Michael Hüttler, Susanne Schwinghammer, Monika Wagner (Hrsg.): Aufbruch zu neuen Welten: Theatralität an der Jahrtausendwende.
Frankfurt/M.: IKO - Verlag für Interkulturelle Kommunikation 2000. (Schriften der Gesellschaft für TheaterEthnologie. Bd. 1) ISBN 3-88939-542-2. Preis: ATS 364,-/DM 49,80/sFr 49,80.
Abstract
Die Idee, sich in einen Diskurs einzuschreiben, der sich gegen den Eurozentrismus wehrt, diesen aufdeckt und versucht, ihm etwas entgegenzustellen, war Leitgedanke für die Gründung der "Gesellschaft für TheaterEthnologie" und hat sich nun auch im ersten von dieser Gesellschaft herausgegebenen Buch manifestiert. Es ist dies der erste Band einer geplanten Schriftenreihe, die der Dekonstruktion eines eurozentrisch definierten Theaterbegriffs und der Dekonstruktion des Kulturbegriffs gewidmet ist. Die als Sammelbände konzipierten Publikationen offerieren eine Vielfalt an theoretischen wie methodologischen Ausführungen. In Aufbruch zu neuen Welten: Theatralität an der Jahrtausendwende sind unterschiedlichste Essays und Beiträge von WissenschafterInnen und TheaterpraktikerInnen zu künstlerischer wie wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Performanceformen publiziert, zum Teil erstmals in deutscher Sprache.
Grotowski Im Zentrum des ca. 360 Seiten umfassenden Buches steht ein Dokument, das auf Wunsch des Autors, dem das gesamte Buch gewidmet ist, posthum erscheint: ein Text - einer der wenigen - von Jerzy Grotowski. Ein Unbetitelter Text von Jerzy Grotowski, unterzeichnet am 4. Juli 1998 in Pontedera wird hier erstmals in deutscher Übersetzung abgedruckt. Dieser letzte Text Grotowskis ist eine Klarstellung, ein Testament, ein Abschied; ein letzter Einblick in die Gedankenwelt des Theaterpraktikers und Gurus Grotowski, sich selbst schon einer vergangenen Generation zurechnend. Sein Erbe wird von Thomas Richards angetreten, der in einem Interview, Der Rand-Punkt des Schauspielens, aufs genaueste von seiner Zusammenarbeit mit Grotowski erzählt. In diesem Beitrag kann sozusagen aus erster Hand erfahren werden, was "Action" meint, was sie bewirkt und wie sie erarbeitet wird. Er ist Ausdruck einer Selbstdarstellung jenseits von Augenblick und Gegenwärtigkeit, ein historisches Dokument der Arbeit Richards, in der er seinen Lehrer nicht vergißt, aber bereits seinen eigenen Weg betont.
Der vorangestellte Beitrag Action. Der nicht darstellbare Ursprung von Lisa Wolford wiederum ergänzt auf interessante Weise die Ausführungen des Performers aus der Perspektive einer privilegierten Zuschauerin. In der letzten Phase von Grotowskis Theaterschaffen, in der er bereits verstärkt als "Lehrer" von Thomas Richards aufgetreten ist, entsteht "Action" im Sinne von "Kunst als Fahrzeug". Da die Betonung nicht bei "Kunst als Vorstellung" und somit beim Zusehenden, sondern beim Handelnden liegt und dieser zu schützen ist, ist die Öffentlichkeit nicht nur nicht notwendig, ihr ist kein Zugang mehr gewährt. Allerdings werden in regelmäßigen Abständen Gäste, für gewöhnlich nicht mehr als acht, eingeladen. Die Beschreibung Wolfords ist somit als ein wichtiges Zeugnis zu sehen.
Die von Michael Hüttler geschriebene Einleitung Für ein Theater der Kulturen bietet einen guten und informativen Überblick über die unterschiedlichen Beiträge und führt überdies in das Forschungsfeld der Theaterethnologie mit historischen Rückblicken ein. Vor allem Hüttlers ausführliche Auseinandersetzung mit Grotowski liefert eine gute Einführung in das Kapitel Grotowskis Erbe. Während sich sowohl der Bericht von Wolford, das geführte Interview mit Richards als auch der Text Grotowskis vor allem auf die letzte Arbeitsphase eines der wichtigsten Theatermacher des 20. Jahrhunderts beschränken, umreißt Hüttler das gesamte Theaterschaffen Grotowskis.
Ein Blick aus der und in die Praxis Weitere Beiträge, die direkt aus der praktischen Erfahrung und Auseinandersetzung mit theatralen Aufbrüchen berichten, sind ein bereits zum Klassiker avancierter und ursprünglich in englischer Sprache erschienener Text von Richard Schechner, der Aufsatz von Walter Pfaff sowie ein Beitrag des Multimedia- und Performancekünstlers Guillermo Gomez-Peña. Dieser Text ist eine "der Stimmen der anderen", die im Kapitel Internationaler Diskurs abgedruckt sind. Unbestritten müssen diese Stimmen gehört und wahrgenommen werden, wie Karl R. Wernhart und Susanne Schwinghammer in ihren Vorworten betonen. Beide beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit dem Spannungsfeld von Ritual und Theater, wo Theater nicht vom sozialen Aspekt zu trennen ist.
Pfaff geht es nicht um eine definitorische Abgrenzung der Bereiche Theater und Ritual, es geht ihm um Wahrnehmung, um "den Bereich der unmittelbaren Erfahrung der Wirksamkeit ritueller Techniken und Instrumente am eigenen Leib". Auf anschauliche Weise berichtet er in seinem Beitrag Rituelle Realitäten I: Arbeit an Verfahren der Ritualisierung von der Forschungsarbeit und den Projekten des Parate Labor und warnt vor Dilettantismus und Scharlatanerie in diesem Bereich.
"Theater und Ritual" zusammendenkend oder auseinanderdividierend, erfordert offensichtlich zunächst eine Festlegung der Begrifflichkeiten, denn auch Schechner nimmt zu Beginn seines Textes Die Zukunft des Rituals Stellung zur Definitionsproblematik. Die Vergangenheit des Rituals zeigt er anhand eines Baumdiagramms, führt dann über Girard, Goodman, Turner, Freud und Grotowski zu einer Zukunft des Rituals, die "die fortgesetzte Begegnung von Imagination und Erinnerung, übersetzt in machbare Handlungen des Körpers" ist.
Der Körper ist auch Entscheidungskriterium bei der polarisierten Auseinandersetzung mit "Maschinen-Kunst". Einerseits wird das totale Verschwinden des Körpers diagnostiziert, andererseits für das Organische als dem Theater immanenter Aspekt plädiert. Guillermo Gomez-Peña wollte "neue Technologien verwenden, um die mythisch-poetische Interaktivität zwischen dem Performer und dem Publikum zu steigern". In seinem Beitrag Ethno-Cyborgs und genetisch konstruierte Mexikaner stellt er Projekte, die er gemeinsam mit Roberto Sifuentes erarbeitet hat, ausführlich und genau vor. Er führt in die Welt bzw. die Welten der Cyborgs ein, deren kreatives Potential durch Subversivität gekennzeichnet ist. Auch beschreibt Gomez-Peña die spannende Auseinandersetzung mit dem Publikum, das im Vergleich zu einem Live-Publikum wesentlich radikaler in die Performance einzugreifen wagt.
Spezielle Einblicke Es ist nicht zu leugnen, daß noch immer von Randgebieten und Zentren gesprochen wird, weshalb es umso bedeutender ist, daß der Sammelband auch Beiträge von AutorInnen beinhaltet, die aus einer Perspektive außerhalb der sogenannten Zentren schreiben.
Simo kritisiert nicht zu unrecht in seinem Artikel Theater in Afrika. Der Blick von Außen und von Innen den "ethnographischen Blick", der Kategorien und Begriffe zur Folge hat, mit denen auch jetzt noch Theaterwissenschaft in Afrika betrieben wird. Der ethnographische Blick ist bestimmt durch seine Außenperspektive und ist "weil er ein kolonialer Blick ist, oder zumindest erst durch die koloniale Situation möglich wurde, [...] ein paradoxer Blick". Simo fordert, um diesen Blick zu überwinden und um einen anderen Diskurs eingehen zu können, die ernsthafte Auseinandersetzung mit oral überlieferten Texten der afrikanischen Kultur. Diese müßten als "Rede" und nicht mehr nur als "Sprache" verstanden werden.
Lamice El-Amari spricht sich in ihrem Artikel Bemerkungen zu den Theaterkünsten in der arabischen Welt ebenfalls gegen eine einseitige, respektive abendländische, Kategorisierung von theatralen Phänomenen aus. Sie widerlegt anhand zahlreicher Beispiele die allgemein akzeptierte Annahme, daß arabisches Theater erst begann, als Maroun El Naquash das europäische Theater im Jahr 1848 einführte. Die Argumentationen, die diese Meinung etablierten, sind teilweise äußerst absurd und werden von Lamice El-Amari auch als solche entlarvt. El-Amari vertritt hingegen den Standpunkt, daß "eine moderne Auseinandersetzung mit Theatergeschichte [...] bis hin zu den ersten kreativen Menschen: zu den Jäger-Tänzer-Malern von Altamira" reicht. Sie weist theatrale Phänomene, öffentliche Schauspiele, frühe Dramen, Shows etc. lange vor 1848 nach.
In Kulturelle Dualität und deren Reflexion in den ländlichen und urbanen Gegensätzen des türkischen Theaters, ein Artikel von Aysin Candan, wird kurz und übersichtlich in das theatrale Geschehen der Türkei eingeführt. Candan zeigt vor allem die unterschiedlichen Tendenzen des sozialen Umfelds von Land und Stadt, die sich in den "bäuerlichen Spielen" und ihren "urbanen Gegenstücken" nach 1960 wiederfinden, auf. Ausblicke Jene in der Theaterpraxis diagnostizierten Aufbrüche müssen ihre logische Fortsetzung, aber auch ihre mutigen Vorwegnahmen in der theoretischen Beschäftigung mit Theater finden. Sei es auf der Suche nach passendem Werkzeug für Dokumentationen und Beschreibungen, sei es in der Entwicklung neuer Methoden. Interessante und innovative Beiträge dazu bringen Knut Ove Arntzen, Ulf Birbaumer, Jean-Marie Pradier, Susanne Schwinghammer und Monika Wagner.
"Das Interesse westlicher Kunstwissenschafter und -kritiker an nicht-westlicher Kunst beschränkt sich im wesentlichen auf formale und ästhetische Aspekte der betreffenden Kunstwerke oder künstlerischen Darbietungen", kritisiert Monika Wagner in ihrem Text Performance. Berührungspunkte zwischen Bildender und Darstellender Kunst. Ganz abgesehen davon, daß Wagner einen interdisziplinären Ansatz schon innerhalb der Kunstrichtungen anstrebt, betont sie die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit Kunst und ein eingehendes Wissen um die gesellschaftliche Struktur, in der diese Kunst entsteht. Sie sieht KunstethnologInnen und TheaterwissenschafterInnen als Bindeglied und VermittlerInnen zwischen den Welten.
Susanne Schwinghammer stellt in ihrem Beitrag TheaterEthnologie: Dekonstruktion einer Kunstauffassung einen Überblick der europäischen Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts zusammen, in der sie als "durchgehendes Thema [...] die darstellerische Erforschung des Körpers durch die Integration interkultureller Impulse" feststellt und kritisiert, daß "in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft [...] ein[em] interkulturelle[n] und interdisziplinäre[n] Forschungsansatz, bis auf wenige Ausnahmen, bislang eine geringe Bedeutung beigemessen" wurde. Ihrem Verständnis nach müßten nicht-europäische Theatralitätsformen in ihrer Eigenständigkeit betrachtet werden. Dies fordert neue Forschungsansätze und Perspektivenwechsel, die zu einer notwendigen Dekonstruktion der europäisch geprägten Theater- und Kulturauffassung führen sollen.
Einen derartigen und notwendigen Perspektivenwechsel bekundet auch Ulf Birbaumer, indem er Theaterwissenschaft und Ethnologie zusammendenkt. In Kreolisierung und Spektakelkunst unterstreicht er anhand einleuchtender und bekannter Beispiele der letzten Jahrzehnte die Potentialität, aber auch die Mißverständnisse von Theater im Kontext von Interkulturalität, Intermedialität und Intersoziabilität. Um die Bedeutung und Vorteile von Theater in diesem Zusammenhang besser herauszuarbeiten, schlägt er vor, "dem Polylog Begriffe wie Polymag und Polymim zuzugesellen, um die Unterschiede von T (Dramentext) und P (présentation, représentation, Aufführung) [...] noch zu verdeutlichen".
Eine bislang absolute Steigerung dieses zuvor angedachten Perspektivenwechsels innerhalb der Theaterwissenschaft führt Jean-Marie Pradier mit seiner "Ehtnoszenologie" ein. Dieser Neologismus steht für die Vermeidung "jede[r] Art [von] ethno-zentristischer Anspielung auf das westliche Theatermodell" und für eine neue Disziplin, die sich durch ihre holistische Perspektive auszeichnet. Sehr ausführlich und einleuchtend erklärt er in Ethnoszenologie. Das Fleisch ist Geist den neuen Weg, "organised human performance practices - OHPP" zu untersuchen.
Voraussetzung für eine holistische Arbeitsmethode ist es aber auch, Randgebiete wahrzunehmen und zu erkennen, daß diese die sogenannten Zentren mindestens genauso beeinflussen wie vice versa. Knut Ove Arntzen veranschaulicht in seinem Text Post-mainstream als geo-kulturelle Dimension von Theater, daß gerade Randgebiete Impulse für innovative Weiterentwicklung bieten. Ausgehend von einem interdisziplinären Ansatz entlehnt Arntzen Begrifflichkeiten aus der Geographie und beschreibt so die jüngsten Entwicklungen von Theater in Europa in bezug auf dessen nördliches Randgebiet. Seine Vorgangsweise begründet er damit, daß es "die Vorstellung einer geo-kulturellen Dimension erlaubt [...], über Verschiedenartigkeit in theatraler Kultur in Zusammenhang mit Ästhetik, Dramaturgie, Identitäten und Energien zu sprechen".
Hakan Gürses arbeitet in seinem Text Theater und Identität die identitätsstiftende Funktion von Theater heraus. So konstatiert er symbolhafte, indikatorische Wirkung im Sinne einer nationalen Identitätsstiftung bei den Staatstheatern, während es sich bei Experimentaltheaterformen um ethnische Identitätsstiftung handelt. Gürses bemerkt allerdings eine Doppelbödigkeit im Umgang mit diesem Thema, Tabu bei gleichzeitiger Salonfähigkeit, sodaß er vermuten muß, daß das Ethno-Konzept mit Theater nicht viel zu tun hat. Er ist der Meinung, daß "Theater in dieser Politik der Identitäten und der Anerkennung nur als Vehikel verwendet werden kann/wird."
Aufgrund der in ihren Ansätzen und Zugängen unterschiedlichen Beiträge wird die vielfältige und rege, sowohl künstlerische als auch wissenschaftliche Beschäftigung mit theatralen Phänomenen gezeigt. Allen gemeinsam ist der Wunsch nach und die Bereitschaft zu einem grundlegenden Perpektivenwechsel: Nicht um ein neues Zentrum zu etablieren, sondern um ein altes ein bißchen aufzubrechen.
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