Stefan Tigges/Katharina Pewny/Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance.

Bielefeld: transcript 2010. ISBN 978-3-8376-1015-4. 474 S. Preis: € 34,80.

Autor/innen

  • Petra Rathmanner

Abstract

Das Zwischenspiel war theaterhistorisch betrachtet zunächst eine – meist heitere – Einlage, die zwischen den Akten eines Dramas gegeben wurde, um etwa einen Bühnenbildwechsel zu ermöglichen. Der einstige Pausenfüller hat sich nun von den bühnenpraktischen Zwängen emanzipiert und wird von den Autoren des Bandes Zwischenspiele als Metapher für vielfältige Erkundungen der gegenwärtigen Theaterpraxis verwendet. In sämtlichen Beiträgen ist der Begriff bewusst weit gefasst und will gar nicht erst als neues ästhetisches Paradigma verstanden werden. Sein poetisches Potenzial für eine Auseinandersetzung mit avancierten szenischen Arbeiten ist indes unbestreitbar. Damit wird auch ein programmatischer Ansatz deutlich, durch den sich der Band von herkömmlichen Tagungsbänden unterscheidet: Nicht nur Wissenschaftler, auch Theaterpraktiker kommen hier zu Wort.

2008 fand die Tagung unter dem Titel "Dramatische Transformationen 2. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater-, Tanz und Performance", an der Universität Rouen in Frankreich statt. 2010 erschien der Tagungsband, herausgegeben von Katharina Pewny, Professorin für Performance Studies an der Universität Gent, Evelyn Deutsch-Schreiner, Leiterin des Instituts Schauspiel der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz und Stefan Tigges, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft in Bochum. Die unkonventionelle Verzahnung von wissenschaftlichen Beiträgen und Texten mit künstlerischer Ausrichtung ist für eine Standortbestimmung überaus ergiebig und ermöglicht neue Formen der Interaktion zwischen Theaterpraxis und Wissenschaft. Der Ansatz erscheint grundsätzlich wegweisend und in manchen Beiträgen werden durchaus anregende Grenzüberschreitungen ausprobiert: Künstler lassen den Leser an ihren theoretischen Reflexionen teilhaben – etwa Margareth Obexer in ihrem Text "Statt zu vögeln, lasst sie kommen" – und Wissenschafter versuchen sich in einem von den üblichen Zwängen befreiten Schreiben – etwa Patrice Pavis in "Selbstbefragung zur zeitgenössischen Inszenierung".

Ein Problem, das sich aus der mitunter etwas willkürlich anmutenden Zusammenstellung der Beiträge ergibt: Das Zusammenspiel von eher randständigen Positionen mit weithin bekannten Vertretern der Zunft rückt die Texte nicht nur in produktiver Vielfalt zueinander, sondern macht auch deutlich, wie sehr die unterschiedlichen Beiträge doch in ihrer Qualität divergieren. Der fast 500 Seiten starke Band umfasst in neun Kapiteln 35 Beiträge von Autoren aus vielen Nationen, wobei der Schwerpunkt klarerweise auf den Veranstalterländern Deutschland, Österreich und Frankreich liegt.

Die ersten drei Kapitel setzen sich mit dem Gegenwartsdrama auseinander. "Dialoge zwischen den Systemen: Schreiben für/über Theater" versammelt vier Beiträge, – u. a. von Patrice Pavis und Bernd Stegemann – welche die von Gerda Poschmann angezettelte Diskussion über nicht-mehr-dramatische Theatertexte[1] und neue szenische Potenziale des Schreibens[2] weiterführen. Das zweite Kapitel, "Poetologische Positionen: Vom Anspruch auf Wirklichkeit", stellt fünf Positionen von zeitgenössischen Dramatikern vor. Auf der einen Seite der Skala steht Margareth Obexer, die in ihrem Aufsatz den ewigen Zwang zum Neuen hinterfragt. Ihr Gegenpol ist Jörg Albrecht, der ein Theater sucht, das mit dem Internet kompatibel ist und die Wirklichkeit in neuartigen Verlinkungen darzustellen vermag. Mit einem launigen "Autorinnen-Ratgeber" geht Ewald Palmetshofer der Frage nach, wie man als Dramatiker im Theaterdschungel überleben kann. Das dritte und den Themenkomplex Drama abschließende Kapitel, "Neue dramatische Schreibpositionen", zeigt Stückauszüge von fünf Gegenwartsautoren – darunter Falk Richters Die Verstörung.

Im vierten Kapitel geht es um interkulturelle Bühnenprojekte. Wie sich das Theater den Herausforderungen der Migrationsgesellschaft stellt, wird mit je einem aufschlussreichen Beispiel aus den Bereichen Theater, Schreiben und Tanz illustriert. Die Chefdramaturgin Rita Thiele stellt in ihrem Aufsatz die Arbeit des Schauspielhauses Köln vor, das sich für einen multikulturellen Ansatz entschieden hat. Der Autor und Regisseur Hans Escher berichtet über die interkulturelle Schreibwerkstatt wiener wortstaetten. Sandra Noeth, Chefdramaturgin des Wiener Tanzquartiers, schreibt über die weitreichenden Folgen der mitteleuropäisch zentrierten Rezeption des Tanzes für außerhalb dieses Fokus bestehende Tanz-Szenen, insbesondere für Gruppen aus Südosteuropa.

In "Zwischen den Künsten, zwischen den Formen", dem fünften Kapitel des Sammelbandes, geht es um die von Theodor W. Adorno konstatierte "Verfransung der Künste" (S. 217) und das Ineinanderübergreifen der Genres. Auch die Anlage dieses Kapitels verlinkt unterschiedliche Schreibpositionen: Die Tonkünstlerin Eléonore Bak und das Performance-Duo Deufert und Plischke schreiben über ihre jeweiligen künstlerisch exponierten Positionen. Die Wissenschaftlerinnen Susanne Foellmer und Annette Storr diskutieren ein Theater, das hinsichtlich der Behandlung von Sprache und Körper nicht mehr den dramatischen Konventionen folgt.

Neue szenische Herangehensweisen und neue theatrale Räume versetzen das Publikum in eine fundamental andere Rolle als die traditionelle Guckkastenbühne. Mit diesen veränderten Bildräumen und den damit einhergehenden Transformationen der Wahrnehmung setzt sich das sechste Kapitel, "Bild- und Wahrnehmungsräume", auseinander. Ein Schwerpunkt ist Heiner Müllers Bildbeschreibung gewidmet: Genia Schulz diskutiert in ihrem Aufsatz eine Inszenierung dieses Textes von Jourdheuil/Peyret und bringt eine von Michel Foucault beeinflusste Lesart in die Debatte ein. Eine Gegenposition nimmt Ulrike Haß ein, die darüber reflektiert, wie Laurent Chétouane Heiner Müllers Sprache in Bildbeschreibung auf der Bühne in Bewegung umsetzt.

Einen Abriss der kurzen, aber keineswegs unbedeutenden Geschichte des Videos im Theater bietet das siebente Kapitel, "Körperbilder und/im Medien-Transfer". Annette Jael Lehmann beschäftigt sich mit Videoarbeiten aus den 1970er Jahren von Bruce Naumann und Dan Graham. Jörg von Brinckens Analyse der Gegenwart verhandelt keineswegs die 'naheliegenden' Theaterarbeiten – wie etwa von Frank Castorf, der als einer der Ersten mit dem Einsatz von Video auf der Bühne experimentierte – sondern setzt sich mit dem im deutschsprachigen Raum weniger bekannten Regisseur Romeo Castellucci auseinander. Der italienische Theatermacher hat 2002 seinen Tragödienzyklus der Tragedia Endogonidia mit einer DVD-Dokumentation abgeschlossen.

"Durch die Geschichte(n) gehen: Politische Zwischenspiele in Theater und Performance", das achte und vorletzte Kapitel, versammelt vier Positionen, aus denen Jean Jourdheuils Aufsatz über Philoktet herausragt, der noch einmal an die Auseinandersetzung mit Heiner Müller anknüpft. Auch Evelyn Annuß' Analyse über drei Arbeiten zur Geschichte der RAF ist aufschlussreich. Mit René Pollesch, Rimini Protokoll und Hans Werner Kroesinger stellt die Autorin drei exponierte Positionen neuer dokumentarischer Spielformen am Theater vor.

Das neunte und letzte 'Zwischenspiel', "Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz", ist schließlich ein transkribiertes Gespräch zwischen dem Hamburger Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll und dem französischen Regisseur und Choreograph Laurent Chétouane, das vor allem um dessen Faust I und Faust II-Inszenierungen kreist. Aus dem Gespräch geht deutlich hervor, wie sehr der Theatermacher bereits mit einer 'anderen' Haltung der Zuschauer rechnet. Das Publikum wird für ihn zum "créateur" (S. 438).

Der Gang durch die neun Kapitel macht deutlich: So gut wie jede relevante Diskussion aktueller Bühnenforschungen taucht in irgendeiner Form in diesem Tagungsband auf. In der Zusammenschau sind die Texte jedoch weniger eine Orientierungshilfe im Theatertheoriedschungel, sondern spiegeln vielmehr die Unübersichtlichkeit gegenwärtiger Theaterformen wieder. In diesem Sinne legt der Band Zwischenspiele selbst ein Bekenntnis ab, dass das, was 'dazwischen' liegt, zählt.

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[1] Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen: Niemeyer 1997.

[2] Theresia Birkenhauer: Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Berlin: Vorwerk 8 2005.

Autor/innen-Biografie

Petra Rathmanner

Studium der Theaterwissenschaft in Wien, New York und Paris. Seit 1997 als Theaterkritikerin für verschiedene in- und ausländische Medien tätig, darunter Falter und NZZ; derzeit Kulturredakteurin der Wiener Zeitung. Lehrtätigkeit an der Universität Wien.

Veröffentlicht

2011-12-14

Ausgabe

Rubrik

Theater