Bettina Papenburg: Das neue Fleisch. Der groteske Körper im Kino David Cronenbergs.

Bielefeld: transcript 2011. ISBN 978-3-8376-1740-5. 208 S. Preis: € 27,80.

Autor/innen

  • Magdalena Fürnkranz

Abstract

Das Œuvre des kanadischen Regisseurs David Cronenberg ist durchaus als umfangreich zu bezeichnen. Es schafft eine in sich oszillierende Verknüpfung zwischen psychologischen Aspekten des Horrorgenres und anormalen Körperbildern. Populärkulturell bezeichnet als 'King of Venereal Horror' eröffnet Cronenberg eine neue Lesart des bereits von François Rabelais beschriebenen und von Michail Bachtin entwickelten Begriffs des 'grotesken Körpers'. Bettina Papenburg geht einen Schritt weiter und erklärt mittels des von ihr entworfenen Konzepts des 'neuen Fleisches' das Werk des Regisseurs.

Die klassische Trennung von Natur und Kultur wird durchbrochen, klare Grenzen verschwinden. Die Frage, inwieweit Körperbilder – die sich jenseits jeglicher Norm befinden, jedoch gleichzeitig eine sinnliche Komponente ausstrahlen – Einfluss auf die Bewertung von Kulturtechnologien nehmen, versucht die Autorin durch ein Close Reading der Filme zu beantworten. Papenburg sieht in den Darstellungen von Grenzverwischungen, Unschärferelationen und Übergängen zwischen klassifikatorischen Kategorien das Fundament der Interpretation. Hierbei werden die Filme The Brood (CDN 1979), Crimes of the Future (CDN 1970), Crash (CDN 1996), eXistenZ (CDN 1999) und Videodrome (CDN 1992) zur Analyse herangezogen.

Das neue Fleisch. Der groteske Körper im Kino David Cronenbergs unterteilt Cronenbergs 'neues Fleisch' in Kopfgeburten und Maschinenphantasien. Die 'Körper' in The Brood und Crimes of the Future zählen zu der ersten Kategorie, während die 'Körper' in Filmen wie Crash, eXistenZ und Videodrome zu Teilen der Maschinenphantasien werden. Vorab muss der Begriff des 'neuen Fleisches' definiert werden. Dessen Ursprung sieht Pappenberg in der Bibel, genauer gesagt bei Johannes, dessen Worte "und das Wort ward Fleisch" vom Protagonisten in Videodrome in "You have become the video word made flesh" (S. 8) umgewandelt werden. Die enge Verbindung zwischen dem menschlichen Körper und technischer Ausstattung führt zu einer Verformung des Organismus. Cronenberg setzt die Technologie bewusst an die Stelle religiöser Praktiken. Die Verbindung zwischen Kultur und Natur wird aufrechterhalten, jedoch unterzieht sich der kulturell codierte Körper technologischer Einflüsse, wird partiell durch Unterhaltungstechnologien, den Einfluss von Drogen oder medizinische Versuchen re-konfiguriert. Die Protagonisten zeichnen sich durch ein verformtes Innenleben aus; der deformierte Körper erreicht durch Mutationen – wie der Bildung von 'neuen Organen' – eine neue Stufe der Deformierung. Die Metapher des 'grotesken Körpers' erschließt einen kulturanthropologischen Zugang zur Darstellung von Körperbildern und deren sinnlicher Wahrnehmung im Film. Papenburg stützt sich mit dem Begriff 'grotesk' auf Michail Bachtin. Das Groteske wird als generative Form der Subversion verstanden, die mit dem Einsatz des Körpers bestehende Machtkonstellationen herausfordert.

Die von Papenburg ausgewählten Filme inszenieren Protagonisten, die körperliche Metamorphosen durchlaufen. Der gesunde, normale Körper wird in einen deformierten, grotesken Körper transformiert. Nicht nur der äußere Korpus, auch der mentale Zustand der Deformierten unterliegt einer Metamorphose zum Grotesken hin. Der 'groteske Körper' gilt als Möglichkeit kultureller Zustände, gültig für verschiedene historische Epochen und diverse Medialisierungsformen. Dieses Körperbild wird zum Mittel des filmischen Protestes gegen die Sterilität und Inhumanität der modernen Wissenschaft und den beschönigten Glauben an die Omnipotenz der technischen Innovationen des ausklingenden 20. Jahrhunderts. Der 'groteske Körper' gilt als Zugmittel der Cronenberg'schen Technikkritik und verweist auf mögliche Schreckensszenarien einer nahende Zukunft, dominiert von Wissenschaftstechnologien. Cronenberg setzt diese Form der Verkörperlichung bewusst als filmische Karikatur gesellschaftlicher Machtverhältnisse ein.

Aufbauend auf einem theoretisch-filmwissenschaftlichen Teil analysiert Papenburg Beispiele aus dem Œuvre Cronenbergs, anhand derer die Ergebnisse der theoretischen Überlegungen verifiziert werden können. Der erste Buchteil mit dem Titel "Kopfgeburten" behandelt körperliche Verformungen, bedingt durch wissenschaftliche Techniken. "Maschinenphantasien" demonstriert Resultate intimer Verbindungen von menschlichen Körpern mit technologischen Geräten. Papenburg unterlegt jedes Unterkapitel mit eigenen, zu der jeweiligen Thematik passenden Untertiteln, um bereits vorab einen Einblick in den jeweiligen Forschungsabschnitt zu geben.

Die Überschrift "The Brood: Ausgelagerte Organe" leitet den ersten Buchteil ein. Papenburg verweist vorweg auf die Namensallegorien im Werk Cronenbergs, die in The Brood eine bedeutende Rolle spielen. Neben den klingenden Namen spricht die Autorin auch den biografischen Hintergrund an – während der Entstehung des Filmes kämpfte Cronenberg um das Sorgerecht für seine Tochter aus seiner ersten Ehe –, der zum Entstehen des Filmes beigetragen haben soll. In diesem Kapitel verdeutlicht die Autorin sechs Aspekte des 'grotesken Körpers', die sich zu einem 'Kranz der Begriffe' zusammenschließen lassen. Bestehend aus dem schwangeren Tod, der Unabgeschlossenheit des Materiell-Leiblichen, der Heterogenität, der Transformation des Körpers, der Umkehrung von Oben und Unten und der Transgression ist der 'Kranz der Begriffe' für die Autorin erweiterbar. Dieser wird nach Papenburgs Definition im weiteren Analyseverlauf immer wieder zur Skizzierung und Ausdifferenzierung der einzelnen Filme verwendet. Das zweite Kapitel "Crimes of the Future: Ausweitungen des grotesken Körpers" (S. 59–84) beschäftigt sich mit jenem Avantgardefilm, der zu Cronenbergs frühem Werk zählt. Eine doppelt deutbare Ausführung des grotesken Körpers – einerseits auf wissenschaftlicher Ebene, andererseits auf narrativer Ebene – findet hier statt. Papenburg verdeutlicht Cronenbergs Idee des 'neuen Fleisches' anhand von ausgewählten Figuren-/Patientendarstellungen und deren Krankheitsbildern in Crimes of the Future.

Der zweite Buchteil, "Maschinenphantasien", behandelt drei Filme aus dem Werk Cronenbergs. Das Kapitel "Crash: Ekel und Erotik" (S. 87–112) zeigt auf, wie der Anblick von verstümmelten Körpern nicht nur Ekel und Abscheu bei den Rezipierenden hervorruft, sondern gleichzeitig als sexueller Stimulus funktionieren kann. Durch Schnitt und Montagetechnik nähert sich die Maschinenbewegung den menschlichen Körperbewegungen an. Bewegungsabläufe sind nicht mehr unterscheidbar. Papenburg geht auf die Kameraführung ein. "Cronenberg spielt mit einer weiteren Dopplung der Kamera. Er dupliziert die Filmkamera in Form der Fotokamera. Die Fotokamera wird von dem Alter Ego des Protagonisten zur Dokumentation von Verkehrsunfällen, von erotischen Szenen wie auch von Wunden und Narben, die den Körper im Resultat von Unfallverletzung zeichnen, benutzt." (S. 100).

Das Kapitel "eXistenZ: Cyborgs als groteske Körper" (S. 113–145) setzt sich mit dem Aspekt des Gamings auseinander. Papenburg wirft die Frage auf, ob die Spielkonsole ein reiner Gebrauchsgegenstand sei oder doch die Funktion eines Lebewesens habe. Nach einem Exkurs über die sexuellen Komponenten der Kulturtechnik des Computerspielens wird das Kapitel mit einem Einblick in Donna Haraways Manifest für Cyborgs abgerundet. Der zweite Buchteil wird mit dem Kapitel "Videodrome: Kopplung von Mensch und Maschine" (S. 147–193) beschlossen. Cronenberg übt Medienkritik mithilfe von ironischen Komponenten; der 'groteske Körper' wird das Medium der Kritik. Die Autorin interpretiert den Fernsehbildschirm als Netzhaut des geistigen Auges, als Teil des menschlichen Körpers, der in den humanen Wahrnehmungsprozess eingebunden werden muss. Der Einsatz von Maschinen stilisiert diese nicht zum Ersatzteil, sondern lässt sie eigenständig agieren, im positiven wie auch im negativen Sinn.

Der 'groteske Körper' bei Papenburg stützt sich auf die Ausführungen Michail Bachtins. Dieser sah den Höhepunkt der Entwicklung dieser Begrifflichkeit bei François Rabelais. In der Deutung von Rabelais' Novelle Gargantua und Pantagruel findet Bachtin das Konzept des 'grotesken Körpers' wieder. Die Autorin greift diese Begrifflichkeit auf, führt sie für die Leserschaft verständlich aus, schafft jedoch keinen direkten Vergleich des Rabelais'schen Werks mit dem Œuvre Cronenbergs. Der ausführliche theoretisch-filmwissenschaftliche Prolog, in dem Papenburg neben einer detaillierten Einführung zum 'grotesken Körper' auch kulturwissenschaftliche Begriffe wie 'Bricolage' definiert, Béla Balázs Ausführungen zu den Darstellungen des menschlichen Körpers behandelt und auch auf Donna Haraways 'Cyborg' eingeht, positioniert die Thematik von Das neue Fleisch. Der groteske Körper im Kino David Cronenbergs im film- und kulturwissenschaftlichen Kontext.

Die Autorin formuliert vor jedem der ausgewählten Filme einen groben Einstieg in die Thematik, der die darauffolgende wissenschaftliche Vorgangsweise greifbar macht. In jedem Unterkapitel finden sich neue theoretische Ansätze wieder, die jedoch nicht immer zu einem befriedigenden Resümee führen. So werden die Ausführungen zu eXistenZ im filmdiegetischen zweiten Drittel abrupt unterbrochen, um in einen Exkurs über Donna Haraways Manifest für Cyborgs überzugehen. Abbildungen von Film Frames und daraus resultierende Close Ups stützen Papenburgs Forschungsergebnisse. Dennoch ist es hilfreich, die genannten Filme zu kennen, um die Verbildlichung des 'neuen Fleisches' detailliert nachvollziehen zu können.

Autor/innen-Biografie

Magdalena Fürnkranz

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Gender Studies in Wien (2004-2008). Diplomarbeit über die weibliche Ästhetik im Werk Oscar Wildes. Doktoratsstudium der Philosophie (2008-2015). Dissertation über die De/Konstruktion weiblicher Herrschaft im Film anhand der Figur Elizabeth I. von England. Tätigkeiten im Bereich des freien Kulturjournalismus und in der PR-/Pressearbeit in der Wiener Off-Szene. Von 2013-2015 Universitätsassistentin (prae doc) am Institut für Popularmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), sowie Projektmitarbeiterin beim Forschungsprojekt "Performing Diversity". Seit 1. Mai 2016 Senior Scientist ebenda.  

Als Mitinitiatorin des PopNet Austria Organisation des seit 2014 jährlich stattfindenden interdisziplinären Symposions zur Popularmusikforschung in Österreich an der mdw.

Publikationen:

Ausgewählte Veröffentlichungen:

Magdalena Fürnkranz/Ursula Hemetek (Hg.): Performing Sexual Identities. Nationalities on the Eurovision Stage. Sammelband zum gleichnamigen Symposion an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Wien 2017. 

Magdalena Fürnkranz/Harald Huber: "Performing Diversity". In: Samples. Online-Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung. http://www.aspm-samples.de/. Ausgabe 2/2017. 

Magdalena Fürnkranz: Notes on Wurst. Versuch einer feministischen Sichtweise auf ein queeres Phänomen: Conchita Wurst. erschienen in skug #102, April 2015.

Magdalena Fürnkranz: "This is the Lord's doing, and it is marvellous in our eyes".

Die De-/Konstruktion der Weiblichkeit der Königin Elizabeth I. von England in der (audio-) visuellen Kultur. Beitrag im Tagungsband zum 26. Österreichischen Historikertag 2012. St. Pölten, 2015.

Magdalena Fürnkranz: "Verschwendete Jugend(en). Von DAFs Opus über Jürgen Teipels Versuch einer posthumen Dokumentation bis hin zu Benjamin Quabecks filmischer Dystopie." In: Punk in Deutschland. Hg. von Martin Seeliger/Philipp Meinert. Bielefeld 2013.

Veröffentlicht

2011-12-14

Ausgabe

Rubrik

Film