Rebecca Schneider: Theatre and History.
Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014. (Theatre and: 25) ISBN 978-0-230-230-20327-3. 116 S. Preis: € 9,54.
Abstract
Der Einfluss und die Auswirkungen des um die Jahrtausendwende einsetzenden und ungebrochen anhaltenden Geschichtsbooms haben auch in der Theaterwissenschaft eine verstärkte Auseinandersetzung mit historischen Themenkomplexen nach sich gezogen.
Davon zeugt nicht zuletzt eine Reihe von neuen und neuesten Publikationen wie Freddie Rokems Geschichte aufführen[1] oder der von Günther Heeg herausgegebene Sammelband Reenacting History. Theater & Geschichte.[2] Rebecca Schneider widmet sich in ihrer aktuellen Publikation Theatre and History nun der grundsätzlichen Frage der Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Felder sowie den ihnen inhärenten interdisziplinären Aspekten.
Es mag erstaunen, dass ein für die Diskussion über den interdisziplinären Charakter des Theaters essentielles Themengebiet wie Geschichte erst als Band 25 Aufnahme in die im Palgrave Macmillan Verlag herausgegebene Reihe "Theatre and" findet, während Themenkomplexe wie Interkulturalität, Irland oder Gefängnis in ihrer Relation zu Theater bereits vor Jahren untersucht wurden. Dies ist möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass es sich bei Theater und Geschichte um ein derart umfangreiches und vielschichtiges Beziehungsgeflecht handelt, das auf den ersten Blick kaum in einem schmalen Paperback-Bändchen abzuhandeln möglich scheint. Und auch wenn die vermeintliche vorweggenommene Conclusio hier lautet, dass es nur bedingt möglich ist, so muss dennoch gleichzeitig hinzugefügt werden, dass eine vollständige Analyse auch nicht Sinn und Zweck des Buches ist. Es handelt sich hier, so die Autorin, weder um einen theaterhistorischen Text noch um einen Text über Theatergeschichte, sondern vielmehr um "a book balancing in the sometimes awkward overlapping spaces between the practices, between the disciplines, between the ideas and the ends of theatre and history" (S. 2).
Rebecca Schneider nähert sich dem Themenkomplex, indem sie sich vorab eingehend den einzelnen im Buchtitel vertretenen Begriffen widmet – wobei sie hier zuerst auf das Schwellenwort "and" eingeht. Und in diesem scheinbar so simplen Wort offenbart sich bereits die Schwierigkeit des ganzen Unterfangens: Das "und" stellt eine Verbindung dar zwischen den beiden Begriffen, es sagt jedoch nichts über die Art der Verbindung aus und öffnet dadurch den Bedeutungszusammenhang von Theater UND Geschichte. Dass es sich bei diesen beiden Praktiken nur auf den ersten Blick um zwei gänzlich gegenteilige Disziplinen handelt, wird schnell deutlich gemacht. Einer der wesentlichsten Unterschiede der beiden Fach- bzw. Kunstrichtungen liegt offensichtlich in ihrer jeweiligen Relation zur Zeit. Während das Theater im 'Hier und Jetzt' verortet ist und durch den Live-Aspekt der Aufführung charakterisiert wird, definiert sich die Geschichtswissenschaft durch ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Diese augenscheinliche Differenz erhebt Schneider jedoch im nächsten Atemzug bereits zur ersten Gemeinsamkeit der beiden Disziplinen: "maybe the connection between theatre and history can be simple if we keep in mind one thing – time. Because theatre, like history, is an art of time. Even, we could say, the art of time" (S. 7).
Durch die Infragestellungen der beiden Termini Theater und Geschichte, bzw. des geläufigen Verständnisses dieser Begriffe erweitert Schneider die Diskussion über wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede. So wird beispielsweise anhand von Definitionen des Oxford English Dictionary gezeigt, dass sowohl Theater als auch Geschichte jeweils zwei wesentliche Bedeutungen haben: Geschichte bezeichnet demnach sowohl das Vergangene per se als auch die Aufzeichnung bzw. das Narrativ dieser Vergangenheit bzw. Geschichte. Ähnlich verhält es sich mit dem Theater, das als Wort sowohl die Aktion benennt als auch den Ort, in dem diese stattfindet. Schneiders Spiel mit diesen Termini zeigt die Diversität der Begriffe und die Schwierigkeiten einer klaren Definition – u. a. am Wort Theatralität – auf und erweitert dadurch den Blickwinkel auf die einzelnen Disziplinen in ihrer Praxis.
Die Abschnitte 'History and the theatre artist', 'The antitheatrical prejudice' und 'The anti-intellectual prejudice' richten sich vornehmlich an Studierende des Faches Schauspiel und versuchen, gängige Vorbehalte von Studierenden dieser Kunstsparte – auf die Schneider im Laufe ihrer Lehrtätigkeit als Professorin für Theatre Arts and Performance Studies immer wieder gestoßen ist – zu entkräften. Anhand anschaulicher Beispiele aus dem Berufsalltag junger Schauspieler_innen bricht die Autorin eine Lanze für das Studium der Theatergeschichte und die historischen Kontexte, in denen Dramentexte geschrieben oder verortet wurden. Denn Theatergeschichte, so Schneider, "can help you be, and remain, flexible" (S. 27) und "knowledge can only deepen your work" (S. 30). Mittels eines komprimierten Abrisses über wesentliche Schauspiel- und (Theater-)Geschichtstheorien (u. a. Meisner, Stanislawski, Collingwood, Roach) des 20. Jahrhunderts wird die Nützlichkeit – um nicht zu sagen: Notwendigkeit – eines breiten (theater-)geschichtlichen Wissens für den Beruf der Schauspieler_innen dargelegt. Aufgrund der stark selektiven Auswahl von Theorien und ihrer zum Teil extrem verkürzten Darstellung wird jedoch auch bei der allgemein interessierten Leser_innenschaft ein gewisses Grundwissen vorausgesetzt. Allerdings schafft es Schneider durch die wiederholten Bezüge zur Praxis der Geschichtswissenschaft, die Verbindung zwischen den Disziplinen aufrechtzuerhalten und auf unterschiedliche Arten neu zu beleuchten. Von besonderem Interesse erscheint dabei die erneut aufgegriffene Relation von Theater, Geschichte und Zeit. Dabei treffen Collingwoods Theorien über Reenactments in den 20er- und 30er-Jahren auf Stanislawskis Spielstiltheorie zum in der "time of the action" (S. 39) verorteten naturalistischen Schauspieler und Gertrude Steins Ansichten über divergierende Zeitsphären von Schauspieler_innen und Publikum.
In den folgenden Kapiteln setzt sich Rebecca Schneider mit dem Problem der 'realness' in der Geschichtswissenschaft und der Theaterpraxis auseinander. Dabei argumentiert sie u. a. mit Michel de Certeau und Hayden White, dass historische Narrative verbale Fiktionen seien – "the contents of which are as much invented as found" (S. 41) –, die mehr Gemeinsamkeiten mit der Literatur aufweisen würden als mit der Wissenschaft. Die Frage der 'realness' der Geschichtswissenschaft – im Gegensatz zu der dem Theater vorgeworfenen Künstlichkeit und Täuschung – wird auch auf die Quellen beider Disziplinen angewendet. Schneider plädiert dabei für die Anerkennung des Körpers als adäquates Wissensarchiv und gegen die Verdrängung des verkörperten Wissens, das u. a. im Ritual, Theater, Tanz, Sport, Gesang und Volkstum enthalten ist, durch eine Praxis der Geschichtsschreibung, die auf Dokumente und Objekte reduziert ist. Selbst die Oral History, die im 20. Jahrhundert einen signifikanten Bedeutungsaufschwung erfahren hat, würde, so Schneider, nur durch die Möglichkeit der technologischen Aufzeichnung und Konservierung Anerkennung erfahren, während der ursprünglichen Praxis der mündlichen Weitergabe von Person zu Person, von Generation zu Generation, weiterhin der Makel der Unvollständigkeit und Rekonstruktion anhafte. Natürlich könne nicht jegliche Information über die Vergangenheit durch den lebenden Körper abgerufen werden, aber ebenso könne nicht alles Wissen über die Vergangenheit in einem materiellen Archiv oder mittels technologischer Aufzeichnung gepflegt werden. Diese problematische Beziehung zwischen historischen Zeugnissen und dem lebendigen Körper und seinen Leidenschaften sei, so Schneider, wohl das verworrenste Problem hinsichtlich der Beziehung von Theater und Geschichte.
Im abschließenden Kapitel 'On knifes and blood' gibt Schneider mittels der Theorien von Jody Enders neue Denkanstöße hinsichtlich des Gegensatzpaares 'real' und 'fake'. Dabei werden sowohl römische Gladiatorenkämpfe, in denen die Gladiatoren als Spieler zum Wohlgefallen des Publikums ihren eigenen Tod mitinszenieren mussten als auch ein Beispiel einer Theaterinszenierung aus dem 16. Jahrhundert, in der ein zum Tode verurteilter Straftäter in der Rolle des Holofernes angeblich live enthauptet wurde, als Argumente für die 'realness' von theatralen Praktiken ins Feld geführt. Die Vermischung der Grenzen zwischen Realität und Täuschung sei, so die Autorin, jedoch nicht nur konstitutiv für das Theater, sondern auch für die Geschichtsschreibung von Nationen oder Gemeinschaften, in der für den jeweiligen Zweck vieles vergessen oder verändert wird: "To explore a nation's history, its construction and transmission as nation, is necessarily to engage in an analysis of the generative properties of false recall – of the (mis)telling in retelling – the 'real' as forged by the 'faux' – and this, it seems to me, suggests that the history of any nation is a theatre history" (S. 76).
Schneiders Gegenüberstellung von Theater und Geschichte, bzw. das Aufzeigen der vermeintlichen Gegensätze und manchmal verblüffenden Überschneidungen und Gemeinsamkeiten endet wenig überraschend in einem Plädoyer für interdisziplinäres Arbeiten, das neue Ideen, Theorien und Praktiken hervorbringen bzw. alte Ideen, Theorien und Praktiken wiederentdecken könne.
Wenngleich Schneider mit ihren Überlegungen und Argumenten viele Themen und Theorien oft nur anschneidet, ohne dabei in die Tiefe zu gehen, und manche essentiellen Themenkomplexe wie jenen des Gedächtnisses beinahe vollständig ausspart, so muss ihr doch zugute gehalten werden – und darin liegt der wesentliche Gewinn dieses schmalen Bändchens –, dass sie in dieser Kürze viele durchaus sehr spannende Denkanstöße für das Beziehungsgeflecht von Theater UND Geschichte liefert.
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[1] Freddie Rokem: Geschichte aufführen. Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater. Berlin: Neofelis 2012.
[2] Günther Heeg/Micha Braun/Lars Krüger/Helmut Schäfer (Hg.): Reenacting History. Theater & Geschichte. Berlin: Theater der Zeit 2014. (Recherchen: 109).
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