Horst Fassel: Das Deutsche Staatstheater Temeswar (1953–2003). Vom überregionalen Identitätsträger zum Experimentellen Theater.

Berlin/Münster/Wien u. a.: LIT 2011. (Thalia Germanica 11). ISBN 978-3-643-11413-6.575 S. Preis: € 59,90.

Autor/innen

  • Hans Dama

Abstract

Die wissenschaftliche Gesellschaft Thalia Germanica, 1993 in Tallinn/Vancouver gegründet, hat in ihrer Buchreihe bisher zehn Titel herausgebracht. Meist handelte es sich um Tagungsbände, die sich mit deutschsprachigem Theater außerhalb des deutschen Sprachraums beschäftigten, aber auch um Überblicksdarstellungen und Einzelmonographien (z. B. über das deutschsprachige Theater in Kanada oder das Stadttheater Torun/Thorn). Der Vorsitzende der Gesellschaft hat als Nummer 11 der Buchreihe eine Monographie des Deutschen Staatstheaters Temeswar (Rumänien) vorgelegt, die sich mit dem ersten staatlich voll subventionierten deutschen Theater in Südosteuropa beschäftigt, das seit 1953 in der multinationalen Banater Hauptstadt tätig ist. Wie sich das Deutsche Staatstheater während der kommunistischen Diktatur (1953–1989) im Schatten der Zensur entwickelte und wie es nach 1990 eigene Wege in eine europäisch intendierte Professionalität suchte, wird in diesem neuen Buch dargestellt.

In Temeswar gibt es seit Mitte des 18. Jahrhunderts deutschsprachiges, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch serbisches, seit 1828 ungarisches und seit 1868 rumänisches Theater. Es ist eine Gepflogenheit theatergeschichtlicher Darstellungen geworden, das Nebeneinander der vier Theatereinrichtungen im gleichen Gebäude als Zeichen eines europäischen Kulturbewusstseins zu präsentieren; ehemals war dieses ein Fellner&Helmer-Gebäude, das 1920 einem Brand zum Opfer fiel und danach zum heutigen 'rumänischen' Theater umgebaut wurde. In Wirklichkeit wurde aber bloß fortgesetzt, was seit der österreichischen Ära (1718 ff.) im gesamten Banat üblich war: das Miteinander verschiedensprachiger Kulturen.

Allerdings besteht der Unterschied zu den staatlichen Theatereinrichtungen in Rumänien nach 1945 darin, dass bis zum Zweiten Weltkrieg die Theatertätigkeit auf Initiativen regsamer Theaterprinzipale (später: Intendanten) zurückging, die ihre Ziele selbst bestimmten, während nach 1945 die staatliche Subventionierung mit einer Steuerung verbunden war.

Obwohl das Deutsche Staatstheater zunächst Teil einer verordneten Staatskultur war, hat es bereits vor 1989 versucht, eigene Schwerpunkte zu setzen. Zwar musste das Repertoire nach ideologischen Vorgaben gestaltet werden, die für alle Theater des Landes galten, aber im Laufe der Jahrzehnte suchte man einerseits die Zensur zu überlisten, andererseits dem Publikum – jenseits der sozialistischen Massenkultur – ein Theatererlebnis zu ermöglichen, das den Publikumswünschen entsprach und in dem Unterhaltung und Rückbesinnung auf Traditionen des deutschen Theaters vorrangig blieben. Versucht wurde dies durch die Inszenierung deutscher/österreichischer Bühnenklassiker, durch den Rückgriff auf das im Banat immer sehr populäre Wiener Volkstheater (Nestroys Lumpazivagabundus wurde nach 1964 von knapp 60.000 Zuschauern gesehen), durch die Schaffung eines sogenannten 'neuen' regionalen Volksstückes und durch ein dominant musikalisches Unterhaltungsgenre von Banater Autoren.

Es ist spannend zu erfahren, wie sich die Wiener Theatermodelle des 19. Jahrhunderts, in Zeiten der rumänischen Diktatur umfunktioniert, zu einem neuen Schauspielangebot aktivieren ließen. Dass sich nach 1990 die Kontakte zu Wiener (und österreichischen) Bühnen, Dramatikern, Regisseuren, Schauspielern und Schauspielerinnen mehrten und ein erneutes Anknüpfen an frühe Beziehungen zuließen – Temeswar, das von Franz Ignaz Castelli 1809 ein 'kleines Wien' genannt wurde, war bis 1918 Teil des abwechslungsreichen Theatersystems der Doppelmonarchie gewesen –, war eine der Chancen eines neuerdings freien Theaterlebens. Allerdings musste sich dieses neue Rezipienten suchen, weil die deutsche Minderheit Rumäniens nach 1990 zum großen Teil aussiedelte.

Fassels Theatermonographie ist konsequent aufgebaut: Auf die Schilderung früher Theatertraditionen in Temeswar folgt die chronologisch angelegte Präsentation der Entwicklung der Institution Deutsches Theater (von 1953 bis 1956 war dieses eine Abteilung des rumänischen Staatstheaters) sowie die Darstellung der an den Spielplänen ablesbaren Zielsetzung des Deutschen Staatstheaters und seiner Präsenz in den Medien des Landes. Zugleich wird der Stellenwert des Theaters innerhalb des Kulturbetriebes der deutschen Minderheit in Rumänien (Belletristik, Musik, bildende Kunst) ermittelt. Was die einzelnen Leistungsträger (Intendanten, Regisseure, Bühnenbildner, Schauspieler und Schauspielerinnen) zum Fortgang des Theaters beigetragen haben, wie sie sich auch außerhalb der Theatermauern als Übersetzer, Schriftsteller, Journalisten, Organisatoren von künstlerischen Einzelevents betätigt und dadurch eine Rolle im mehrsprachigen Kulturbetrieb der Stadt und des Landes eingenommen haben – das Deutsche Staatstheater war von Anfang an ein Tourneetheater –, wird sehr gründlich untersucht. Die Leitung des Theaters, das bis 2003 über 2,5 Millionen Zuschauer zu seinen Darbietungen lockte, hat es im Laufe seiner Entwicklung verstanden, landesweit in Erscheinung zu treten, vor 1989 bei drei Gastspielen in der DDR wahrgenommen zu werden und nach 1990 auch in Österreich, Deutschland, Ungarn, Polen und Frankreich bei Theaterfestivals und Gastspielen seine Inszenierungen zu präsentieren.

Im vierten Teil der Darstellung werden die Wirkungsmodalitäten der Bühne analysiert, sodass ein Eindruck von der Breiten- und Tiefenwirkung der Theaterarbeit entsteht. Das Material hierzu liefern Memoiren, Theaterprogramme, die hauseigene Theaterzeitschrift Gong und Theaterkritiken aus dem In- und Ausland, einschließlich jener in rumänischer Sprache. Die Eigendarstellung und die jeweiligen Themenschwerpunkte werden hervorgehoben, sodass sich ein faszinierendes Gegeneinander von Selbst- und Fremdbestimmungen der jeweiligen Darbietungen ergibt.

Im letzten Teil geht es darum, die Bedeutung einer deutschsprachigen Theatereinrichtung im 'Vielvölkerraum' zu untersuchen. Es wird vertieft, was schon im dritten Teil angesprochen wurde: die kontinuierliche Zusammenarbeit des Deutschen Staatstheaters mit dem Jüdischen Theater Bukarest (dessen Regisseur Maritius Sekler, ein Max Reinhardt-Schüler, hatte nicht nur Stücke der Autoren Bertolt Brecht und Friedrich Wolf, sondern vor allem das Wiener Volksstück in Temeswar wieder etabliert), mit dem rumänischen und ungarischen Theater in Temeswar sowie mit dem deutschen Theater Hermannstadt. Genau dokumentiert wird auch, wie sich Künstler dieser Einrichtungen gegenseitig stimulierten, wie sich die Einzeltheater in ihren Programmen abstimmten und inwiefern Theaterkultur Sache einer multinationalen Zusammenarbeit war. Ergänzt wird die Darstellung durch eine reichhaltige Bibliographie und durch das von Paul S. Ulrich erstellte Register, das den Zugang zu Einzelfragen erleichtert.

Man darf hoffen, dass das Deutsche Staatstheater Temeswar Möglichkeiten findet, sich neue Zuschauerschichten zu erschließen und seine Tätigkeit erfolgreich fortzusetzen. Auch sollte die Anregung des Autors, dass man vor Ort die Tätigkeit des deutschen Theaters weiter untersuchen und begleiteten möge, ernst genommen werden. Dazu gehört auch, dass man die Rezeption dieser Tätigkeit in den ungarischsprachigen und serbischen Publikationen systematisch auswertet, da dies in Fassels Darstellung nur punktuell geschieht.

Autor/innen-Biografie

Hans Dama

Geb. in Großsanktnikolaus/Banat, Rumänien. Studium der Germanistik, Rumänistik, Pädagogik, Geographie und Wirtschaftskunde in Temeswar, Bukarest und Wien. Rumänist am Institut für Romanistik der Universität Wien.

Publikationen:

In zahlreichen deutschen, österreichischen, ungarischen, rumänischen, spanischen und mexikanischen Zeitschriften sowie in Anthologien veröffentlichte Dama Lyrik, Kurzprosa und Essays sowie Übersetzungen aus der rumänischen Lyrik (Lucian Blaga, George Bacovia, Nichita Stãnescu, Anghel Dumbrãveanu u. a.). In den USA wurden zwei seiner Gedichte vertont.

Veröffentlicht

2011-12-14

Ausgabe

Rubrik

Theater