Friedrich Balke/Hanna Engelmeier: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des 'Figura'-Aufsatzes von Erich Auerbach.

Paderborn: Wilhelm Fink 2016. (Reihe: Medien und Mimesis, Bd. 1). ISBN: 978-3-7705-6096-7. 192 S., Preis: € 19,90.

Autor/innen

  • Valerie Dirk

Abstract

"Etwas wie eine Geschichte des europäischen Realismus hätte ich niemals schreiben können", stellt der Romanist und Philologe Erich Auerbach am Ende seines literaturwissenschaftlichen Grundlagenwerks Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur fest, welches er in den 1940er Jahren im Istanbuler Exil verfasste. Dieses programmatische Zitat bildet einen der Dreh- und Angelpunkte für Friedrich Balkes und Hanna Engelmeiers Nachvollziehen der zentralen Auerbach'schen Begrifflichkeiten: Mimesis, Wirklichkeit und – untrennbar davon – Geschichte. Zur Hand nimmt das Autor_innenduo dabei den kurz nach Auerbachs Emigration entstandenen Text "Figura" (1938), den sie – möchte man sagen – als ,Vorausdeutung' auf Mimesis lesen und so genau nach der Methode der Figuraldeutung verfahren, die Auerbach in "Figura" entwirft. Diese Re- und Querlektüren werfen neue Schlaglichter auf Auerbachs Begriffe und Methoden und deren Nachwirken und Anschlussfähigkeit für die Geschichts-, Literatur- und Filmwissenschaft.

Den Einstieg in die handliche, mit diagonalen Schriftzügen schlicht gestaltete erste Publikation im Rahmen der DFG-Forscher_innengruppe 'Medien und Mimesis' bildet eine kurze Vorbemerkung des Medienkulturwissenschaftlers Friedrich Balke und der Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier, welche die Auslassung der Definition des Mimesis-Begriffs in Mimesis (Auerbach beginnt in medias res mit der 'Narbe des Odysseus') als Leerstelle situiert, vor deren Hintergrund die deutsche Neuauflage und eine Relektüre des "Figura"-Aufsatzes in Angriff genommen wurde. Ein großer Verdienst der Neuedition ist, dass die zahlreichen altgriechischen, lateinischen und italienischen Originalzitate mit einer deutschen Übersetzung versehen wurden, was für heutige Leser_innen unabdingbar ist (und für das damalige Fachpublikum des Archivum Romanicum wohl ein Affront gewesen wäre). Trotzdem die Kapitelstruktur des Buches vorschlägt mit dem umfangreichsten und theoretisch ausschweifendsten Text "Mimesis und Figura. Erich Auerbachs niederer Materialismus" von Friedrich Balke zu beginnen, dann auf Hanna Engelmeiers um vieles kürzeren Beitrag "Die Wirklichkeit Lesen. Figura und Lektüre bei Erich Auerbach" überzugehen, um schließlich zur Neuedition des "Figura"-Aufsatzes zu gelangen, bietet es sich an, das Buch 'von hinten aufzuzäumen', da der "Figura"-Text die Basis der vorangestellten Texte ist.

Erich Auerbach unternimmt in "Figura" eine detaillierte philologische Studie des Figura-Begriffs und beginnt dabei in der römischen Antike: Durch die Gräzisierung der römischen Bildung wurde Begriff schnell zu einem vielseitigen Abstraktum, das eine zumeist äußerliche, zuweilen plastische, immer aber (im Wortsinn) bewegliche und wandelbare Gestalt beschrieb. Als Abgrenzungen bringt Auerbach imago und forma ins Spiel, wobei er jedoch schlussendlich konstatiert: "'figura' ist sinnlicher und beweglicher als 'forma' und bewahrt das Selbst des Ursprünglichen reiner als 'imago'." (S. 126)

Eine geniale Deutung der Figura bescheinigt Auerbach der kosmologisch-materialistischen Auslegung des Epikureers Lukrez (1. Jhdt. v. Chr.). Dieser habe in seiner Lehre von den "Gebilden, die sich wie Häutchen von den Dingen lösen (membranae) und in der Luft umherstreifen" (S. 127) dem Figura-Begriff erstmalig die Bedeutung eines Traumbildes oder einer Phantasiegestalt verliehen, welche dann in der römischen Dichtung fortlebt. Doch die wohl prominenteste Bedeutung hat Figura in der spätrömischen Rhetorik bei Quintilian erlangt: Die 'Figuraltechnik' stand in Quintilians 'Institutio orataria' (ca. 95 n. Chr.) für eine Redetechnik ein, die die "Kunst der uneigentlichen, umschreibenden, andeutenden, insinuierenden und verbergenden Redeweisen" (S. 138) umfasste.

In Kapitel II und III widmet Auerbach sich der Bedeutungsverschiebung vom antiken Figura-Begriff hin zur christlichen Figuraldeutung. Unbedingt erwähnt gehört hier Tertullian (2. Jhdt.), mit dem die Figuraldeutung in die Bibelexegese eintrat. Figura ist hier sowohl messianische Vorausdeutung als auch "etwas Wirkliches, Geschichtliches, welches etwas anderes, ebenfalls Wirkliches, Geschichtliches darstellt und ankündigt." (S. 140) Auerbach bescheinigt Tertullian einen "energischen Realismus" (S. 142) – auf den Balke zurückkommt – und er folgt Tertullian in dessen Ablehnung einer rein allegorischen Lesart und einer Hervorhebung des Realitätsbezugs und der Geschichtlichkeit des Alten Testaments. Diese erste Definition der Figura als Realprophetie in Abgrenzung zur Allegorie bestimmt den weiteren Verlauf von Auerbachs Argumentation.

Eine weitere interessante Feststellung innerhalb der detaillierten Analysen einzelner Bibelexegesen ist die, dass die Realprophetie insbesondere dazu diente, das AT zu christianisieren, also den alttestamentarischen Charakter der Gesetzbuchmäßigkeit und Geschichtlichkeit des Judentums, eines "so fremden und fernen Volkes" (S. 163), zu bereinigen. Zentral war dabei Paulus als Sprachrohr der christlichen Mission, dessen "Gesinnung" (S. 161) deutlich zu Tage tritt. Doch Auerbach ist in seiner Haltung aus heutiger Sicht auffallend unpolitisch, wenn er Paulus dennoch bescheinigt, er habe "in einer beispielhaften Weise die praktisch-politischen mit den dichterisch gestaltenden Glaubenskräften" zu einem "System der Realprophetie" verbunden und dem AT somit "dramatisch-konkrete Aktualität" verliehen (S. 162). Freilich auf Kosten der jüdischen Elemente, ein Sachverhalt der nur noch im übertragenen Sinn am Ende von Balkes Beitrag in Kombination mit der "Family of Man" (zit. n. Kracauer, S. 85) zur Sprache kommt. Hinzuzufügen wäre, dass laut Auerbach die Alternative neben der Paulinischen Deutung eine rein abstrakte oder gar ignorante Haltung gegenüber dem AT war.

Im letzten Kapitel hält Auerbach unter anderen fest, dass die Frage nach der "künstlerischen Naturnachahmung" (S. 174), die er nicht Mimesis nennt (weil für ihn Mimesis keine Natur- sondern Wirklichkeitsnachahmung ist, wie Engelmeier ausführen wird), im Mittelalter keine Rolle gespielt habe. Mit einem Rekurs auf seine 1929 veröffentlichte Habilitation Dante als Dichter der irdischen Welt bringt er nochmals seine Thesen zur Figuraldeutung mittels einer detaillierten Dante-Lektüre, der laut Auerbach den Abschluss des Mittelalters bildet, auf den Punkt: Diese habe die Geschichts- und Wirklichkeitsauffassung des Christentums geprägt, vereine reale mit spirituellen Elementen, weise immer auf etwas Zukünftiges voraus und beziehe sich dennoch auf Vergangenes und Gegenwärtiges.

Hanna Engelmeiers Beitrag "Die Wirklichkeit Lesen" nähert sich den Texten "Figura" und Mimesis über konkrete Fragen, wie die nach dem Verhältnis von Darstellung und Nachahmung der Wirklichkeit, unter Bezugnahme auf die Entstehungssituation der beiden Texte, der Rezeption durch den New Historicism (Geertz, Greenblatt) und auf den Auerbach'schen Lektüremodus. Im Laufe dessen kristallisiert sich heraus, dass Auerbach bei seinem Mimesis-Begriff die 'Natur' durch die 'Wirklichkeit' ersetzt habe, welche "figuriert sein muss, damit wir sie als solche erkennen und verstehen können" (S. 94). Dabei orientiert sich die Autorin an Auerbachs antiker Figura-Begriffsdeutung, deren Bedeutungsvielfalt die der menschlichen Erfahrung widerspiegelt. Das Verfahren dazu ist die "dichte Beschreibung" (S. 97), die von Greenblatt thematisierte Geschichtsschreibung der longue durée, welche in "exemplarischen Mikrogeschichten" (S. 98), oder auch mittels einer "pointillistischen Rekonstruktion" (S. 107) erzählt und somit mittels einer "mimetischen Neuerschaffung" (S. 107) der Lektüre der "Energie des Gegenständlichen" vor "'fertig geprägte[n], aber selten genau zutreffende[n] Begriffe[n]'" (S. 110) den Vorzug gibt. Dabei arbeitet Engelmeier schließlich heraus, dass bei Auerbach die Nachahmung von Wirklichkeit nur "als geschichtlich gedachte Wirklichkeit verständlich, weil lesbar ist" (S. 118). Wirklichkeit ist somit bei Auerbach abseits der Lektüre und ohne Geschichtlichkeit nicht zu denken; sie ist "immer schon Nachahmung und Vorahmung der Geschichte gleichermaßen [..], insofern sie sich figuriert und in der Rede plastisch wird." (S. 118).

Friedrich Balkes Beitrag "Mimesis und Figura. Erich Auerbachs niederer Materialismus", der sich ob seiner theoretischen und begrifflichen Dichte als letzte Lektüre-Station in Mimesis und Figura anbietet, zieht zwischen dem Figura- und Figuraldeutungskonzept Auerbachs Parallelen zu Mimesis, die er nutzt um zwei Dispositive einzuführen: Für das geschichtstheologische Dispositiv steht der "Figura"-Aufsatz ein, für das geschichtsphilosophische das Mimesis-Buch. Ebenso identifiziert der Autor zwei mimetische Einbrüche die er später mit zwei "Darstellungsregimes der Mimesis" (S. 60) kurzschließt: Zum einen der mimetische Einbruch mit dem Neuen Testament, welches die "'radikalste Zerstörung des [antiken] Stiltrennungsprinzips und überhaupt die radikalste Verwirklichung des tragischen Realismus'" (S. 15) sei. Zum anderen das Aufbegehren der 'Romantiker und Realisten' gegen eine strenge Nachahmung des antiken Stils um 1700, welche sich mit Flaubert zu einer "modernen Mimesis" entwickelt, die Beobachtung und Neutralität anstelle der neutestamentarischen "rücksichtslosen Mischung von alltäglichen Wirklichen und höchster, erhabener Tragik" (S. 61) setzt. Der damit eingebüßte Tertullianische "exzessive Charakter der Mimesis der Disparatheit" (S.61), welchen Balke mit Georges Bataille zu verknüpfen weiß, wird in der Folge von Balzacs "dämonischer Einheit" (S. 54) zwischen Figur und Milieu wieder eingelöst.

Neben der ungleichen Paarung mit Bataille bezieht Balke Auerbach auch auf Foucault, wenn er von einer Neubewertung des Alltäglichen spricht, die der Romanist in der Lektüre, der Geschichtsphilosoph in der Beichte ausmacht, die zugleich einen Machtzugriff darstellt. Somit wird die Auerbach'sche Mimesis dezidiert als politische Kategorie verankert. Neben zahlreichen weiteren Querverbindungen und Begriffsstudien, die Balke mittels einer umfassenden Auerbach-Lektüre betreibt, kommt er am Ende seines gut 80 Seiten starken Aufsatzes auf den Film, insbesondere auf Béla Balázs und Siegfried Kracauer zu sprechen. Balázs' Konzept der Großaufnahme als disruptives Element im filmischen Ablauf spiegelt sich für Balke in einer wunderbaren Engführung mit dem letzten Mimesis-Kapitel, in dem Auerbach eine Szene aus Virginia Woolfs To the Lighthouse (1927) schildert: Mrs. Ramsay beobachtet ihren Sohn beim 'Bilderproduzieren' (er schneidet Bilder aus Zeitungen aus). Aufgrund des Ernsts, den er dabei an den Tag legt, vollzieht Mrs. Ramsay eine geistige Figuraldeutung: Dieser alltägliche Moment verweist auf ein zukünftiges Sein ihres Sohnes als Erwachsener – er wird Richter oder Staatsmann werden – so die (messianische) Hoffnung der Mutter. Der Erzählung wird so etwas Bruchstückhaftes verliehen, für das das Affektbild des Kindes einsteht, in dem Zukünftiges und Vergangenes in der gegenwärtigen, detailliert beschriebenen Beobachtung ineinanderfließen. Ähnliches lässt sich ebenso in Flauberts Madame Bovary hineinlesen, wenn dieser, am mittäglichen Tisch sitzend, plötzlich so wird "als läge die ganze Trostlosigkeit ihres Daseins vor ihr auf dem Teller" (S.74). Die Idee der Großaufnahme beschreibt laut Balke schlussendlich auch Auerbachs Methode, die er 'Ansatzphänomen' nennt und welche im Grunde die Fokussierung auf Mikrohistorien im Kontext einer Makrohistorie beschreibt.

Das führt  zum letzten Kapitel und zu Siegfried Kracauer. Neben zahlreichen begrifflichen Verwandtschaften, die Balke zwischen Auerbach und Kracauer aufspürt, beispielsweise das Rohmaterial und die Darstellung, die nicht weiter verwundern dürften, bezog sich doch Kracauer explizit auf Auerbach, mit dem ihm sogar eine Bekanntschaft (und ein Briefkontakt) im US-Exil verband, kehrt Balke die Vorstellung beider Autoren heraus, dass die Mimesis der Wirklichkeit eine "Annäherung zwischen den Völkern" befördere, da die "Zufallsmomente des Lebens 'das elementare und Gemeinsame der Menschen überhaupt'" (S. 79) beträfe. Die moderne Mimesis "operiert unterhalb der Kämpfe" (S. 79) und die Figura derselben wäre die Vorausdeutung auf eine gemeinsame Menschenfamilie. Diese utopistische humanistische Neigung sowohl Kracauers als auch Auerbachs dekonstruiert Balke in den letzten Seiten anhand der in der Theorie des Films angesprochenen Fotografie-Ausstellung The Family of Man des vormaligen Kriegsaufklärungsfotografen Edward Steichen. Darin, dass Kracauer dessen Ausstellung kritiklos als ein Beispiel aufführt, wie der realistische Charakter der Fotografie Visionen einer 'gemeinsamen Welt' zu beglaubigen vermag, sieht Balke die Ursache, dass Kracauers 'formgebende' Tendenz die 'realistische' schlussendlich einnimmt. Balke schließt hier die schlüssig formulierte These an, dass es Kracauer weniger um die Differenz zwischen 'formgebender' und 'realistischer' Tendenz ging, da sich diese, wie er selbst meinte, beständig überschneiden, sondern darum ein "indexikalisch-operatives Verständnis des fotografischen Bildes" (S. 84) zu vermeiden (wie es laut Alan Sekula in der Militärfotografie vorherrscht).

Zum Schluss wird noch der Gedanke, dass die Ausweitung des Alltäglichen auf die Welt rein positiv zu lesen wäre, zu Recht einer ideologiekritischen und postkolonialen Perspektive unterzogen: Was ist 'unser' Alltag? Und drängt dieser den Alltag der 'anderen' vielleicht beiseite? Hier taucht bei der Leserin wieder ein Konnex zum "Figura"-Aufsatz auf, nämlich die oben ausgeführte Bibelexegese des Paulus während der Heidenmission, die Auerbach als beispiellose Aktualisierung und Aneignung des AT durch die christliche Religion beschrieb, was anscheinend die Verdrängung alles Jüdischen aus dem AT rechtfertigte. Hier wird die Figuraldeutung zur Waffe einer Ideologie und ebenso sehr wie die Allegorie aus der Figura nicht auszumerzen ist, wird sich die Ideologie auch immer wieder in den Realismus einschreiben. Folgerichtig schließt Balke mit der Bemerkung, dass eine "pathetische Figur des Alltags" (S. 88), zu der sich Kracauer und Auerbach von Zeit zu Zeit hinreißen lassen, im Gegensatz zu einer Figura des 'niederen Materialismus' steht, der das eigentliche und vorherrschende Forschungs- und Erkenntnisinteresse der beiden Autoren begründet.

Die Lektüre des Bandes Mimesis und Figura ist auf einer interdisziplinären Ebene bereichernd und bietet gerade für eine Filmwissenschaft, die ihren Fokus auf Geschichte und Geschichtlichkeit, Alltag und Alltäglichkeit sowie Wirklichkeit und Figuration legt, wertvolle Grundlagen und Denkanstöße.

Autor/innen-Biografie

Valerie Dirk

Seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Filmwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Ist außerdem filmkuratorisch im Verein 'Diskollektiv' und schreibend beim Filmblog/Magazin 'Jugend ohne Film' tätig.

Veröffentlicht

2018-05-15

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Rubrik

Film