Thomas Elsaesser: European Cinema and Continental Philosophy. Film As Thought Experiment.

London u.a.: Bloomsbury 2018. ISBN 9781441182210. 352 S., Preis: £ 31,99.

Autor/innen

  • Valerie Dirk

Abstract

Thomas Elsaesser publiziert seit den1990er Jahren rege zu zahlreichen filmhistorischen und -theoretischen Themen und hat, gemeinsam mit Malte Hagener, eine der bis dato besten Einführung in die Filmtheorie (Filmtheorie zur Einführung, 2009) verfasst. Seit der Jahrtausendwende beschäftigt sich Elsaesser überdies mit dem sich National- und Studiogrenzen entziehenden 'Europäischen Kino'. Dazu erschien 2004 mit European Cinema. Face to Face with Hollywood eine Monographie, in welcher er das 'Filmfestival-Netzwerk' als zentralen Akteur im Bereich des europäischen Kinos identifiziert und vorschlägt, den europäisch konnotierten Autor_innenfilm zu 'globalisieren' ("the global auteur"). Die jüngste Veröffentlichung European Cinema and Continental Philosophy. Film as Thought Experiment verschränkt nun zwei der Fragestellungen, welche in den oben genannten Publikationen bereits angeschnitten wurden: Den kritischen Versuch Film philosophisch zu betrachten (in der Filmtheorie im Kapitel 'Geist und Gehirn' verhandelt), verbunden mit der Frage, was das europäische Kino womöglich – trotz oder wegen dessen Marginalisierung und Disparität – ausmacht.

Dabei geht Elsaesser von drei Grundannahmen aus: Erstens hat die gegenwärtige kontinentale Philosophie, insbesondere dann, wenn sie auf die Aufklärung Bezug nimmt, etwas über Film zu sagen. Zweitens sollte der Identitätsverlust und die Marginalisierung des europäischen Kinos als Chance für eine – drittens –  Neubetrachtung des Films gesehen werden. Dazu führt er sein erstes leitendes Konzept ein, das Gedankenexperiment ("thought experiment"). Filmische Gedankenexperimente sind demnach Filme, die selbstreflexiv Regelbrüche (stilistisch, formal etc.) praktizieren, narrative 'What if?'-Situationen herstellen und somit philosophische Prinzipien auf ihre Validität prüfen. Gedankenexperimente rütteln an den Grundfesten des Denkens und adressieren das Publikum auf neue Art, insbesondere darin, dass sie Film vom Zwang repräsentativ zu sein (hinsichtlich Identität, Realität) befreien. Sie können somit als politische Ethik verstanden werden, im Sinne einer Begegnung mit 'einem Anderen'.

In den weiterführenden Kapiteln (2 und 3) geht Elsaesser näher auf die Wechselbeziehung von Film und Philosophie ein. Dabei fokussiert er sich auf die kontinentale Philosophie, überwiegend auf die französische. Neben Alain Badiou, Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy und Gilles Deleuze wird außerdem Slavoj Žižek wiederholt referenziert. Bei der Lektüre dieser Kapitel stellt sich der Eindruck von Ruhelosigkeit ein, hervorgerufen einerseits durch die verknappten Anrisse komplexer Themen und großer Fragen ("A new ontology of film", S. 26-31," "The wider horizon: what is cinema good for? S. 31; "Cinema – humanism's last hope or the true face of technological determinism?", S. 32), andererseits durch die Zitationsweise des Autors: Denn oft wird nicht mit Primärquellen belegt, sondern mit Artikeln diverser Fachmagazine und einmal muss gar ein Wikipedia-Eintrag zur Begriffsdefinition herhalten ("Ontology", S. 28). Das könnte man als willkommenen Regelbruch verstehen, doch vielmehr gewinnt man den Eindruck, an repräsentativen Theorie-Gebäuden vorbei zu joggen, anstatt sie zu besichtigen.

Dass sowohl die Aufklärung als auch Europa bereits Gedankenexperimente sind, beschäftigt Elsaesser im 4. Kapitel "'Europe' A Thought Experiment". Ausgehend vom derzeitigen Krisenzustand Europas/des Kinos plädiert er dafür, die Perspektive auf die Krise zu ändern, d.h. die Defizite als Vorteile ("assets", S.85) zu sehen. Hierzu fühlt er – mit einem treffsicheren Gespür für aktuelle Debatten – den Defiziten und Versprechen der aufklärerischen Proklamationen 'Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' auf den Zahn. Als Brückenschlag zwischen diesen, im Antagonismus verbundenen, ethischen und politischen Forderungen der Aufklärung, bietet Elsaesser – unter Bezugnahme auf Agamben und Lévinas – abschließend die Idee der 'einvernehmlichen Einmischung' ("mutual interference", S. 116 f.) an.

Neben der 'einvernehmlichen Einmischung' und dem 'Gedankenexperiment' ist das 'Abjekt' der dritte Begriff, denn Elsaesser im Folgekapitel vorstellt: Das psychoanalytische Konzept von Julia Kristeva, welches in der Filmwissenschaft gerne im Zusammenhang mit dem Körperhorrorgenre zitiert wird  – denn Kristevas 'Abjekt' (lat. abiectum: das Verworfene) wird mit den Affekten Ekel, Abscheu, Angst assoziiert – denkt Elsaesser politisch: Nämlich als handlungsmächtige Position zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Gemeinschaft und Individuum. Demnach kann das Abjekte im Film sowohl durch die Figuren und deren negative/destruktive Beziehung zu tradierten Gesellschafts- und Beziehungsformen zum Ausdruck kommen als auch durch die Adressierung und Positionierung der Zuschauer_innen, die somit zu "abject spectators" (S. 147 f.) werden. Außerdem kann der/die Filmschaffende innerhalb eines medienökologischen Systems ebenso zum 'Abjekt werden' wie ein Film (was sich oft in einer Schock-Reaktion äußert, beispielsweise bei Antichrist von Lars von Trier, dem 'Abjekt-Regisseur' schlechthin). Ein Kino des Abjekten ("cinema of abjection", S.219 f.) wird von postheroischen Narrativen getragen, von Narrativen, die anstelle des Konsens auf Dissens setzen und dabei das Verhältnis Individuum/Gesellschaft thematisieren.

Im zweiten Teil des Bandes (Kapitel 7-11) arbeitet Elsaesser die vorgestellten Konzepte anhand einzelner Filme und Filmautor_innen heraus. So kann man anhand von Claire Denis Beau Travail eine Verschränkung des Nancy'schen Konzepts der (undarstellbaren) Gemeinschaft mit abjekter Körperlichkeit anschaulich nachvollziehen. Am Beispiel von Aki Kaurismäkis The Man Without A Past verbindet Elsasser seine Idee der 'einvernehmlichen Einmischung' mit einem auf Filmbilder und -gegenstände ausgeweiteten Agency-Denken. Dieses wird in dem Aufsatz zu Fatih Akin aufgegriffen und zu einer, gegen liberalen Multikulturalismus gewendeten, ethischen Handlungsmacht ("ethical agency", S.224) transformiert. Mit Lars von Triers Melancholia veranschaulicht Elsaesser nochmals die Idee des Gedankenexperiments, welches interessante Gedankensprünge von (innerfilmischen) Endzeitszenarien über das Konzept der Melancholie hin zur Digitalisierung des Kinos zulässt. Christian Petzolds Barbara bietet Gelegenheit, das Abjekte auf eine Nation – die 'Leiche' der DDR – auszudehnen und befragt damit Modi der Selbst-Exotisierung, für welche im deutschsprachigen Raum (nostalgieummäntelte) DDR-Themen paradigmatisch einstehen.

Das abschließende Kapitel des Bandes ist ein Plädoyer für eine 'politique des auteurs', mithilfe derer es möglich sein sollte, die (durch Festivalpolitiken strukturierte) europäische Filmkultur von innen her zu reformieren und Film als eine Form von Philosophie zu begreifen. Dieser Appell führt zusammen, was sich als roter Faden durch das ganze Buch zieht: eine Wiederaufwertung des menschlichen Akteurs (als Filmfigur, als Regisseur_in, als Philosoph_in, Bürger_in), welcher in dem Sinne Abjekt ist, dass er/sie sich als Außenseiter_in innerhalb eines sich im Widerstreit befindlichen Systems bewegt.

European Cinema and Continental Philosophy. Film as Thought Experiment ist eine Zusammenstellung bereits publizierter Aufsätze (Kapitel 1 und 7-12) und eigens für das Buch verfasster Kapitel. Diese Strategie, die Elsaesser bereits im angesprochenen European Cinema. Face to Face with Hollywood gewinnbringend anwandte, führt hier allerdings zu einer Häufung von  Verweisen auf Kommendes und Zusammenfassungen von bereits Gesagtem. Das hat offensichtlich den Zweck, die in verschiedenen Kontexten verfassten Kapitel stärker aneinander zu binden, geht aber zulasten der Lesefreundlichkeit. Die argumentative Nachvollziehbarkeit der Kern-Konzepte, die Elsaesser bevorzugt mithilfe triadischer Begründungsmuster erläutert, wird durch die leichten definitorischen Abweichungen innerhalb der einzelnen Kapitel erschwert. Weshalb, fragt man sich am Ende der Lektüre, ist Film nun doch eine Art Philosophie? (S. 299) – wo doch Elsaesser anfangs das Gedankenexperiment einführte, um sich der Film-Philosophie-Debatte zu entziehen? ("It is to stake a more modest claim, or rather to explore and test a more modest proposal: not necessarily that films can think, but rather that a certain class of films may be best understood as borrowing the rhetorical strategies of a thought experiment. Whether this makes them 'philosophy' is a question I leave open, not least because I am neither a trained philosopher, nor do I intend to become a film-philosopher", S. 21). Dies verweist auch auf die grundsätzliche Problematik der drei Konzepte, die in ihrer Offenheit wie Schirmbegriffe anmuten – beispielsweise 'das Abjekte': Könnte man dieses Konzept in Elsaessers Lesart nicht auf fast jede gesellschaftskritische 'Außenseiter-Erzählung' zuschneiden? Auch bei der stark kanonisierten Auswahl der 'certain class of films' sowie der zitierten Philosoph(inn)en und beim Ruf nach postheroischen Narrativen hält man als Leserin inne: Welche heroischen Narrative hatte denn das europäische Kino bis dato zu bieten?

Abschließend sei angemerkt, dass das eklektizistische 'zu viel' dem Thema European Cinema and Continental Philosophy inhärent und eine konzise Linie nicht zu erzwingen ist. Diejenigen, die sich mit europäischem Kino und dessen komplexen, interdisziplinären Verzweigungen beschäftigen möchten, werden auf kraftvolle Denkanstöße treffen – insbesondere dann, wenn man das Buch als Essayband begreift und liest.

Autor/innen-Biografie

Valerie Dirk

Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Dissertationsprojekt zu realistischer Filmästhetik im Kontext europäischer Filmfestivals. Außerdem tätig im KuratorInnenverein Diskollektiv.

Publikationen:

Dirk, V. (2018). Melzer sieht nicht fern... Er geht ins Kino. in F. Widegger (Hrsg.), Axel Corti: Edition Film Geschichte Österreich (1 Aufl., Band 5, S. 115 - 121). (Edition Film Geschichte Österreich; Band 5). Wien: Filmarchiv Austria.

- (2018): Il Cinema Ritrovato 2018: Jetzt auch in Schwarz-Weiß. Webpublikation, Abgerufen von http://www.jugendohnefilm.com/il-cinema-ritrovato-2018-jetzt-auch-in-schwarz-weiss/

- (2018): Rezension zu Friedrich Balke/Hanna Engelmeier: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des 'Figura'-Aufsatzes von Erich Auerbach. tfm : e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen / Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, (2018/1).

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Veröffentlicht

2019-05-15

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Rubrik

Film