Jean-Luc Godard: Film Socialisme. Dialoge mit Autorengesichtern.

Übers. a. d. Französischen v. Ellen Antheil/Samuel Widerspahn. Zürich: diaphanes 2011. ISBN 978-3-03734-159-9. 122 S. Preis: € 10,–.

Autor/innen

  • Magdalena Fürnkranz

Abstract

War es nicht Jean-Luc Godard, der bereits in seinem 1967 erschienenen Film Week-End auf einer Texttafel am Ende des Films nicht nur dessen, sondern gleich auch das 'Ende des Kinos' ankündigte? Ein halbes Jahrhundert später beginnt sich das breitgefächerte Œuvre Godards zu schließen. Gilt Histoire(s) du cinéma (1998) wahrscheinlich als Hauptwerk seiner Spätphase, stößt Film Socialisme (2010) an die experimentellen Grenzen der Kommunikation. Das Buch Film Socialisme. Dialog mit Autorengesichtern ist nicht nur der Versuch einer Reflexion des gleichnamigen Films Godards, sondern gleichzeitig die mögliche Montage einer europäischen Identität.

Bei der Premiere von Godards angekündigtem Schlusswerk Film Socialisme wollte der Regisseur 2010 in Cannes auf jegliche Untertitel verzichten. Unkommentiert sollten die vielsprachigen Assoziationen zur Geltung kommen. Auf Anraten der Festivalleitung entschied sich Godard schlussendlich, mit nur zwei bis drei Schlagwörtern in englischer Sprache neue Verbindungen zu erzeugen. Somit wurde dem Publikum mehr Möglichkeit zur Interpretation geboten. Anders verläuft dies in Film Socialisme. Dialog mit Autorengesichtern. Durch die von Ellen Antheil und Samuel Widerspahn vorgenommene Übersetzung ins Deutsche werden die Dialogfetzen sinngemäß verständlich; dennoch tauchen immer wieder anderssprachige Elemente auf wie etwa: "Schweigen ist Gold […] bingo, bingo, bingo. Quarante-quatre! Forty-three! Quarante-trois!" (S. 23). Die deutsche Übersetzung setzt Mehrsprachigkeit nicht voraus. Der Kontext trägt zum sinngemäßen Verständnis auch ohne ausreichende Kenntnis von Fremdsprachen bei. Vielmehr fühlen sich die Lesenden, gestützt von der gelungen Übersetzung in die deutsche Sprache, als Teil von Godards Montage.

Film Socialisme wird als ein kaleidoskopisches Mosaik aus Bildern, Tönen und Sprachen beschrieben, eine 'symphonie en trois mouvements'. Godard arbeitet mit fragmentierten Narrationen, vermehrt kommt es zur Anwendung des Verfahrens der 'mise en abyme'. Lose Dialoge, die Montage von Texten und Bildern geben Film Socialisme einen postmodernen Beigeschmack. Besonderes Augenmerk legt der Auteur auf die Mehrsprachigkeit Europas, bildet diese doch den Grundstein zur Bildung einer europäischen Identität. Die Entscheidung, ob Godard beim Versuch, eine europäische Identität zu kreieren – genauer gesagt zu montieren – scheitert, überlässt er seinem Publikum.

Film Socialisme. Dialog mit Autorengesichtern stößt sich nicht an seinem filmischen Ursprung, sondern textualisiert diesen. Das Buch bietet ungeahnte Möglichkeiten zur eigenen kritischen Reflexion, die die Leinwand nicht ausschöpfen kann. Beginnend mit den Worten "Geld ist ein öffentliches Gut" (S. 5) dechiffriert es Godards plurilinguale Kapitalismuskritik. Den Lesenden werden mit einfach gehaltenen, dennoch beinahe schon als philosophisch zu bezeichnenden Aussagen nicht nur die Werte des Auteurs vermittelt, sondern gleichzeitig Denkanstöße gegeben. Die darauffolgenden Textfragmente werden unterbrochen von dem Aufruf "Vamos Vamos Vamos Onkel Matthias warum hast du gesagt dass sie Gold wert ist Diese Uhr Die zeigt nicht mal an wie spät es ist" (S. 6). Ein Zwischentitel, tituliert mit 'DES CHOSES', vollendet die Sequenz. Immer wieder werden zusammenhängende Textsegmente von Zwischentiteln – wie einer übermalten Version von 'DES CHOSES' – oder Bildern von historischen und zeitgenössischen Inspirationsquellen wie Patti Smith oder Beethoven unterbrochen. Seinen Höhenpunkt erlangt Film Socialisme. Dialog mit Autorengesichtern mit dem Zwischentitel 'QUO VADIS EUROPA' ganz bewusst ohne Interpunktion. Godards Antwort – so ernüchternd sie auch sein mag – findet sich in der Aussage "Das fragt man dich alles nicht Papa" (S. 41) wieder.

Während Film Socialisme mit der knappen Texttafel 'NO COMMENT' endet, geht Film Socialisme. Dialog mit Autorengesichtern noch einen Schritt weiter. Sowohl mit maschinengeschrieben, als auch handschriftlichen Notizen werden Erinnerungen von dem und an den jungen Jean-Luc Godard (abgekürzt mit JLG) wiedergegeben und die Zusammenhänge der Begriffe Sozialismus und Film erörtert. Die Reproduktion eines neunseitigen handgeschriebenen Briefes des Autors und Philosophen Jean-Paul Curnier an Godard bietet abschließend den Anstoß zur eigenen Reflexion über den möglichen Zusammenhang der Begriffe Film und Sozialismus. Kann oder darf es einen sogenannten 'Film Socialisme' geben? Zwischendurch gibt es immer wieder geschwärzte Passagen; Godard macht seinem 'Gefolge' bewusst nicht alles lesbar. Curniers Grundaussage impliziert einen notwendigen Zusammenhang zwischen Film und Sozialismus im beginnenden 21. Jahrhundert. "Durch die Überschrift Film 'Socialisme' drängt sich mir als Titel auf: 'Film-Socialisme', ein (bis auf die Grenzen des Möglichen) zusammengesetztes Wort. Und dieser Titel kündigt gewissermaßen Folgendes an: Es wird keine Repräsentation in diesem Film geben; weder des Kinos noch des Sozialismus noch dessen, was das eine oder der andere sein könnten oder sollten. Und auch nicht dessen, was aus ihnen geworden ist" (S. 108).

Godard entlässt sein Publikum kommentarlos aus Film Socialisme. 'NO COMMENT' ziert die letzte Texttafel; vielleicht in Anspielung auf das Kulturkurzprogramm No comment des TV-Sender Euronews. Möglicherweise spiegelt es auch Godards mediale Unlust, gekennzeichnet durch seine Abwesenheit bei der Premiere des Films, wider. Wie bereits erwähnt, bietet Film Socialisme. Dialog mit Autorengesichtern mehr Spielraum zur Reflexion. Hierbei ist besonderes Augenmerk auf Curniers abschließenden Beitrag zu legen. "Eine Frage also: Könnte dieser Film ein Moment des Sozialismus sein? Ohne jeden Zweifel. Aber in dem Sinne, wie es Sozialismus nur als Reserve oder Ressource gibt" (S. 110). Der Philosoph sieht seinen Brief als stummes Gespräch, das er mit Godard führt. Inwieweit die Begriffe Film und Sozialismus interagieren oder doch divergieren, den Raum eines möglichen Europas schaffen, bleibt dem eigenen Gedankenraum überlassen. Film Socialisme. Dialog mit Autorengesichtern wird zum kompakten Dossier für Jean-Luc Godards (hoffentlich nicht) letzten Film.

Autor/innen-Biografie

Magdalena Fürnkranz

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Gender Studies in Wien (2004-2008). Diplomarbeit über die weibliche Ästhetik im Werk Oscar Wildes. Doktoratsstudium der Philosophie (2008-2015). Dissertation über die De/Konstruktion weiblicher Herrschaft im Film anhand der Figur Elizabeth I. von England. Tätigkeiten im Bereich des freien Kulturjournalismus und in der PR-/Pressearbeit in der Wiener Off-Szene. Von 2013-2015 Universitätsassistentin (prae doc) am Institut für Popularmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), sowie Projektmitarbeiterin beim Forschungsprojekt "Performing Diversity". Seit 1. Mai 2016 Senior Scientist ebenda.  

Als Mitinitiatorin des PopNet Austria Organisation des seit 2014 jährlich stattfindenden interdisziplinären Symposions zur Popularmusikforschung in Österreich an der mdw.

Publikationen:

Ausgewählte Veröffentlichungen:

Magdalena Fürnkranz/Ursula Hemetek (Hg.): Performing Sexual Identities. Nationalities on the Eurovision Stage. Sammelband zum gleichnamigen Symposion an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Wien 2017. 

Magdalena Fürnkranz/Harald Huber: "Performing Diversity". In: Samples. Online-Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung. http://www.aspm-samples.de/. Ausgabe 2/2017. 

Magdalena Fürnkranz: Notes on Wurst. Versuch einer feministischen Sichtweise auf ein queeres Phänomen: Conchita Wurst. erschienen in skug #102, April 2015.

Magdalena Fürnkranz: "This is the Lord's doing, and it is marvellous in our eyes".

Die De-/Konstruktion der Weiblichkeit der Königin Elizabeth I. von England in der (audio-) visuellen Kultur. Beitrag im Tagungsband zum 26. Österreichischen Historikertag 2012. St. Pölten, 2015.

Magdalena Fürnkranz: "Verschwendete Jugend(en). Von DAFs Opus über Jürgen Teipels Versuch einer posthumen Dokumentation bis hin zu Benjamin Quabecks filmischer Dystopie." In: Punk in Deutschland. Hg. von Martin Seeliger/Philipp Meinert. Bielefeld 2013.

Veröffentlicht

2012-06-21

Ausgabe

Rubrik

Film