekannte Beispiele sind das erst von den deutschen Militärs fertig gestellte " Deutsche Theater Lille" , das zu Weihnachten 1915 inmitten der zerstörten Stadt prunkvoll eröffnet wurde, oder das " Deutsche Theater Brüssel" , das sich vor allem an die Militärs und Beamten der Besatzungsmacht richtete. Doch auch in den besetzten Gebieten im Osten, wo "die deutsche Fremdherrschaft [...] ihre radikalsten Formen" (S. 280) annahm und es ausdrückliches Ziel Ludendorffs war, die Überlegenheit der deutschen Kultur zu demonstrieren, wurden "Deutsche Theater" gegründet und über die Kriegsjahre hinweg betrieben, so etwa in Kowno, dem Hauptquartierssitz in "Ober-Ost" und in Wilna, der größten Stadt des besetzten Gebiets.
Als Historiker richtet Martin Baumeister seinen Blick stets auch auf die politischen Implikationen der von ihm untersuchten Theateraktivitäten. Im Geist der Cultural Studies gilt sein Interesse gerade den "niedrigen", im Allgemeinen auch schlecht dokumentierten Theaterformen, die paradoxerweise in den Zensurbehörden ihre gewissenhaftesten Archivare gefunden haben. Sein spannendes Buch liefert einen wichtigen Beitrag zu einer bislang wenig beachteten Epoche der deutschen Theatergeschichte und zeigt auf exemplarische Weise, dass die Erforschung von Phänomenen der Populärkultur zugleich wesentliche Aufschlüsse über die politische und ideologische Entwicklung einer Gesellschaft bietet.
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