Holger Wacker und Almut Oetjen: Tatort. Das große Buch für Fans. Von Schimanski und Thanner, Stoever und Brockmöller, Ballauf und Schenk bis Odenthal und Kopper. Alle 500 TATORT-Filme in einem Band - das Buch zur erfolgreichsten deutschen Krimiserie.

Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2002. 384 S., 376 Abb. ISBN 3-89602-404-3. Preis: € 25,60/sfr 42,30.

Autor/innen

  • Johannes Penninger

Abstract

Fernsehen am Sonntagabend: Dreimal wird das Augenpaar eines verschlagen blickenden Mannes eingeblendet, ehe es von einem Fadenkreuz ins Visier genommen wird. Dann setzt Klaus Doldingers Tatort-Thema ein. Eine hektische Basslinie untermalt genretypische, suggestive Bilder. Ein Mann hält sich die Hände schützend vor das Gesicht. Ein Fingerabdruck wird über das Bild geblendet. Panische Flucht folgt. Der Zuschauer sieht die Beine eines flüchtenden Mannes auf nassem Asphalt im Dunkeln. Eine weiße Spirale beginnt ihre Schleifen über das Bild zu ziehen, bis der Flüchtende letztendlich symbolisch in dem über ihn geworfenen Netz gefangen ist. Das Thema setzt zum Schlussakkord an. Eine neue Tatort-Folge kann beginnen.

Am 29. November 1970 ging der Tatort mit der Folge Taxi nach Leipzig und Hauptkommissar Paul Trimmel (Walter Richter) des Norddeutschen Rundfunks zum ersten Mal auf Sendung. Über 30 Jahre und 500 Folgen später sind der Vorspann von Peter Hoheisel (Bayrischer Rundfunk) und die Titelmusik von Klaus Doldinger gleich geblieben. Es ist ein liebenswerter Anachronismus, wenn im Zeitalter des digitalen Fernsehens und prompt nach der Dolby-Surround-Ankündigung der 32 Jahre alte Vorspann den neuen Tatort ankündigt und der Zuschauer in die bekannt unbekannten Augen blickt. Augen, Hände und Beine im Vorspann gehören Horst Lettenmeyer, einem ehemaligen Schauspieler. Die Ehre, dass Lettenmeyer über die meist gesehenen Augen des deutschen Sprachraums verfügt, wurde ihm 1970 mit einem einmaligen Honorar von 400 DM vergütet. Einträglicher war das Geschäft für Klaus Doldinger, den Komponisten zahlreicher anderer bekannter Titelmotive. Er erhält 50 DM pro ausgestrahlter Folge, und Tatort-Folgen werden ausgesprochen häufig ausgestrahlt und wiederholt.

Konzipiert und produziert wurde und wird der Tatort von der ARD, die einen kriminalistischen Gegenpol zu den kammerspielartigen Serien des ZDF (Der Kommissar, Derrick, Der Alte) setzen wollte. Strukturen und Organisation der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Landes-Rundfunkanstalten legten nahe, dass die einzelnen Folgen von den unabhängigen Landesanstalten eigenständig produziert werden, um höchst mögliche Authentizität und Lokalkolorit, das den austauschbaren Villenkulissen der ZDF-Serien gänzlich fehlt, zu erhalten. Das österreichische Fernsehen ORF und das deutschsprachige Schweizer Fernsehen SF DRS (Schweizer Fernsehen der deutschen und rätoromanischen Schweiz) schlossen sich dem Krimiverbund an und lieferten mehr (ORF) oder weniger (SF DRS) Beiträge zur Serie.

Die Kriminalfälle selbst sollen aus den Gerichtsakten deutscher Prozesse und aus Polizeiberichten stammen oder zumindest stammen können. Aktuelle und brisante Themen sollen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden. Das Format in Spielfilmlänge (90 Minuten) ermöglicht auch eine ausführliche Charakterisierung der Hauptfiguren und gibt freizügig Einblick in das Privat- und Intimleben der Polizisten.

Seit 32 Jahren und 500 Folgen sind die Tatort-Ermittler nun dem Verbrechen auf der Spur, manche als Eintagsfliegen, manche mit konstantem Erfolg. Kaum ein Ermittlerteam brachte es auf über zehn Einsätze und für eine beachtliche Anzahl namhafter Schauspieler war bereits nach ihrem ersten Einsatz (aus unterschiedlichen Gründen) wieder Schluss. Dieter Krebs, Christoph Waltz, Klaus Löwitsch, Willy Semmelrogge oder Klaus Wildbolz gaben nach einmaligem Einsatz die Dienstmarke wieder ab.

Spitzenreiter ist der deutsche Schauspieler, Sänger und Liebling der Kreuzberger wie der Nation Manfred Krug, der als "Swinging Cop" Stoever den Tatort 41-mal zur Musicalbühne umgestalten durfte, sein Partner Brockmöller (Charles Brauer) brachte es auf 38 singende Einsätze. Dann hingen die beiden, ehe der Tatort gänzlich zur Best of Musical-Sendung wurde, ihre Uniformen an den Nagel.

Noch im Dienst sind die beiden bayrischen Kommissare Batic und Leitmayr (Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl), die mit 31 Einsätzen dem Hamburger Duo Stoever und Brockmöller auf den Fersen sind. Beide aber agieren so stereotyp und hölzern, dass sie in der Publikumsgunst längst von ihrem Helfer Menzinger (Michael Fitz), einem bayrischen Harlekin-Pendant, abgelöst wurden. Der beliebteste aller Tatort-Kommissare Horst Schimanski (Götz George) ermittelte 29-mal mit seinem Gegenpol und Partner Thanner (Eberhard Feik), ehe er in der Folge Der Fall Schimanski mit einem Drachenflieger einer vermeintlich besseren Zukunft entgegenflog.

Um die Zukunft brauchen sich Tatort-Fans und -Macher nicht zu sorgen, die Serie hat sich zu einem Dauerbrenner entwickelt. Wenn es auch zukünftig gelingt, den Tatort als Plattform für unterschiedliche, teils sogar innovative, deutschsprachige Krimis zu nutzen, scheinen noch einmal 500 Folgen möglich. Ist doch die Serie durchaus als Phänomen anzusehen. Denn mit Ausnahme von Götz George als Horst Schimanski gelang es keinem einzigen Kommissar, eine Popularität zu erreichen, die vergleichbar ist mit den wahren Krimi-Stars, beispielsweise Columbo, dem zeitlosen Klassiker, oder Benno Berghammer, dem Bullen von Tölz. Die einzelnen Folgen vergisst man so schnell, wie man sie gesehen hat. Und wenn ein Sekundärautor auf das cineastische Gewicht von Tatort hinweisen will, dann zitiert er regelmäßig die Folge Reifezeugnis, in der die junge Nastassja Kinski zunächst ihren Lehrer Helmut Fichte (Christian Quadflieg) verführen, dann ihren Mitschüler und Ex-Freund Michael (Marcus Boysen) erschlagen darf, ehe sie von Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf, eine der fünf Synchronstimmen von Columbo) überführt werden kann. Reifezeugnis ist tatsächlich eine herausragende Folge, doch stammt sie aus dem Jahr 1977. In den letzten Jahren gelang es nur wenigen Tatorten, eine ähnliche Zeitlosigkeit zu erlangen.

Ein TV-Evergreen wie Tatort führt natürlich auch zu der einen oder anderen Publikation. Der letzte bunte Bildband ist im Berliner Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen, verfasst von Holger Wacker und Almut Oetjen, und verlagsüblich erneut untertitelt als Das große Buch für Fans.

Der Publizist Wacker und die Anglistin Oetjen gehen dabei (wiederum verlagstypisch) filmographisch vor, wie es sich auch schon bei den anderen Titeln der Verlagsreihe als erfolgreich erwiesen hat. Im einleitenden Essay Das Phänomen Tatort - Eine Einführung wird ein Überblick über die herausragenden Kriminalisten der Tatort-Geschichte und deren Fälle gegeben. Die phänomenologischen und analytischen Ansätze sind darin kurz gehalten, hypothetisch interessant und verdienten eine längere Ausführung. Über die Entstehung der Serie, deren Macher und Motivation findet sich leider nichts in der Einführung, was schade ist. Gab es dazu wirklich nichts zu sagen?

Nach der knappen Einleitung folgt ein Abschnitt, der sich sinnigerweise Im Fadenkreuz nennt und subjektiv ausgewählte Tatort-Folgen und Ermittler präsentiert. Unter den 16 ausgesuchten Folgen findet sich natürlich auch die berühmteste Folge Reifezeugnis ebenso wie ein repräsentativer Fall des berühmtesten Kommissars Horst Schimanksi. Die kurze Beschreibung der Folge und deren soziale Deutung gibt einen guten Überblick über die Mannigfaltigkeit der Serie und deren unterschiedliche Ansätze. Tatort-Dauerbrenner wie Bienzle, Stoever und Brockmöller werden ebenso vorgestellt wie Ermittler, die es wie Dieter Krebs als Nadel auf nur einen Einsatz brachten. Tatort war und ist auch immer ein medienverzerrtes Spiegelbild der deutschsprachigen Gesellschaften aus der subjektiven Sicht der Drehbuchautoren, wie in diesem Abschnitt gut nachgelesen werden kann.

Der zweite Teil des Abschnittes Im Fadenkreuz widmet sich sechs ausgesuchten Ermittlern bzw. Ermittlerteams. Beginnend mit dem ersten Ermittler, Hauptkommissar Paul Trimmel (Walter Richter) von der Hamburger Mordkommission, widmet sich der längste Text dieses Abschnittes (erraten) dem Ermittlerduo Schimanksi und Thanner aus Duisburg, den einzigen Tatort-Produktionen, die es auch zu Kinoehren gebracht haben. Die Autoren stellen die einzelnen Ermittler, ihren Werdegang und ihre Stellung innerhalb der Serie fundiert vor, verfallen aber gelegentlich der Gefahr der Laienpsychologie ("Seine soziale Kompetenz war schwach ausgeprägt"). Hauptteil und Rückgrat des Bandes ist das Kompendium, das nach Sendeanstalten geordnet alle 500 Tatort-Folgen filmographisch mit Kurzbeschreibungen auflistet.

Die Anordnung nach Sendeanstalten hat, bedenkt man den landestypischen Charakter und die regionalen Unterschiede der einzelnen Ermittler, durchaus Sinn. Die Reihung der Folgen gerät dabei aber zwangsläufig durcheinander. Die erstaunlich ausführliche Filmographie jeder Folge gibt den Titel, die chronologische Nummerierung, den Regisseur, die Drehbuchautoren und sämtliche Darsteller mit Rollennamen an. Ein kurzer Absatz fasst den Inhalt knapp zusammen. Durch unzählige Schwarzweißphotos wird das Kompendium illustriert. Gesetzt ist die Filmographie zweispaltig, eng und zieht sich wie eine lange Schlange über mehrere hundert Seiten, was zu zwar unvermeidlichen, aber einigen unschönen Seitenumbrüchen führt.

Leider sind in den Kurzbeschreibungen immer wieder sprachliche Ungereimtheiten zu finden, die das Lesevergnügen beeinträchtigen: unvollständige Sätze ("Die Wissenschaftlerin Ingrid Knapp stirbt auf einem Ärztekongress in der Steiermark des Kongresshotels." S. 175), wenig schöne Allgemeinplätze ("Er befragt die Schauspielerkollegen sowie die Mitarbeiter des Theaters und hat bald eine ganze Reihe von Verdächtigen. Allmählich kommt er der Lösung näher." S.201) oder umständliche Formulierungen ("Der legt ein Geständnis ab, das jedoch falsch ist." S. 159, was spricht gegen ein simples "falsches Geständnis"?).

Ausführlichkeit und Vollständigkeit aber machen das Kompendium zur Schatztruhe für den wahren Tatort-Fan, der in aller Ruhe zu Hause noch einmal seinen Erinnerungen nachhängen kann. Abgerundet wird der Band durch mehrere Register: eine Chronologie der einzelnen Folgen, eine alphabetische Listung aller Folgen, eine Einsatzliste aller Ermittler, ein Register der Regisseure, eines der Drehbuchautoren und eines mit ausgewählten Darstellern. Alle Register geben jeweils die einzelne Folgennummer an und ermöglichen somit eine chronologische Orientierung. Vergessen wurde leider in den Folgeregistern auf die entsprechende Seitennummer der Kurzbeschreibung. Wer auf Grund eines Titels in der Chronologie der Tatorte die Kurzbeschreibung lesen will, muss diese Seitenzahl mühsam über den Kommissar ermitteln, da die Kurzbeschreibungen ja nicht chronologisch, sondern nach Sendeanstalten geordnet sind. In weiteren Auflagen könnte dieses kleine Manko behoben werden.

Die Kurzbiographien der Kommissardarsteller, ein ähnlich wie das Kompendium gestalteter und reich bebilderter Teil, geben dem Interessierten Informationen über die einzelnen Schauspieler: Geburtstag und Werdegang und in manchen Fällen auch triviales, aber unterhaltsames Wissen, wie die Tatsache, dass Kommissar Kain-Darsteller Bernd Michael Lade Bassist, Sänger und Drummer der Punkband "Antifaschistischer Schutzwall" war.

In manchen Fällen fehlt den Autoren allerdings der Mut zur Aussage, und Leerformeln wie "gilt als sensibles Sexsymbol" (S. 312) oder kürzer " gilt als Sexsymbol" (S. 308) schleichen sich in die Biographien ein. Literatur-, Internetangaben und die obligatorischen Danksagungen beenden den Band. Die Internetseiten sind klug gewählt und erwecken den Eindruck von Langlebigkeit. Die frustrierende Tatsache, dass eine bestimmte Seite schon längst nicht mehr existiert, wenn man sie einmal aufsuchen will, scheint vermieden worden zu sein. Noch seriöser wäre es gewesen, das Datum der letzten Online-Recherche anzugeben. Die Literaturangaben sind knapp und präzise. Eine Wald und Wiesen-Bibliographie wurde zum Glück vermieden, alle Werke haben tatsächlich einen direkten Bezug zu Tatort.

Ergänzt wird der Band durch einen in der Mitte eingefügten farbigen Bildteil, der aus einem bunten Sammelsurium aus Presse- und Standfotografien besteht und in dem manche Ermittler gar nicht zu sehen, manche dagegen überproportional häufig vertreten sind, was wohl von der Bereitschaft der einzelnen Rundfunkanstalten abhing, Bildmaterial zur Verfügung zu stellen. Das Schmökervergnügen ist dadurch allerdings nicht im Geringsten gestört. (Dass der österreichische Darsteller und Kleinkünstler Wolfram Berger auf einem Foto neben Götz George nicht erkannt worden ist und unerwähnt bleibt, sei den deutschen Autoren nachgesehen.)

Tatort - Das große Buch für Fans bleibt der erfolgreichen Linie des Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlags treu. Übersichtlich und ausführlich lädt es zum Nachschlagen, zum Verweilen und zum Schmökern ein. Endlich können Erinnerungen an die eine oder andere gesehene Folge aufgewärmt, Verwirrungen über Ermittler mit einem Blick geklärt und die üblichen Stammtischfragen (Wie viele Kommissare gibt es eigentlich? Welche Sendeanstalten produzierten welche und wie viele Tatorte? Welche Ermittler sind noch im Dienst und welche schon Geschichte, und gab es da nicht einmal einen österreichischen Kommissar namens Passini?) leicht beantwortet werden.

Holger Wacker und Almut Oetjen haben die Mühe (und viel, sehr viel Arbeit) nicht gescheut und Entwirrung in den gordischen Knoten der 500 Tatort-Folgen gebracht. Der reich bebilderte Band bietet einen schönen Überblick und auf Grund der moderaten Preisgestaltung wird er sowohl bei Tatort-Fans Gefallen finden als auch auch als Basisliteratur für die Auseinandersetzung mit Spezialfragen zum Thema Tatort dienen.

Die Beliebtheit von Tatort (zumindest bei den Programmplanern) ist ungebrochen: Allein im aktuellen Monat Juli 2002 sind drei neue Folgen zu bestaunen, in den unterschiedlichen deutschen Regionalsendern werden mehrmals wöchentlich zahlreiche alte Folgen wiederholt. Wer will, kann also fast täglich einen Tatort sehen. dar.

Autor/innen-Biografie

Johannes Penninger

Geboren in Bregenz, aufgewachsen in Feldkirch. Studium der Publizistik- und Theaterwissenschaft in Wien. Seit 1998 Mitarbeit bei der Zeitschrift Maske und Kothurn. Derzeit Dissertation.

Veröffentlicht

2002-07-15

Ausgabe

Rubrik

Film