Ulf Otto: Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien.

Bielefeld: transcript 2013. ISBN 978-3-8376-2013-9. 324 S. Preis: € 29,80.

Autor/innen

  • Klaus Illmayer

Abstract

Unbestreitbar ist wohl, dass die Nutzung des Internets das auffälligste Phänomen der durch die Digitalisierung angestoßenen bzw. sie begleitenden gesellschaftlichen Veränderungen ist. Längst mehr als eine technische Spielerei, interagieren weite Teile der Welt in sozialen Netzen und es äußert sich ein vielstimmiger Chor, dessen Äußerungen manche Dys- und Utopien hervorrufen. Dass ein solches Szenario die Notwendigkeit wissenschaftlicher Auseinandersetzung nach sich zieht, sollte einleuchten. Trotzdem gibt es eine zu beobachtende Zurückhaltung in vielen universitären Fächern, wenn es gilt, einen angemessenen Umgang mit den durch das Internet induzierten Veränderungen ihrer Untersuchungsgegenstände zu finden.

Zwar versteht sich die deutschsprachige Theaterwissenschaft in Teilen als eine mit Medienwissenschaft assoziierte Fachkonstellation, doch sind bis dato bemerkenswert wenige monographische Auseinandersetzungen mit Formen des 'Theatralen' im Medium Internet erschienen. Eine Verbesserung dieses Zustands verspricht nicht nur die vorliegende Untersuchung von Ulf Otto, sondern z. B. auch die im Mai 2013 veranstaltete Konferenz "Theater und Netz" von nachtkritik.de. In den USA ist diese Diskussion viel weiter fortgeschritten (z. B. Steve Dixon/Barry Smith: Digital Performance. A History of New Media in Theater, Dance, Performance Art, and Installation, 2007. Vgl. auch das umfangreiche Literaturverzeichnis bei Ulf Otto). Zudem durchweht die deutschsprachige Theaterwissenschaft oft eine übertriebene Skepsis gegenüber virtuellen Räumen. Dies ist nicht nur einer abwartenden, sondern zumeist einer ablehnenden Haltung geschuldet. Ein Umstand, den Ulf Otto in seiner 2011 approbierten Dissertation, die nun als Publikation erschienen ist, zum Thema macht.

In seiner Untersuchung versucht der Autor einerseits Internetauftritte, die er in einer Verwandtschaft zu Auftritten im Theater begreift, als Untersuchungsgebiet für die Theaterwissenschaft zu etablieren, andererseits möchte er mit den methodischen Mitteln des Faches eine "Theatergeschichte der neuen Medien" schreiben. Diese umfassende Aufgabe gelingt nur zum Teil, trotz einiger von Otto herausgearbeiteter, wichtiger Beobachtungen und Schlussfolgerungen.

Als besonders gelungen sind Ottos Erkenntnisse hinsichtlich des Verhältnisses von Theaterwissenschaft und Internet hervorzuheben, die er im Verlauf des Buches darlegt. Der theaterwissenschaftliche Diskurs enthält dazu einige Fallen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn die Frage nach realen und virtuellen Körpern aufgeworfen wird. Denn die kommunikative Situation im virtuellen Raum Internet steht diametral der weitverbreiteten Auffassung gegenüber, die das Untersuchungsfeld Theater als Ort der 'leiblichen Ko-Präsenz' markiert, an dem sich die physisch-realen Körper von Akteur_innen und Publikum treffen.

Im ersten Drittel der Arbeit ist es das Anliegen Ottos aufzuzeigen, dass dem nicht so sein muss (Kapitel 1: "Auftritte. Ostentative Differenzierungen" und Kapitel 2: "Antimedium. Grenzsetzungen der Theaterwissenschaft"). Mit Rückgriff auf die Gründungsgeschichte des Faches im deutschsprachigen Raum – wobei er sich hauptsächlich auf Max Herrmann bezieht – zeigt er die Eingrenzung des Feldes Theater durch die Konstruktion und Anwendung des Analysebegriffs 'Aufführung' auf. Damit werde zwar die Abgrenzung zum Drama und in weiterer Folge die disziplinäre Trennung von der Literaturwissenschaft ermöglicht; zugleich würden damit aber bestimmte theatrale Situationen bevorzugt, was sich angesichts der Entwicklung der letzten Jahrzehnte als kontraproduktiv erweise. Mit der vorrangigen Behandlung des bürgerlichen Kunsttheaters als direkter Folge dieser Setzung, werde die Opposition zu davon divergierenden theatralen Praktiken in das Fach eingeschrieben. Auf dieser Basis lässt sich schwerlich eine Analyse von Internettheater vornehmen, also Theater, welches von der Form her eng mit dem Internet verbunden ist (weil es sich gänzlich oder zum notwendigen Teil dem technischen Rahmen unter- oder in ihn einordnet). Otto plädiert daher für eine Fokussierung auf 'Auftritte', statt dem Aufführungsparadigma zu folgen. Dieser Kniff erscheint auf den ersten Blick wie ein Etikettenschwindel. Tatsächlich ergibt sich daraus aber die Möglichkeit, einen breiten Theaterbegriff anzuwenden, ohne dabei große Verluste hinsichtlich der methodischen Überlegungen der Theaterwissenschaft hinnehmen zu müssen.

Unter einem Auftritt versteht Otto eine Aufmerksamkeit erregende konkrete Aktion, mit der es gelingt, eine Teilung zwischen Akteur_innen und Publikum hervorzurufen. Weil diese Definition nicht allein auf das Theater beschränkt sei, könne damit das Untersuchungsgebiet der Theaterwissenschaft methodisch konsistent erweitert werden. Dies erlaube es zudem, sich mit Internetauftritten aus einem spezifisch theaterwissenschaftlichen Blickwinkel zu beschäftigen. Was auch für das Fach notwendig sei, da sich mit der "fortschreitenden Digitalisierung der Kultur" zeige, dass das "Theatrale nicht einfach nur wieder mehr geworden zu sein [scheint], es hat vielmehr begonnen sich qualitativ zu verändern" (S. 220). Trotz dieser wichtigen Feststellung Ottos und der durchgängigen Verwendung des Begriffs des Auftritts bleiben konkrete Analysen von ausgewählten theatral-konnotierten Beispielen im Internet aber aus.

Stattdessen beschäftigt sich Otto in den letzten beiden Dritteln des Buches damit, eine Entwicklungsgeschichte des Internettheaters mit Rückgriff auf Theatergeschichte zu schreiben. Dazu zählen für ihn zunächst die frühen, vorrangig textuellen Erscheinungen des Chatroomtheaters (Kapitel 3: "Simtheatre. Kurze Geschichte des Internettheaters"), sodann Computerspiele (Kapitel 4: "Avatare. Theatrale Konfigurationen des Computerspiels") und schließlich Clips auf Videoplattformen wie YouTube, die er mit TV-Formaten wie Reality-Fernsehen vergleicht (Kapitel 5: "iHamlet. Von der Persona zur Personalisierung").

Dabei orientiert sich Otto an bekannten Etappen der Computerspieleentwicklung, was zu Analysen von World of Warcraft und Second Life führt. Auch für seine YouTube-Beispiele zieht er zumeist weitverbreitete Memes heran. Die wenigen Ausnahmen seiner an populären Beispielen orientierten Darstellung ergeben sich durch seinen Fokus auf Hamlet-Darstellungen im Internet. Anhand dieser vielfach interpretierten Theaterfigur zeigt Otto auf, wie die nötige Aufmerksamkeit für Internetauftritte durch die rege Anteilnahme von Kommentator_innen erzeugt wird. Bedingt durch die maschinelle Konfiguration bedeute im Internet Beteiligung zwangsläufig Aktivierung. Otto weist darauf hin, wie sehr dies in Übereinstimmung zu bringen sei mit Performancekunst, in der die Auflösung der starren Zuteilung von Publikum und Künstler_innen ein bestimmendes Paradigma darstelle.

Zugleich äußern sich in vielen Internetauftritten neoliberale Subjektvorstellungen, die nach Otto auch auf eine grundlegende Veränderung im theatralen Gefüge verweisen: Die Darstellung von Persönlichkeiten auf der Bühne werde abgelöst durch eine Personalisierung von Figuren. Die Avatare im Internet seien dabei der deutlichste Ausdruck einer vermehrten Anwendung von Techniken der Selbstkonfiguration durch die Darsteller_innen: "So wird der Auftritt im Internet zu einem konfigurativen Privattheater, das den Anschein des Menschlichen im wiederholten Opfer der Unschuld wahrt und das Theatrale nur noch simuliert" (S. 264).

Trotzdem (oder deswegen) finden sich, wie Otto aufzeigt, in aktuellen Debatten vormoderne Fantasien wieder, die sich als Sehnsucht nach der Herstellung unmittelbarer, Entfremdung überwindender gemeinschaftlicher Situationen äußere. Viele Simulationen von Theater im Internet würden sich der Methodik des bürgerlichen Theaters bedienen, da dieses in vergleichbare Diskurse eingebettet ist. In den von Otto ausgewählten YouTube-Videos etwa finden sich Versatzstücke der Gattung Trauerspiel. Für die Bestimmung des Verhältnisses von Theaterwissenschaft und Internet sei bedeutend, dass das Kunsttheater "als bürgerliches Ideal und Ideologie auch jene Technologien [prägt], die nicht mit ihm zu tun haben wollen, es verklärt das Computerspiel und drängt ins Internet" (S. 268).

Bei diesen bedeutenden Beobachtungen überrascht es dann doch, dass sich Otto über weite Strecken hinweg auf Beispiele verlässt, die allein in Medium Internet stattfinden. Mischformen hingegen werden von ihm weitgehend ausgeklammert, obwohl sich gerade daran seine Thesen überprüfen ließen. Dazu würden Arbeiten von netzaffinen Theatergruppen wie Gob Squad oder Aktionen von Netzkunstgruppen wie The Yes Men zählen. Die reflexive Darstellung zu Beginn des Buches weicht hierbei im Verlauf der Darstellung mehr und mehr einer faszinierten Beschreibung von spezifischen Internetphänomenen. Das zeigt sich in Ottos fehlender kritischer Auseinandersetzung mit den eigenen Auswahlkriterien, wodurch die durch das Medium hervorgebrachte Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit, die beständig neue unvorhergesehene Gebrauchsweisen produziert, zu wenig zum Thema wird.

So bereichert das Buch zwar mit vielen Denkanstößen, lässt die Leser_innen aber hinsichtlich einer Definition von Internettheater und der nicht immer nachvollziehbaren Anwendung des Auftrittsmodells etwas ratlos zurück. Verdienstvoll hingegen ist der nachdrückliche Hinweis darauf, dass die Theaterwissenschaft um eine veränderte Ausrichtung nicht umhin kommen wird, um dieses neue Untersuchungsfeld adäquat behandeln zu können. Als Ansatz verweist Otto darauf, dass sich auch im Internet jene vier Strukturformen von Theater wiederfinden ließen, die Rudolf Münz mit seinem Theatralitätsgefüge beschrieben hat – wenngleich dieses Modell nur zur Erstanalyse einlädt und weiterführende Untersuchungen einen angepassten Theorierahmen benötigen, der den Veränderungen durch die Digitalisierung Rechnung trägt. Ulf Otto vermag hierzu viele anregende Überlegungen anzustellen; eine konsistente Theoriebildung bleibt aber zunächst aus. Deren Entwicklung wird wohl auch die Aufgabe einer größeren Forscher_innengemeinschaft sein, die mit Ottos Untersuchung auf eine wertvolle Diskussionsgrundlage zurückgreifen kann. Diese sei zudem allen empfohlen, die sich theatralen Phänomenen in den neuen Medien und den dabei zu beobachtenden Widersprüchen zur 'herkömmlichen' theaterwissenschaftlichen Methodik nicht verschließen möchten.

Autor/innen-Biografie

Klaus Illmayer

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Mitarbeit an der Ausstellung "'Wissenschaft nach der Mode'? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943" (2007/08). Diplomarbeit zum Thema Reetablierung des Faches Theaterwissenschaft im postnazistischen Österreich (2009). Derzeit Arbeit an einer Dissertation mit dem Arbeitstitel TheaterMedienWissenschaft. Mediendiskurse in der Theaterwissenschaft.

Veröffentlicht

2013-12-12

Ausgabe

Rubrik

Theater