Linda Waack: Der kleine Film. Mikrohistorie und Mediengeschichte.
Paderborn: Fink 2020. ISBN: 978-3-7705-6446-0. 213 Seiten, 49,90 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-13Abstract
"Kurzum, das Ende ist an keiner Stelle abzusehen" (Kracauer 1971). Für ein Buch über kleine Formen mag es kein naheliegenderes Quasi-Abschlusszitat (es beendet den Hauptteil, nicht jedoch das Buch) geben. Gerade wenn kleine Formen, wie bei Linda Waack nicht nur Untersuchungsgegenstand sind, sondern auch methodisches Vorgehen widerspiegeln. Hier so herausgestellt und entkoppelt von jedwedem Kontext mag das Spiel mit Worten plakativ wirken. Nach der Lektüre Waacks Der kleine Film. Mikrohistorie und Mediengeschichte, 2020 im Fink-Verlag erschienen, ist das absehbar-unabsehbare Ende jedoch logische Konsequenz der offenen Erzählweise, die die Autorin anstrebt.
Da die Argumentation des Buches über den filmischen Materialkorpus – "stumme Schmal- und Kurz- bzw. Kürzestfilme" aus drei Beständen der Unternehmerfamilien Hähnle, Kienlin und Rieker in einem Zeitraum zwischen 1902 und 1956 – vorangetrieben wird, bleibt im "Umschalten zwischen der Dimension des Kleinen und der des Großen" (S. 184) weder Umwege noch Unkalkulierbares aus. Die Selbstreflexion der Autorin, eine Schreibweise "nach dem Vorbild der Montage" vorgenommen zu haben, scheint dabei eine treffende Beobachtung: Weder eine ontologische Bestimmung des kleinen Films noch eine Genre- oder sonstige Festschreibung des Amateurfilms sind Ziel von Waacks filmwissenschaftlicher Analyse. In der Sichtung der drei Bestände wird eine Detailansicht eingenommen, die ihren historischen Kontext in seiner angeblichen Stabilität infrage stellt und damit "das Scheitern der Systematik an einer restlosen Erfassung materieller Wirklichkeit präsent" hält (ebd.). Indem Waack die "Besonderheit der Einzeldinge" in den Fokus stellt, geht sie dem Ansatz nach, "das Kleine als filmtheoretische und historiografische Größe zu thematisieren". Ganz im Sinne Kracauers, der "Konstruktion einer Ganzheitlichkeit "entgegenzutreten, erfolgt Waacks Materialerfassung weder chronologisch noch allumfassend. Vielmehr soll die "randständige Position" (S. 4) kleiner Filme genutzt werden, Dabei verhilft Waack in ihrer Untersuchung Mikroformaten, "die keine kanonisierte Rolle im medienwissenschaftlichen Diskurs ausgebildet haben" zu neuer "Diskursmacht".
Dem Grundsatz, "[z]ur Archivarbeit gehört, dass man anderes findet, als man gesucht hat" (ebd.) folgend, bietet auch Waacks methodische Herangehensweise eine Überraschung. So beginnt die Autorin ihr Buch (Kapitel 2 nach der Einleitung) über kleine Filme nicht etwa mit der Analyse der Filme selbst, sondern indem sie kleine Objekte – wie eine Filmdose, Filmstreifen sowie beschriftete Briefumschläge – in ein Verhältnis zu größeren Narrativen und Kontexten setzt. Überhaupt wird an keiner Stelle versucht, die Bestände in ihrer Ganzheit vorzustellen, das Material tritt vielmehr "je nach Fragestellung sprunghaft zu losen Ensembles zusammen" (S. 10). In den drei Hauptkapiteln wird so anhand von Einzelobjekten "eine Geschichte des Bestandes" geschrieben (S. 14). Darauffolgend (Kapitel 3) wird das "Bildgeschehen kleiner Filme" untersucht und mit "außerfilmischen Tatbeständen" und Theorien von Theodor W. Adorno, Béla Balász, Walter Benjamin und insbesondere Kracauer gegengelesen (Kapitel 4), "drei Theoriefiguren" hinsichtlich ihrer Wechselwirkung mit dem "Modell des Familienfilms" betrachtet und schließlich (Kapitel 5) das "Verhältnis von Kleinem und Großem als Unvereinbarkeit von zwei Perspektiven" genau hinterfragt.
Die argumentativen Umwege, die Waack in ihrer historiografischen Untersuchung macht, zeigen sich nicht nur in ihrer Übersetzung einer filmwissenschaftlichen Herangehensweise auf (mikro-)historische Betrachtungen, die sich insbesondere im letzten Kapitel niederschlagen, in dem die Autorin Kracauers soziologisches, filmtheoretisches und historiografisches Denken gegenliest und auf den Gegenstandskorpus ihrer kleinen Filme erprobt. Bereits im ersten Kapitel nach der Einleitung geraten die den Bewegtbildern beigelegten "Objektkonstellationen" in den Fokus. Waacks Anliegen ist es hierbei nicht, größere historische Zusammenhänge über kleine Dinge nachzuerzählen und zu manifestieren, sondern herauszustellen, "dass Geschichte ihnen erteilt oder abgesprochen werden kann", weshalb sich die zentrale Fragestellung dieses Kapitels darauf konzentriert, "unter welchen Umständen sich Konstellationen zu einer Erzählung verdichten".
Im Anschluss an Kracauers Geschichtspoetik fallen diese hier untersuchten Objekte dezidiert keiner Systematik zum Opfer: Themen und Zusammenhänge werden gestreift und an anderer Stelle wieder durchkreuzt, wie diskursanalytische Einblicke in die Familienfilmforschung oder der Zusammenhang zwischen Film und Süßigkeiten mit Beginn der Stollwerck-Automaten (vgl. S. 27). Immer vor Augen, "dass sich Archivmaterialien in Arbeitsprozessen unberechenbar und nicht im Sinne der kalkulierten Annahme verhalten" (S. 185), zeigt sich, inwiefern die Herangehensweise vom Material ausgehend Lesegewohnheiten auf die Probe stellen kann. Die historischen Verweise und Bezüge verlaufen nach dem Prinzip der Disjunktion, größere Zusammenhänge werden nur kurzfristig aufgemacht, zugleich aber wieder infrage gestellt: Ein kleiner Klebezettel fungiert als Bindeglied? zwischen eben jenem Haftzettel, einer Zeitungsseite und einer Filmaufnahme und verbindet damit zwei Unternehmensgeschichten: die von Bayer und Agfa-Film. Nach Waack verfährt "der kleine Zettel dabei nicht neutral" (S. 38f.), indem er eine Verknüpfung beider Unternehmen offenbart und einen historischen Verlauf bis hin zu Kriegsproduktion und Ausbeutung von Zwangsarbeiterinnen andeutet. Die makrohistorischen Verweise werden jedoch genauso schnell, wie sie eröffnet wurden, wieder relativiert, wenn Waack andeutet, dass die materielle Offenlegung der Verbindung beider Unternehmen "historischer Zufall" sein könne. Die Überschreibung materieller Verbindungspunkte mit großen historischen Narrativen findet entsprechend nur vorsichtig und wohldosiert Einzug in Waacks Analysen. Eine Problematik, die dieses Vorgehen mit sich bringt, spricht die Autorin selbst an: Wenn das Material die Deutungsrichtung selbst vorgibt, sind Querverweise kaum möglich und es bietet nicht immer Anschlussmöglichkeiten.
Die unterschiedlichen Topografien von Material und Bildgegenstand, die Linda Waack ausmacht, wenn sie die "konträre Beziehung von Aufnahmepraxis (draußen) und Schaupraxis (drinnen)" (S. 50) beschreibt, sind Beobachtungen, die sich auf einen bestimmten Filmstreifen beziehen und nicht zwingend auf andere Untersuchungsgegenstände übertragen werden können. Für Waack zeigt sich im Changieren zwischen Klein und Groß ein methodisches Problem, dem sie begegnet, indem sie das Material je nach Fragestellung sprunghaft zu losen Ensembles zusammen[führt] . Die Analogie zwischen Film und Geschichte, die Kracauer abstrakt formuliert, indem "Relationen von Klein und Groß […] jenen Nexus von Film und Geschichte" bilden, wird in Waacks Buch konkret, da sie im Kleinen nicht das Große sucht, noch es "nahtlos in der Narration aufgehen" lässt (S. 12). Im Sinne Kracauers Seite-an-Seite-Prinzip steht also nicht das Streben nach Synthese und Konstruktion größerer Zusammenhänge im Vordergrund, sondern das Veranschaulichen des "Vorbehalt[s] gegen eine chronologisierende und kausalisierende Erzählhaltung" sowie das Aufzeigen der "Grenze zur Systematisierbarkeit von Material" (S. 13).
Indem die Autorin Film nicht nur bildlich versteht, schenkt sie im ersten und zweiten Kapitel jenen Materialien und Aufnahmen Beachtung, die makrostrukturell sonst als Nebensächlichkeiten keinen Platz in großen historischen Narrativen finden. Im Anschluss daran werden Betrachtungen angestellt, die den gleichen Gegenstand multiperspektivisch im Kontext von Familie, Arbeit und Film einfangen. Wie bereits im Inhaltsverzeichnis gut überschaubar aufgezeigt, stehen im Fokus ihrer Überlegungen zum Urlaubsfilm, genauer einer "Arbeit am Urlaubsfilm", drei Texte, während im letzten Kapitel Kracauers soziologisches, filmtheoretisches und historiografisches Denken auf den kleinen Film kritisch angewandt und problematisiert wird.
In Rückbezug zum bereits in der Einleitung erwähnten Möglichkeitsraum des kleinen Films, werden in jedem Kapitel die Varietät und Uneindeutigkeit, die der Beschäftigung mit kleinen Filmen innewohnt, herausgestellt. So ist die Auswahl des Betrachtungsgegenstandes vielleicht keine zufällige, oder gar willkürliche, aber auch keine zureichend notwendige, sondern eben eine Möglichkeit aus vielen. Dies betrifft entsprechend auch das Archivmaterial selbst, wenn die Rollen "in eine mögliche, aber nicht zwingende Reihenfolge gebracht sind". Schließlich überführt Waack auch die rezeptionsseitige Bedeutungsproduktion in einen Möglichkeitsraum. Sofern die "Bekanntheit der gezeigten Motive" andere Lesarten aufgrund ihrer semiotischen Geschichtsverweise erschweren, "fordert [dies] streckenweise ein geduldiges Protokoll, aber auch die assoziative Umformatierung der Bilder in andere Konstellationen" (S. 107). Ohne den vorrangingen Bezug zum Amateurfilm zu verlieren, stellt Waack die Notwendigkeit eines offenen, vielperspektivischen Film-Lesens ins Zentrum ihrer Überlegungen zu kleinen Filmen.
So verwebt sie Theorie und Filmmaterial in mehreren Schritten und auf unterschiedlichen Ebenen: Nach einer Beschreibung des vorliegenden Bildmaterials folgt etwa eine Einführung in Roger Odins Definition des Familienfilms "anhand interner Figuren", die dazu dienen, "den Familienfilm von anderen Filmen unterscheidbar" zu machen und die das vorliegende Material als "Filmfragment" ausfindig machen, das "keine Operation der Gleichzeitigkeit kennt", sondern lediglich "einer einfachen chronologischen Ordnung" unterliegt (S. 109ff.). Die Unbestimmbarkeit, die sich aus der sprung- und lückenhaften Bildregie auf zeitlicher Ebene ergibt, beobachtet Waack auch in Bezug auf Raumverhältnisse. Kleine Film-Formen, die sich im Rahmen detail- und ausschnitthafter Darstellungen situieren?, geben aufgrund ihrer Konzentration auf Großaufnahmen keine Hinweise auf ihre gefilmte räumliche Umgebung. Waack verbindet hierbei ihre anfangs ausgeführte Hinwendung des kleinen Films zum Möglichen, zum Zufälligen mit Odins "Obsession mit Ortsbestimmungen, die konträr zu einer räumlichen Indifferenz stehen" (S. 111). Indem das Filmmaterial weder die Einhaltung einer Dramaturgie, einer strengen Bildabfolge, wie die Schuss/Gegenschuss-Technik, noch das Bemühen hin zu einem ungestörten Bild, dem die narrative Struktur einer fiktionalen Erzählung übergeordnet ist, einhält, gibt kein Bild einen ungestörten Blick auf das Gezeigte frei. Das Zeigen selbst sowie "die Medialität des Gezeigten" (S. 113) charakterisieren Urlaubsfilme wie den von Waack analysierten.
Wenngleich die stete Verwebung zwischen Untersuchungsgegenstand und Theorie nur konsequent ist, hätte eine an manchen Stellen detailreichere respektive tiefergehende theoretische Beschäftigung dem Verständnis durchaus positiv zugetragen. Als Qualifikationsschrift mag die eng gefasste Zielgruppe logisch erscheinen, dennoch wäre im Rahmen der Publikation sicherlich ein niederschwelligeres Einstiegskapitel für in die Thematik der kleinen Form nicht eingelesene Leser*innen sicher hilfreich gewesen.
Empfehlenswert ist die Lektüre Waacks Buch allemal; vielleicht weniger in Hinblick auf eine Antwort auf die Frage, inwiefern Familienfilme als kleine Filme charakterisiert werden können. Lohnenswert ist vielmehr das methodische Vorgehen Waacks, das Kracauers Prinzip "die Besonderheit der Einzeldinge keiner Systematik zu opfern" (S. 184) zu Beginn ankündigt und bis zum Schluss durchzieht. Zwar werden die Kapitel in aufsteigender Chronologie nicht nur theorielastiger, sondern scheinen das Kleine von Kapitel zu Kapitel mehr in einem Verhältnis zum Großen zu betrachten. Dennoch: Während in den ersten beiden Kapiteln Einzeldinge in den Fokus genommen werden, wird der Familienfilm in den darauffolgenden Kapiteln multiperspektivisch betrachtet, womit "einer restlosen Erfassung materieller Wirklichkeit" entgegengetreten wird (ebd.). Die Untersuchungsgegenstände werden auch hier nicht als ein narratives Ganzes verstanden, das Augenmerk wird gelenkt auf (Bild-)Störungen, eine "bruchhafte Montage" (S. 166) und die Verweigerung einer normierten, diegetischen Unterordnung der Bilder, wodurch die "Offenheit und Unbestimmbarkeit" der Bilder Gegenstand der Betrachtungen werden (S. 163).
Das Verhältnis, in das der kleine Film hier zu Kracauers soziologischen, filmtheoretischen und historiografischen Denken dialektisch gesetzt wird, gibt Waacks Buch eine bemerkenswerte Perspektive; jene, das Kleine nicht nur als Betrachtungsgegenstand, sondern auch methodisch als Inspiration zu begreifen.
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