Howard Caygill/Martina Leeker/Tobias Schulze (Hg.): Interventions in Digital Cultures: Technology, the Political, Methods.

Lüneburg: Meson Press 2017. ISBN: 978-3-95796-110-5. 148 S., Preis: € 11,90.

Autor/innen

  • Julia Preisker

Abstract

Wie kann man in digitale Kulturen intervenieren? Wie eingreifen in soziale, politische und ökonomische Kontexte und wie technologische Bedingungen und Infrastrukturen verändern? Diese Fragen kreisen über den sich in Herangehensweise und inhaltlicher Schwerpunktsetzung stark unterscheidenden Beiträgen des 2017 erschienenen Sammelbandes Interventions in Digital Cultures, herausgegeben von Howard Caygill, Martina Leeker und Tobias Schulze. Der Titel verrät, welche zwei zentralen Begriffe hier abgetastet und befragt werden: Intervention und digitale Kultur. Beide dienen den Leser*innen als Orientierungshilfe, sich in der Perspektivenvielfalt der Beiträge nicht zu verlieren.

Die Einleitung gibt eine vage Vorstellung davon, wie die Herausgeber*innen Intervention und digitale Kultur zusammendenken. Es wird davon ausgegangen, dass Interventionen auf der einen Seite den Infrastrukturen digitaler Kulturen unterliegen, diese aber auf der anderen Seite zugleich mitkonstituieren. Bei der Herausarbeitung dieses wechselwirkenden Moments der gegenseitigen Beeinflussung setzt das Buch an. Beide – digitale Infrastruktur und Intervention – werden mit der hier als Schlüsselbegriff verstandenen 'resilience' gedacht, die zum einen die technologischen Angebote selbst zu Agent*innen macht und damit die Performativität beider, der Infrastrukturen sowie der Interventionen, nochmals betont. Zum anderen wird die selbstreferenzielle Komponente hervorgehoben, da weder die infrastrukturellen Angebote noch die auf den Plan gerufenen Interventionen als lösungsorientiert verstanden werden. Vielmehr konstituieren sie ein System von Adaptionen und verweisen auf weitere Aktivitäten. Die wechselseitige Bedingtheit führt wiederum zum Paradox, dass Interventionen in die infrastrukturelle Umgebung digitaler Kulturen eingebunden sind. Folglich ist jeder Eingriff in diese Strukturen immer auch eine Bestätigung dieser, ein "feeding, unwillingly, the whole-earth-data-network" (S. 15). Das Buch hat nun den Anspruch zu überprüfen, in welcher Weise widerständige Praktiken dann überhaupt noch möglich sind. Auf methodischer Ebene ermöglicht dieses Fragen, Interventionen genealogisch einzubetten und die Konzepte und Diskurse dahinter neu zu denken. Schlüsselbegriffe wie 'resilience' unterliegen hierbei sinnigerweise keiner eindeutigen Definition, sondern sind bewusst offengelassen, um allen in den Band eingebetteten Zugängen Raum zu geben.

Entsprechend fragen die Autor*innen bzw. Interviewten dann auch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven danach, wie Interventionen als Störfaktor eines Systems fungieren, wann sie jedoch in ebenjenes System eingespeist und damit "ad absurdum" (S. 88) geführt werden. Nicht alle Beitragenden beziehen sich explizit auf digitale Kulturen; eine Historisierung zieht sich als Schlüsselkomponente durch viele Herangehensweisen. Zugrunde liegt dabei das Verständnis von Interventionen als "activities that engage in social and political contexts […] hoping to interrupt critical situations and ultimately change social, economic, or technological conditions" (S. 11). Dennoch geben die Herausgeber*innen keine klare Definition, sondern sehen den Band als ein "experiment in fostering thinking in ambivalences" (S. 139), was allein aufgrund der vielfältigen Zusammenstellung der Beiträge durchaus gelingt.

Der erste Beitrag, ein Interview mit Fred Turner, stellt sogleich in einem historischen Vergleich das angeblich Neue in 'New Media' auf den Kopf. Turners These bezieht sich weniger auf eine technische, mehr auf eine gesellschaftskonstituierende Ebene, indem er Attribute wie egalitär, kollaborativ oder basisdemokratisch nicht allein dem digitalen Zeitalter zuschreibt, sondern Ideen eines gleichberechtigten Mediengebrauchs bereits in der us-amerikanischen Kurator*innenszene der 1940er-Jahre als Gegenentwurf zu "one-to-many media" wie das Radio oder die Zeitung (S. 23) sieht. Auch das problematische Demokratieverständnis hinter dieser 'unsichtbaren' Kuration ("some people know what is good for mankind better than others", S. 26) sieht Turner bereits dort begründet. Entsprechend warnt er davor, Interventionen mit künstlerischen Mitteln bereitwillig und unhinterfragt als kollaborativ zu verstehen, ohne ihre politisch relevante Geschichte mitzudenken.

In der Frage, wie sich diese historiografische Betrachtungsweise auf aktuelle künstlerische Interventionen in digitalen Kulturen übertragen lässt, wird dieser Freiheitsanspruch von Turner wieder aufgegriffen. Denn die Imagination der 1940er- und 1950er-Jahre "as free in that world" findet sich in zahlreichen Versprechen sogenannter Sozialer Netzwerke wieder. Doch analog dazu müsse auch jetzt wieder der Gedanke an freie, bedingungslose Entscheidungen kritisch hinterfragt werden, denn: "I am free, but I am free in terms that are constantly being negotiated and set for me invisibly by managers, who work for states and companies" (S. 38).

Turners Lösungsvorschläge sind insbesondere hinsichtlich des darauffolgenden Beitrags von Mitherausgeber Howard Caygill brisant. Denn während hier eine konstitutionelle Einmischung auf staatlicher Ebene denkbar wird, um die Macht des Oligopols digitaler Unternehmen zurückzudrängen, zeichnet Caygill die historische Entwicklung digitaler Netzwerke aus militärstrategischer Sicht nach.

Bezugnehmend auf Carl von Clausewitz' posthum veröffentlichtes Werk Vom Kriege fokussiert Caygill seine Betrachtungen auf die Fragestellung nach der Bedeutung von strategischer Intervention ("strategic intervention", S. 47). Die von ihm beschriebene Ausgangslage ist die Forderung seitens staatlicher Mächte nach dem alleinigen Vorrecht auf Geheimhaltung und Informationsbeschaffung (insbesondere über digitale Medien, hier "the Internet"), was zwingend den Verzicht dieses Anspruchs seitens der Zivilgesellschaft nach sich zieht (vgl. S. 47). Zwar leugnet Caygill die schon frühe Entwicklung eines non-hierarchischen, dezentralisierten Netzwerkes nicht, doch betont er die Bestrebungen um Verschlüsselung und geheime Datenverfolgung sowie Informationsübertragung, die einer egalitären Nutzung von vornherein widersprach und das Internet als "an arcanum or space of secrecy [Herv. i. O.] " (S. 54) kennzeichnet.

Alexander R. Galloway untersucht im Gespräch mit Martina Leeker die ambivalente Rolle der algorithmischen Bestimmung, die digitale Infrastrukturen offen und verschlossen zugleich erscheinen lässt. Die Frage bezüglich Interventionen richtet sich folglich nach den Möglichkeitsbedingungen widerständiger Praktiken innerhalb dieses ambivalenten Zustands (vgl. S. 62).

Konträr zu Caygill sieht Galloway im Digitalen durchaus einen Raum für politischen Widerstand und spricht sich für "electronic civil disobedience" aus, dem durchaus nicht ganz unproblematischen Leitsatz folgend: "The Power isn’t in the streets anymore" (S. 63). Konkrete Lösungen sind für Galloway sogenannte 'ad hoc networks', die außerhalb kommerzieller oder staatlicher Vermittlerpositionen funktionieren (S. 68). Widerständige Praktiken sind dabei als langfristige Projekte angelegt. Ein Gedankengang ist dabei besonders interessant: Obwohl digitale Kommunikation bereits auf Kürze und Schnelllebigkeit beruht, fordert Galloway diese weiter zu verkürzen und damit ein "network without data" zu konzipieren (S. 67), da lokal ohne weitere Vernetzung und Datenabgriff ausschließlich von Gerät zu Gerät kommuniziert werden könnte. Bezüglich der vieldiskutierten Algorithmen hinter digitalen Kulturen betont Galloway den Umstand, dass diese auf bestimmten Weltanschauungen basieren. Um ihre uniforme Darstellung zu durchbrechen, schlägt er vor, eben andere Perspektiven einzuschreiben, wie z. B. eine feministische und eilt damit Wendy Hui Kyong Chuns Betrachtungen voraus.

Im Vordergrund stehen auch in ihrem Beitrag die technologischen Bedingungen von Intervention in digitalen Kulturen. Chun spricht sich allerdings dafür aus, Interventionen auf allen Ebenen zu suchen: "from hardware, protocols, software, and user interactions to how these are embedded in various economic and social systems and imaginaries" (S. 76). Damit ist sie die Erste des Bandes, die die Bedingungen digitaler Kulturen sowie das mögliche Eingreifen in diese multiperspektivisch betrachtet. Nicht neu, aber dennoch innovativ ist, technologische Infrastrukturen als Gewohnheiten ("habits") zu betrachten, denn dies eröffnet die Möglichkeit algorithmische Medien mit dem Prinzip der Homophilie zu denken. Homophilie nämlich ist es, was nach Chun die technologischen Strukturen und in weiterer Folge auch das Nutzer*innenverhalten beeinflusst und kennzeichnet. Eine Um- und Neugestaltung dieser Infrastrukturen könne nur über interdisziplinäre Zusammenschlüsse funktionieren, die der Gefahr entgegenlaufen, selbst Teil des Systems zu werden, in das eingegriffen werden soll (vgl. S. 83).

Ulrike Bergermann wiederum bezieht sich in ihrem Artikel auf analoge Interventionen im Politischen, die sie als Eingreifen in eine laufende Sache, ein Stoppen, Innehalten, also als Blockade und Störfaktor versteht, der sich Fluidität und gleichbleibender Bewegung widersetzt.

Ihr Beispiel betrifft das sogenannte 'human mic', eine Kulturtechnik ("social technologies", S. 88 und 95) des Protestes aus den 1970er-Jahren, die in der Protestbewegung Occupy Wall Street (OWS) im Herbst 2011 wieder aufgegriffen wurde. Bergermann versteht die Nutzung des human mic als neue politische Ästhetik eines Netzwerks von "human/technologies/imaginary" (S. 91). Bezugnehmend auf Nancys Konzept des Mitseins ("being-with"), stellt sie die Frage, welche Kollektivitäts- und Vereinzelungsstrategien darin hervortreten. Wenn Sein nur als Mitsein gedacht werden kann, steht die human mic-Bewegung vor der Herausforderung, ihre Behauptung "We are the 99 %" (S. 96) zu verteidigen: Formierungen wie die Gruppe POCupy legen offen, dass "[n]ot everybody had equal access to the human mic" (S. 98), was hier insbesondere für people of color zutrifft, die in der OWS-Bewegung größtenteils keine oder nur wenig Repräsentation finden. In dieser Weise muss nach Bergermann Nancy neu gedacht werden: "Interventions need mi-lieus insofar as re-thinking any space has to take into account how to connect in an unhierarchical manner, how this would be barred through supposedly antecedent structures, and how to approach the task of de-learning to put oneself first in line of perceiving and reasoning" (S. 100f.).

Mit Steve Kurtz findet man wohl die techno-pessimistischste Perspektive des Bandes: Veränderungen hin zu weniger staats- oder ökonomiebedingter Überwachung hält er heutzutage für utopisch. Ähnlich wie Galloway vertritt Kurtz die Meinung, dass eine digitale Kommunikation ohne Metadaten – aus technischer Sicht – durchaus im Bereich des Möglichen und Umsetzbaren liegt, allerdings an den demokratiefeindlichen Strukturen des Kapitalismus scheitert. Eine systemimmanente Zäsur würde eine "reconstruction of the digital infrastructure" (S. 119) erfordern, die jedoch längst nicht mehr durchsetzungsfähig sei.

Kat Jungnickel nutzt im abschließenden Beitrag des Bandes für ihre historiografische Arbeitsweise eine Anlehnung an die ANT, um über Interventionen zu sprechen. Ihr Fallbeispiel umreißt das Aufkommen des Fahrradfahrens im viktorianischen England und dessen Bedeutung für weibliche Mobilität, die durch die Bekleidung entweder ermöglicht oder eben verhindert wurde. Den Fokus auf "socio-technical systems and practices" richtend, die so weit in den Alltag integriert sind, dass sie selten bewusst wahrgenommen werden, eröffnet Jungnickel zumindest methodologisch neue Sichtweisen auf Interventionen in Bezug auf Körperlichkeit und Technologie, denn "the more mundane and trivialized something is, the more important its role probably is in daily life" (S. 126), entfernt sich jedoch von den titelgebenden digitalen Kulturen vollends.

Die Stärke des Buches ergib sich sicherlich aus ihrer inter- und transdisziplinären Zusammenstellung: Theoretiker*innen der Philosophie, Politischen Theorie, Medienwissenschaft und Soziologie stehen im Austausch mit Aktivist*innen, woraus eine Methodenvielfalt entsteht, die wiederum die Ambivalenz von Interventionen veranschaulicht. Dieses Zusammenspiel bewusst nutzend, führen die Herausgeber*innen denn auch kein geringeres Ziel an, als die Konzeption eines "critical and practical guide for future interventions" (S. 17).

Was diesen Band schlussendlich besonders interessant macht, sind also weniger die einzelnen Beiträge, die bereits aufgrund ihrer Kürze oft an der Oberfläche verbleiben. Doch der gegenseitige Bezug der Beitragenden aufeinander, ohne in einen tatsächlichen Austausch zu treten, stellt sich bei genauerer Betrachtung als enorme Bereicherung für interdisziplinäre Forschung im Bereich der Medienkultur- und Politikwissenschaft heraus. Während auf der einen Seite mehr staatliche Kontrolle des digitalen Kommunikationsbereichs (Turner) als Ausweg des ökonomisch bedingten Trackings betrachtet wird, wird dieser Gedanke im nächsten Beitrag (Caygill) aus historiografischer Perspektive hinsichtlich der Militarisierung digitaler Infrastrukturen, die Geheimhaltung, Verschlüsselung und Überwachung der Zivilgesellschaft impliziert, kritisch hinterfragt. Exitstrategien wie die bewusste Verweigerung digitaler Vernetzung (Galloway) finden ihren Gegenpol in der Herausarbeitung von Interferenzen zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen, die digitale Kulturen eben nicht in einen virtuellen Raum abgrenzten, sondern Konsequenzen der digitalen Infrastrukturen auch auf den nicht-digitalen Bereich übertragen sehen (Caygill, Chun, Kurtz). Konzepte wie die des Habituellen und der Homophilie (Chun) werfen Fragen zu Kulturtechniken der politischen Intervention wie die des 'human microphone' auf, das als basisdemokratisches Mittel der Verschmelzung des Einzelnen und der Vielen gefeiert wird, aber zugleich als Repräsentation und Verbreitung nur einer Stimme/Meinung dient und damit durchaus ausschließend wirkt (Bergermann). In dieser Weise treten die Beiträge in einen imaginierten Diskurs (denn keiner der Beiträge bezieht sich tatsächlich und namentlich auf andere Artikel oder Interviews) und werfen mehr Fragen auf als sie Antworten geben können. Damit werden vielfältige Perspektiven und Denkweisen eröffnet, die eine hohe Anschlussfähigkeit mit sich bringen und die Aufmerksamkeit auf die Komplexität des Gegenstandes lenken. Denn so inflationär der Begriff der Interventionen auch gebraucht wird, zeigt dieser Band dennoch auf, wie notwendig und erkenntnisreich eine weitere Beschäftigung mit diesem hinsichtlich digitaler Kulturen ist. Die reflexive Methode muss als großer Mehrwert betrachtet werden, da sie in ihrer rhizomatischen Denkweise produktive Leerstellen und Denkanstöße bietet, statt dem Imago allgemeingültiger Theorien zu verfallen. Demnach wird der Anspruch "thinking in ambivalences" (S. 139) der Herausgeber*innen durchaus erfüllt.

Autor/innen-Biografie

Julia Preisker

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien (2009–2015). 2016–2018 Mitarbeiterin bei der Forschungsplattform "Mobile Cultures", seit März 2018 assoziiertes Mitglied der Forschungsplattform. Seit Dezember 2017 DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit einem Forschungsprojekt zur kleinen Form der politischen Intervention im Digitalen.

Publikationen (Auswahl):

Julia Preisker: "Von der An- und Abwesenheit (medialer) Subjekte und der Wirkung von verletzender Sprache – Performativitäts- und medientheoretische Überlegungen zu 13 Reasons Why". In: Hate Speech. Betrifft Mädchen 32/3 2018, S. 106–112.

–, "'Ein neuer, waschechter Friedmann. Und so einer tut jetzt dringend not' – Zwischen Unterhaltung, Emanzipation und Antisemitismus – Armin Friedmann, Hans Moser und das jüdische Theater in Wien". In: 25 Jahre Theatermuseum im Palais Lobkowitz. Hrsg. v. Mühlegger-Henapel. Wien: Holzhausen 2016, S. 59–73.

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2019-05-15

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Medien