Timon Beyes/Jörg Metelmann (Hg.): Der Kreativitätskomplex. Ein Vademecum der Gegenwartsgesellschaft.
Bielefeld: transcript 2018. ISBN: 978-3-8376-4510-1. 278 S., € 24,99.
Abstract
"'Sei kreativ!'" (S. 23) – Dieser als Selbstverpflichtung zur Kreativität gesellschaftlich internalisierten Aufforderung widmet sich der von Timon Beyes und Jörg Metelmann herausgegebene Sammelband Der Kreativitätskomplex. Darin fragen 25 Autor_innen aus vornehmlich gegenwartsanalytischer Perspektive nach den phänomenalen Ausprägungen, sozialen Auswirkungen, inhärenten Widersprüchen und zukunftsweisenden Chancen eines als allgegenwärtig wahrgenommenen Kreativitätsimperativs. Ihr gemeinsamer Referenzpunkt bildet dabei Andreas Reckwitz' kulturgeschichtliche Studie Die Erfindung der Kreativität (2012) – eine Studie, deren Kenntnis zwar nicht zwingende Voraussetzung für eine gewinnbringende Lektüre der Aufsatzsammlung ist, sich jedoch aufgrund stellenweise anspruchsvoller Bezugnahmen auf sie empfiehlt. Darin rekonstruiert Reckwitz die Entstehungsbedingungen des Kreativitätsdispositivs der Moderne, deren Folgeerscheinung und gegenwärtiger Kulminationspunkt ebendieser Imperativ darstellt. Der Sammelband ist als "theoretisches Handbuch für und reflexiver Leitfaden durch den Kreativitätskomplex" (S. 11) konzipiert und umfasst 40 alphabetisch geordnete und untereinander verschlagwortete Lemmata. In der Form ein Abecedarium, im Gestus ein Vademecum, animiert der Band unaufdringlich zur interessegeleiteten, nicht linearen Lektüre der Einzelbeiträge und damit zur 'kreativen' Verknüpfung ihrer jeweiligen Reflexionsangebote.
Obgleich – oder gerade weil – Reckwitz' historische Studie die zentrale intellektuelle Bezugsgröße des Bandes darstellt, wird sie kritischen Betrachtungen unterzogen, die sich wiederum als produktiv für gegenwartsbezogene Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex der Kreativität erweisen. Bereits in ihrer Einleitung deuten Beyes und Metelmann etwa auf den "enormen Argumentdruck" (S. 15) hin, den Reckwitz erzeuge, wenn er einen für die Entwicklung des Kreativitätsdispositivs ursächlichen soziohistorischen "Affektmangel" (S. 15) der Moderne annehme. Zwar sei diese Annahme durchaus effektiv hinsichtlich ihrer Erklärungskraft, heterogene Ausprägungen des gegenwärtigen Kreativitätsimperativs auf einen gemeinsamen historischen Ursprung zurückführen zu können. Jedoch sei dieses "'kompensatorisch[e]'" (S. 23) Narrativ auf begrifflicher Ebene anfechtbar, wie Metelmann unter dem Lemma Affektkultur näher ausführt. Denn zum einen sei der von Reckwitz verwendete Affektbegriff definitorisch zu unbestimmt, um die ihm zukommende "theoriestrategisch wichtige Position" (S. 20) voll erfüllen zu können. Und zum anderen basiere die von Reckwitz hergestellte Kausalität zwischen Affektmangel und Kreativitätsdispositiv auf einem Missverständnis des foucaultschen Dispositivbegriffs als "Effekt eines auslösenden Grundes" (S. 23).
Umgekehrt kommt Sverre Raffnsøe in Dispositiv zur Einschätzung, es handele sich bei Die Erfindung der Kreativität um eine etwas 'zu' gelungene Anwendung des genealogischen Ansatzes Foucaults. Beispielhaft sei nämlich nicht nur, dass Reckwitz das für die Dispositivanalyse operativ wichtige "Konzept der Freiheit als eines wesentlichen Antriebs der immanenten Dynamik des Dispositivs" (S. 84) anerkenne, sondern "im Kontext des Kreativitätsdispositivs geradezu als [...] Nukleus sozialer Organisation" (S. 84) ernst nehme. Ironischerweise sei es aber gerade diese methodologische Stringenz, die seine Studie angreifbar mache. Denn aufgrund der konzeptuellen und phänomenalen Konvergenz von Freiheit als Drang (in Form der operativen Annahme der Dispositivanalyse) und Freiheit als Zwang (in Form des Kreativitätsimperativs als Untersuchungsgegenstand) scheine seine Studie implizit einer zirkulären Logik zu folgen:
"Was sich im Rückblick auf die historische Entwicklung beobachten und nachweisen lässt, sind Vorläufer und die Bestätigung einer unaufhörlichen Durchsetzung [...] des Kreativen in der Gegenwart. Gleichermaßen ist das, was in der Gegenwart beobachtet und nachgewiesen kann [sic!], vor allem die nicht hinterfragbare Bestätigung der zugeschriebenen Kreativität des Neuen, deren Entstehung in der Geschichte bezeugt und erfahren wurde." (S. 87)
Ähnlich zirkulär scheint indes auch Claus Pias in Computer zu argumentieren. Darin vertritt er die medienhistorische These, der Personal Computer sei von der ihn entwickelnden Community "nicht als Epiphänomen eines bereits entfalteten, sondern als medientechnische Bedingung eines künftigen 'Kreativitätsdispositivs' gedacht [worden], für das er selbst die Bedingung gewesen sein [werde]" (S. 64). Als Vorteil dieser Lesart weist Pias dabei die Möglichkeit aus, die Kreativität von heute "als emergente[n] Effekt einer materiell zu gestaltenden Interaktion zwischen Menschen und einem historisch neuen Maschinentypus" (S. 68) begreifen zu können. Diese These ist zweifelsohne faszinierend, ihre Begründung fesselnd. Problematisch ist sie jedoch insofern, als sie auf der Prämisse einer nicht näher explizierten Differenz zwischen einem vergangenen und einem künftigen Dispositiv basiert, mit der Pias die Computerindustrie effektiv von jenem historischen Kreativitätsdispositiv abkoppelt, das Reckwitz untersucht, und sie so zu einem autopoietischen System verklärt. Pias' Beitrag sitzt damit in gewisser Weise jener "rückwärtsgewandte[n] Logik" der Kreativität" (S. 192) auf, die Emmanuel Alloa in Naturalisierung beschreibt: "Erst nachträglich stellt sie vor Augen, was man immer schon hätte wissen müssen" (Herv. i. O., S. 192).
Dass der Kreativitätsimperativ zuweilen auch bedenklichere Effekte zeitigt als die innovative Nutzung digitaler Technologien, führt Florian Schulz eindrücklich am Phänomen "Coaching" vor. Ausgehend von der Feststellung einer inzwischen "milliardenschweren Coaching-Industrie" (S. 58), deren Angebote zur Leistungsoptimierung sich zwar auf den "dienstleistungsorientierten Arbeitssektor" (S. 57) zu beschränken scheinen, deren Wirkungsmacht jedoch viel grundsätzlicher darin bestehe, das Subjekt zu permanenter kreativer "Selbsttransformation" (S. 63) zu disziplinieren, um sich als kapitalismuskompatible Ressource vermarkten zu können, zeichnet Schulz die Erfolgsgeschichte des Coachings anhand einzelner historischer Stationen nach. Angesichts der dabei erkennbaren Verquickung von Leistungsdiskursen und psychologischen Motivationstheorien Ende der 1980er-Jahre, die sich bis heute verstetigt habe und das Subjekt zur systematischen Selbstverbesserung aufrufe, warnt Schulz jedoch davor, dass die "unregulierte Anwendung von Psychotherapie-Praktiken in der Arbeitswelt im Rahmen des Coachings" (S. 63) nicht unerhebliche Gefahren für ebendieses Subjekt mit sich bringe: Etwa, wenn das "unqualifizierte Eindringen in die intimsten Bereiche des menschlichen Seins zum Zweck der Leistungssteigerung [...] als psychologische Grenzverletzung erlebt" werde und so "neue Formen von Zwängen etablier[t]" (S. 63) würden.
Unbedingt lesenswert sind die gemeinsam von Christoph Michels und Chris Steyaert verfassten, sich hervorragend ergänzenden Einträge "Atmosphäre" und "Creative Cities". Ersteren leiten sie mit der knappen These ein, Atmosphären seien als "Affekte der Massen" (S. 44) zu begreifen: Nichts, so die Ko-Autoren, beeinflusse "unser emotionales Befinden und unsere persönliche Befindlichkeit" (S. 44) so sehr wie Atmosphären, wie sie nur allzu anschaulich am Beispiel einer täglichen Pendelfahrt im öffentlichen großstädtischen Nahverkehr demonstrieren. Gerade weil dies so sei, befassten sich Architektur- und Stadtplanungsbüros mit der "Gestaltung des affektiven Potenzials" (S. 46) urbaner Räume, um so maßgeschneiderte, atmosphärisch bekömmliche Konfigurationen von Menschen, Dingen, Gebäuden und Landschaften zu erzeugen. Fragt sich nur – bekömmlich für wen? Denn wo Städte von einer "gigantischen Beratungsmaschinerie" (S. 72) eine "permanente ästhetische Selbsterneuerung verordnet" (S. 71) bekämen und sich so die Gestaltung urbaner Atmosphären entweder zum Selbstzweck verselbständige oder nur Tourist_innen bediene, sei die Sozialverträglichkeit der implementierten Designlösungen nicht immer gegeben. Dies verdeutlichen Michels und Steyaert in "Creative Cities" anhand der Stadtentwicklung Barcelonas, deren "Kulturalisierung" (S. 71) – d. h. ihre atmosphärische Anreicherung durch spektakuläre Events oder preisverdächtige Bauten – zu zahlreichen "affektiven Spannungen" (S. 48) unter den Anwohner_innen geführt habe. Demgegenüber betonen die Ko-Autoren die Notwendigkeit einer Abkehr von den "hochtrabenden Ansichten" (S. 74) konventioneller Stadtplanung mitsamt ihrer "überzogenen Erwartungen" (S. 73) und fordern eine Rückbesinnung auf die sich organismisch entfaltende Eigendynamik von Städten.
Der Kreativitätskomplex führt gewandt durch die facettenreiche Vielgestaltigkeit des Kreativitätsimperativs. Ob pointierte Kritik an dessen oxymoronischen Zielvorgaben (z. B. 'geplante Innovation' oder 'gezielte Kreativität'; vgl. die Artikel "Kreativitätstechniken", "Innovation"), humorvolle Schilderung seiner Absurditäten und obsessiven Züge (etwa der Wahlmöglichkeit zwischen "566 Billiarden Müslivariationen", S. 146), denkwürdige Problematisierung seiner Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft (vgl. "Selbstgenerierung", "Schuld") oder selbstreflexive Anerkennung seiner Grenzen und Potenziale (vgl. "Konsum", "Museum") – die Perspektivenvielfalt der Beiträge, die Plastizität ihrer Beschreibungen und die Differenziertheit ihrer Argumentationen geben einen eindrucksvollen Einblick in die Komplexität der Kreativität.
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