Bernd Stegemann, Dramaturgie.

Berlin: Theater der Zeit 2009. (Lektionen 1). ISBN 978-3-940737-34-2. 350 S. Preis: € 18,-.

Autor/innen

  • Petra Rathmanner

Abstract

Das Theater lebt von Gedanken und Handlungen, die nicht sein sollten: von Mord und Totschlag, Betrug und Verrat, von Eifersucht und Liebesleid. Welche Absicht verfolgt indes die bühnenwirksame Darstellung menschlichen Treibens? Welcher Logik gehorcht ein Theatertext - und wie müssen Handlungen gebaut sein, um glaubhaft zu sein? Kernfragen dieses Formats beleuchtet nun Bernd Stegemanns Kompendium Dramaturgie - mit Hilfe von einführenden Kommentaren und Auszügen aus 65 programmatischen Texten von Aristoteles über Brecht und Schimmelpfennig bis Rimini Protokoll.

Mit den versammelten Belegstellen, die historische wie gegenwärtige Theorievoraussetzungen dramaturgischen Denkens referieren, zeichnet Stegemann Entwicklungen nach, die das Drama im Lauf der Zeit vollzogen hat. Herausgekommen ist ein kompaktes Handbuch, das wesentliche Grundlagentexte, darunter Auszüge aus Aristoteles' Poetik, Schriften von Gottsched und Lessing, den Apologeten der Aufklärung, Abhandlungen der 'Klassiker' Goethe und Schiller und selbstverständlich auch Bertolt Brecht, vereint und auf klassisch Theoretisches nicht gänzlich verzichten will, so z. B. Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels oder Peter Szondis' Theorie des modernen Dramas. Ein ausführliches Kapitel ist zudem Shakespeare (mit Beiträgen von Ina Schabert oder Stephen Greenblatt sowie einem Text Johann Gottfried Herders) gewidmet.

Gegliedert ist der Band in zwölf weitgehend chronologisch angeordnete Kapitel, von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, wobei Stegemann jedem neuen Abschnitt eine leicht lesbare Einleitung voranstellt. Der Autor bettet die vorgestellten dramaturgischen Lehrsätze (darunter die Dramaturgie des Mythos, des Idealismus, des Naturalismus) in historische und ideengeschichtliche Kontexte. Interessant ist dabei Stegemanns unorthodoxe Textauswahl; so kombiniert er im Kapitel "Dramaturgie des Spiels" Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen mit Brechts Theorie des Lehrstücks und Richard Schechners theateranthropologischem Ansatz - und argumentiert die Auswahl schlüssig mit Johan Huizingas einflussreichen Darlegungen zum Spiel als Ursprung der Kultur (Stichwort Homo Ludens). Ähnlich überraschend die Textauswahl im Kapitel "Dramaturgie des epischen Theaters", in dem Stegemann Brecht (Das epische Theater) mit Walter Benjamin (Was ist das epische Theater?), Heiner Müller (Fatzer ± Keuner) mit Peter Szondi (Theorie des modernen Dramas), Volker Klotz' Geschlossene und offene Form im Drama und Margret Dietrichs Aufsatz Episches Theater? kombiniert. Letzterer Text wurde übrigens 1956 in der Institutsschrift Maske und Kothurn veröffentlicht, zu einem Zeitpunkt, als die spätere Leiterin des Wiener Instituts für Theaterwissenschaft als Assistentin von Heinz Kindermann tätig war. Dietrich erwähnt in Episches Theater? mit keiner Silbe Brecht (als der Text entstand, herrschte hierzulande der Brecht-Boykott) und gelangt zu dem eigenwilligen Schluss, wonach das Archaische das Epische überschichte. Dietrichs Überlegungen zum "archaisch-epischen Drama" (S. 261) lösen die epischen Gestaltungselemente aus Brechts marxistisch-dialektischem Zugriff und eröffnen epischen Spielweisen andere (auch gänzlich unpolitische) Horizonte.

Dramaturgie, die Lehre von Wesen, Wirkung und Formgesetzen des Dramas, definiert Bernd Stegemann, Professor an der Berliner Ernst-Busch-Schauspielschule und gegenwärtig Chefdramaturg an der Berliner Schaubühne, als "Architektur der Handlung" (S. 10), wobei sich diese durch Situationen konstituiert. Die typische dramatische Situation wiederum beinhaltet laut Stegemann die Krise: einen Interessenskonflikt, die Diskrepanz zwischen Wollen und Sollen. Folgerichtig liegt für den Herausgeber der Ausgangspunkt des Nachdenkens über den Menschen in just dieser existenziellen Situation, die im Vorwort philosophisch, von Hegel über Kierkegaard bis Heidegger und Sartre, hergeleitet wird.

Zum zentralen Vordenker wird in dem 350-Seiten-Band mit gutem Grund Aristoteles erhoben; im mit "Dramaturgie der antiken Tragödie" überschriebenen Kapitel erläutert Stegemann ausführlich dessen Poetik, indem er die berühmten aristotelischen Darlegungen (vom Gegenstand der Tragödie über deren Gesetzmäßigkeiten bis zum Zweck der Darstellung) in Platons kritische Überlegungen zur Mimesis einbettet, und zeichnet nach, wie Aristoteles mit der Idee der Katharsis Platons Einwände überwindet.

Weitreichend sind Stegemanns Ausführungen, wie die aristotelischen Gedankengänge während der vergangenen Jahrhunderte missverstanden, umgedeutet und verkürzt wurden - von der höfisch-barocken Rezeption eines Pierre Corneille, der die strikte Einheit von Raum, Zeit und Ort hineinlas, über die Auslegungen der bürgerlichen Aufklärer Diderot und Lessing, wobei letzterer, folgenschwer, das griechische 'eleos' (Jammer) mit dem christlich-tugendhaften 'Mitleid' gleichsetzte und aus dem archaischen 'phobos' (Schrecken) die abgemilderte 'Furcht' machte, bis hin zu den Ari Hiltunens Anleitungen für Hollywood-Drehbücher, bei der Aristoteles' philosophische Dimension vom marktwirtschaftlichen Kalkül abgelöst wird.

Aufschlussreicher als die auszugsweise Wiedergabe bekannter Texte und deren Zusammenfassung als in der Theaterwissenschaft hinlänglich bekannte Prozesse ist Stegemanns Zugang zum zeitgenössischen Drama. Vor allem in den Kapiteln "Dramaturgie des Postdramatischen" und "Dramaturgie des Postepischen" versucht der Autor eine Standortbestimmung gegenwärtigen dramaturgischen Schaffens.

Dabei steht er besonders dem postdramatischen Theater skeptisch gegenüber. Der viel diskutierte Begriff, der Ende der 1990er Jahre vom Theaterwissenschafter Hans-Thies Lehmann geprägt wurde, beschreibt vielfältige theatrale Bewegungen, die herkömmlichen Bühnenmitteln misstrauen und sich vom Dramentext emanzipieren wollen. Die heutige gesellschaftliche Realität, so die Mutmaßung der postdramatischen Künstler, lasse sich nicht mehr in spielbare Situationen, in rational nachvollziehbare Handlung kleiden. Diese Verweigerungsstrategie beurteilt Stegemann als "umfangreiche Absage an die Tradition des Theaters" (S. 37). Das postdramatische Theaterschaffen wertet der Verfasser als "selbstgenügsame" und "obsolete Fiktion" (S. 39) ab, die sich ebenso bald erledigt haben wird wie die Idee von der Posthistorie.

Versöhnlicher steht Stegemann dem postepischen Theater gegenüber. Er zitiert den deutschen Dramatiker Roland Schimmelpfennig, der epische Mittel zur Darstellung komplizierter Geschichten verwendet, die in einem geschlossenen Dramenkontext nicht realisierbar wären. Schimmelpfennig erläutert in einem Originalbeitrag, wie er mit Hilfe des Postepischen die mit Parallelhandlungen an fernen Orten ausufernde Fabel von Die arabische Nacht gestaltete. Eine weitere postepische Ausformung berührt eine 'Zukunftsvision' Brechts, die Stegemann in den Arbeiten des Künstlerkollektivs Rimini Protokoll verwirklicht sieht: Laut Brecht wird das Theater der Zukunft den Unterschied zwischen Schauspielern und Publikum aufheben. Bei Rimini Protokoll begegnen sich Zuschauer und Darsteller bekanntlich auf Augenhöhe. Es gehört zur Methode des Kollektivs, statt Schauspielern Laien auf der Bühne Platz einzuräumen, die aus ihrem Leben erzählen. Der Bericht des eigenen Erlebens wird als theatralisches Ready-made eingesetzt, das erst durch Kontext, Auswahl und Collage zu einem realen szenischen Vorgang wird, der beim Zuschauer eigene Assoziationen zulässt, zugleich ohne die Fiktion einer dramatischen Welt auskommt.

Mit seinen Positionen zum zeitgenössischen Theaterschaffen, angereichert mit bisher unveröffentlichten Texten von Roland Schimmelpfennig, Falk Richter und Gesine Danckwart sowie Interviews mit den Rimini-Protokoll-Mitgliedern Helgard Haug und Daniel Wetzel, betritt Bernd Stegemann durchaus Neuland innerhalb des dramatischen Diskurses. Der Band hebt sich von vergleichbaren Handbüchern wohltuend ab und empfiehlt sich auch für Studienanfänger als Zusammenstellung, die, elegant und kenntnisreich, die Vergangenheit mit der Gegenwart des Dramas verzahnt.

Autor/innen-Biografie

Petra Rathmanner

Studium der Theaterwissenschaft in Wien, New York und Paris. Seit 1997 als Theaterkritikerin für verschiedene in- und ausländische Medien tätig, darunter Falter und NZZ; derzeit Kulturredakteurin der Wiener Zeitung. Lehrtätigkeit an der Universität Wien.

Veröffentlicht

2010-06-01

Ausgabe

Rubrik

Theater