Antonin Artaud: Das Alfred Jarry-Theater. Manifeste, Bühnenstücke, Inszenierungspläne, Briefe.

Hrsg. u. übers. v. Bernd Mattheus. München: Matthes & Seitz 2000 (Batterien. 67). 243 S. Gebunden. ISBN 3-88221-285-3. Preis: ATS 364,-/DM 49,80/sfr 47,80.

Autor/innen

  • Helmut Neundlinger

Abstract

1927 gründet Antonin Artaud gemeinsam mit Roger Vitrac und Robert Aron eine Experimentalbühne mit dem Namen "Alfred-Jarry-Theater", benannt nach dem Schriftsteller, dessen Stück Ubu Roi (1896) gleichsam die Initialzündung des experimentellen Theaters gewesen ist. In den folgenden drei Jahren bringt die Truppe unter widrigsten Bedingungen, von chronischem Geldmangel bis zur ständigen Skandalisierung durch die Öffentlichkeit, vier Abende zur Aufführung.

In dem heuer bei Matthes & Seitz erschienenen Band sind "sämtliche Texte und Materialen, die sich auf das Theater beziehen", versammelt, so verspricht es der Klappentext. Die Textauswahl reicht von den programmatischen Texten des Programmheftes über zwei Inszenierungspläne und zwei Stücke von Artaud bis zu Briefen an Mitglieder des Ensembles, Kritiker und Intendanten.

Für Artaud war das Alfred-Jarry-Theater ein Versuch, sich künstlerisch und existenziell zu positionieren. Die Kritik an der "Wiedertheatralisierung des Theaters" als herrschendem Regiekonzept an den Pariser Bühnen zu dieser Zeit entwickelte sich in und um die Inszenierungen zum theoretischen Protoplasma des "Theaters der Grausamkeit". Darüber hinaus hat Artaud ein konkretes materielles Interesse: Er will als Regisseur Fuß fassen und sich über die Inszenierungen des Alfred-Jarry-Theaters als Künstler etablieren.

Artaud konstatiert für das Pariser Theater der 20er-Jahre eine fundamentale Krise samt falschen Lösungen. Die "Wiedertheatralisierung des Theaters" ist für ihn Ausdruck eines Illusionismus, gegen den Artaud die Suche nach einer Metaphysik des Theaters setzt. Er will kein Theater, das mit dem Leben rivalisiert, sondern "das Leben des Theaters in seiner ganzen Freiheit wiederfinden." In den programmatischen Texten entwickelt Artaud in Ansätzen die Begrifflichkeit seines Theaters der Grausamkeit. Schon im Alfred-Jarry-Theater denkt er das Theater als gleichsam kathartische Institution, dessen verbindlicher Wirkung sich das Publikum nicht entziehen kann: "Der Zuschauer, der zu uns kommt, weiß, daß er sich einer wirklichen Operation ausliefert, bei der nicht allein sein Geist, sondern seine Sinne und sein Fleisch auf dem Spiel stehen."

Die Inszenierungen am Alfred-Jarry-Theater waren denn auch als Übergriffe auf das Leben der Beteiligten gehalten. Keine der Aufführungen vergeht ohne größeren Skandal. Paul Claudels Stück Die Mittagswende wird gegen den ausdrücklichen Willen des Autors zur Aufführung gebracht. Den wirklichen Eklat entfacht aber Artaud selbst mit seinem Schlusswort, und zwar, wenn man den Ausführungen Robert Arons glauben darf, unabsichtlich. Artaud hätte nach dem Stück einen differenzierten Text verlesen sollen, in dem er die Weigerung Claudels, sein Stück aufführen zu lassen, als "Verrat wider den Geist" hätte bezeichnen sollen. Aron schildert in einem Aufsatz vierzig Jahre später, was von der Differenziertheit übrig geblieben ist: "Artaud stellt sich vor die Zuschauer hin, erregt und fast außer sich: von dem vorbereiteten Text fällt ihm nur ein einziges Wort ein, nämlich 'Verrat'. Und hier die eigenartige Verkündigung, die er dem verdutzten Publikum entgegenschleudert. 'Das Stück, das das Alfred-Jarry-Theater Ihnen heute abend freundlicherweise vorspielte, ist 'Mittagswende' von Paul Claudel, französischer Botschafter in den Vereinigten Staaten, der ein gemeiner Verräter ist.' Es gab, wie man sich denken kann, einen hübschen Aufruhr: ein Stadtpolizist im Dienst flüsterte mir ängstlich eine Frage ins Ohr: - Was denn, dieser Herr Claudel hat Frankreich verraten?"

Eine Aufführung des Strindberg-Stückes Ein Traumspiel wird von den Surrealisten lautstark gestört, worauf Robert Aron sie von der Polizei festnehmen lässt. Auch das anwesende schwedische Publikum ist über die Strindberg-Interpretation Artauds mehr als entrüstet. Yvonne Allendy, eine bedeutende Förderin Artauds, die für die Strindberg-Aufführung ihre Kontakte zu einem schwedischen Botschaftsrat genutzt und schwedisches Publikum in die Aufführung gelotst hat, bringt in einem Brief nach dem Eklat Artauds zwiespältiges Verhältnis zur Öffentlichkeit auf den Punkt: "Aber was Ihnen vorzuwerfen ich das Recht habe, ist, daß Sie das 'Traumspiel' unter Bedingungen zur Aufführung bringen ließen, von denen Sie wußten, wie sie Ihnen mißfielen, und mich auf diese Weise den Saal zusammenstellen ließen, wenn Sie das Publikum verabscheuten. Entweder Sie wollen der absolute Aufständische sein oder nicht."

In den Briefen und Texten, die im Anhang bereitgestellt sind, kommt ein Artaud zum Vorschein, der unter der mythischen Aufmachung der bisherigen Matthes & Seitz-Publikationen (man denke an die diabolischen Cover von Das Theater und sein Double und Van Gogh oder die weihevoll-kultischen Klappentexte des Verlages) verschwunden ist: Ein experimentierender, unsicherer Künstler, der seinen theoretischen Ansprüchen und praktischen Bedürfnissen hinterherläuft, der Kompromisse dort ausschlägt, wo sie ihm helfen, und dort eingeht, wo sie ihm schaden. Fast peinlich berührend sind seine Briefe an den Theaterintendanten Jouvet, dem er sich immer wieder als Regisseur andient, einmal forsch seine Bedingungen fordernd, ein andermal hündisch nach Geld winselnd.

Von unschätzbarem Wert ist der Band aber wegen eines Textes, den Artaud auf die Rückseite des Manuskriptes von Es gibt kein Firmament mehr gekritzelt hat (S. 131). Darin sinniert er über einen Vorschlag von Edgar Varèse, im öffentlichen Raum eine Art Totalschauspiel zu inszenieren. Von der Unmöglichkeit, auf der Straße "meine Atmosphäre" zu erzeugen, kommt er im Stil einer écriture automatique auf sein Verhältnis als Künstler zur Welt:

"jedenfalls probt man nicht auf der Straße, jedenfalls, Welt, in der alles auf dem Geld beruht und in der das Geld oder sein Fehlen alles verhindert, man muß kundtun dürfen, daß das Material einen unschätzbaren Wert darstellt, Holz, Leinwand, Essen, Schauspieler, daß man es ohne Geld bekommen kann und man den Tauschhandel, die Kooperation der Waren wiederaufnehmen kann.

Kurz, wessen bedarf es?

Man kann auf einem Platz spielen, wenn schönes Wetter ist,

denn man braucht Platz,

in einem Hangar, einer leerstehenden Fabrik oder einer Garage,

aber man muß proben.

Ich bin bereit zu zeigen, daß ich kein Geld brauche und darauf verzichten kann,

man gebe mir als Wohnung ein Haus,

Essen,

mögen die oberen Zehntausend Kleider zuschneiden und nähen,

und eine Gesellschaft in der Gesellschaft, ein Staat im Staat."

 

Da steht plötzlich ein politischer Artaud vor uns, der sein Theater vom unteren Ende der Bedürfnispyramide her denkt und der deutlich erkennt, dass künstlerische Arbeit als symbolische immer in einem prekären Verhältnis zur materiellen Warenwelt steht. Und in wenigen, einfach hinimprovisierten Zeilen formuliert Artaud die harten sozialen Tatsachen für sein späteres Wahnthema, den organlosen Körper, der gegen einen räuberischen Gott kämpft. Darin manifestiert sich die Fiktion ökonomischer Unabhängigkeit.

Autor/innen-Biografie

Helmut Neundlinger

Geb. 1973 in Grieskirchen (OÖ.). Studium der Philosophie in Wien 1992-1998. Abschließende Diplomarbeit über den Renaissancephilosophen Giordano Bruno (Das Dazwischentreten der Bilder). Seit 1994 Mitglied der Musikgruppe Abado & Co. Auftritte im In- und Ausland, CDs Kreise und Rainspotting (erschienen 1996 und 2000 bei Extraplatte Wien). Mitbeteiligt an der Produktion der CD bei uns dahoam des Dichters Christian Loidl (erschienen 1998 bei der edition selene). Mitbeteiligt an der Produktion der Theatermusiken für Fräulein Julie und Während wir drei leerbluten im März bzw. Mai 1999 im Theater "Gruppe 80". Komposition und Produktion der Theatermusik für Disco Pigs von Enda Walsh für die österreichische Erstaufführung im Linzer Landestheater im September 1999. Veröffentlichung von Kurzprosa in den Facetten 96, 97 und 99 (Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz) und in kursiv - kunstzeitschrift aus oberösterreich.

Publikationen:

"Innen und außen: Geschlecht und Geschäft. Literarisierte Orte der Leopoldstadt." In: Wien II., Leopoldstadt. Die andere Heimatkunde. Hg. v. Werner Hanak. Wien u.a.: Brandtstätter 1999. "Musik als Umgebung. Funktion und Bedeutung der Musik Franz Eugen Kleins." In: Kringel, Schlingel, Borgia. Materialien zu Peter Hammerschlag. Hg. v. Monika Kiegler-Griendsteidl u. Volker Kaukoreit. Wien: Turia und Kant 1997 (Österreichisches Literaturarchiv - Forschung. 1).

Veröffentlicht

2000-10-31

Ausgabe

Rubrik

Theater