Karola Gramann/Ute Holl/Heide Schlüpmann (Hg.): Ungenierte Unterhaltung. Mit Frieda Grafe im Grandhotel.

Wien: Synema 2022. ISBN: 978-3-901644-90-0. 88 Seiten, 16,00 €.

Autor/innen

  • Valerie Dirk

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-07

Abstract

Nach der Lektüre des Bandes Ungenierte Unterhaltung. Mit Frieda Grafe im Grandhotel, herausgeben von Karola Gramann, Ute Holl und Heide Schlüpmann wünscht man sich, die 2002 verstorbene selbstbezeichnete "Filmkritikerin und Übersetzerin" Frieda Grafe lebte noch und schriebe etwas zu aktuellen Luxushotels. Denn die haben wieder Konjunktur, vor allem in Serien. Allerdings kommt der Luxus der 2020er nicht mehr in der Architektur des Grandhotels daher. Die "leicht verblödeten feinen Leute", die keine "Klasse", sondern "ästhetische Produkte" (S. 65) repräsentieren, wie Grafe in ihrem, dem schmalen Band nachgestellten, Essay "Die saubere Architektur in Gefahr. Die Grandhotels in der Unterhaltungsindustrie" schreibt, wellnessen heutzutage eher in abgelegenen Luxusressorts als in großstädtischen Prachtbauten. Das hat den Nachteil, dass man nicht einfach zur Drehtür hineinstolpern kann, in das Leben der Reichen.

Die Drehtür und das Stolpern leiten denn auch Grafes Essay an, der 1990 für einen Sammelband geschrieben aber darin nicht veröffentlicht wurde. In seiner vollständigen Läge wurde er erst in Frieda Grafe: Film/Geschichte. Wie Film Geschichte anders schreibt abgedruckt, herausgegeben 2004 von Grafes Witwer Enno Patalas, und eben in dem vorliegenden Band. Vollständig bedeutet: inklusive dem "Filmhistorischen Hotelführer", in dem Grafe ihrem Umkreisen des Grandhotel-Kino-Topos kurze Filmtexte nachschickt: etwa zu Friedrich Wilhelm Murnaus Der letzte Mann (DE 1924), Jean-Luc Godards Détective (FR 1985), Marguerite Duras India Song (FR 1975), Stanley Kubricks The Shining (US/UK 1980) oder auch Ernst Lubitschs Monte Carlo (US 1930). Lubitschs Screwball-Komödien fällt der Bärenanteil in Grafes Essay zu, denn "Lubitsch nimmt das dem Grandhotel innewohnende imaginäre Element so ernst, dass es bei ihm zum Emblem der Leichtsinnigkeit des Kinos wird" (S. 62). Und diese Leichtsinnigkeit, die "ungenierte Unterhaltung" (ebd.) ist das, was Grafe beschäftigt.

Dass diese interessierte Vorliebe konträr zum Trend ihrer Zeit stand, weiß Ko-Herausgeberin Heide Schlüpmann in ihrem Text "Der Luxus ungenierter Unterhaltung. Grafe, Veblen und Adorno" zu veranschaulichen. Sie nimmt sich die theoretischen Referenzen vor, die Grafe immer nur streift, und schafft es dazu noch, Grafe als Filmkritikerin und Intellektuelle zu verorten, bei der der Film immer an erster Stelle stand: "Ihre Texte zeigen das: Belesenheit in Literatur und Theorie kommt darin nur zur Sprache, um die Filme und ihre Wahrnehmung ins Bewusstsein zu heben. Nicht, um das Kino aufzuwerten, sondern um Theorie auf die Ebene sinnlicher Wahrnehmung zurückzuholen." (S. 48). Damit könnte Grafe eigentlich eine Kracauer-Verwandte gewesen sein, doch: "mit Kracauer fing Grafe allerdings wenig an" (S. 49). Ebenso wenig konnte sie indes der an Adornos und Horkheimers "Kulturindustrie"-Theorem geschulten Ideologiekritik entnehmen. Stattdessen opponiert Grafe, wie Schlüpmann schreibt, dem "‘barbarischen Charakter der Kultur‘" und stellt sich auf die Seite der "'ungenierte[n] Unterhaltung' im Kino" (ebd.).

Schlüpmanns Text ist der zwölfte einer Reihe von Auseinandersetzungen mit Grafes "Grandhotel-Essay" in dem vorliegenden Band. Dass fast jeder der kurzen Texte mit einem Zitat Grafes beginnt, ist nicht verwunderlich angesichts ihres prägnanten Stils, den Rike Felka in "Learning from the Grandhotel: Zur Schreibweise Frieda Grafes" selbst sprachlich prägnant scharfstellt. Grafes Ausführungen nähmen immer wieder neu Anlauf, sie seien der Dekonstruktion von Erzählung verpflichtet und stellten komplexe Fragen. Felka erkennt außerdem: "Grafe entnimmt ihre Darstellungstechniken in vielen Fällen dem Film selbst. Sie hat sich das Subversive vom Kino abgeschaut. Pointierung, bis zu kleinen Perle eingekocht, wird gegen Monumentalität gesetzt, Aporetisches auf engstem Raum gegen Grandiosität ausgespielt, der kurze Absatz plus immanenter Umkehr der Geschichte gegen zeitlose Dauer" (S. 19f). Die Spezialität der Filmkritikerin sei zudem an den kurzen Filmtipps geschult gewesen, die sie in den 1970er und 1980er Jahren für die Süddeutsche Zeitung verfasste. Es seien "Sätze, die durch monadische Komprimiertheit im Gedächtnis haften. Sie sind zeichentheoretisch fundiert und deshalb zeitlos. Und sie verführen zum Kinobesuch" (S. 20).

Ebendie Rolle der besonderen Filmkritikerin, d. h. einer freiberuflichen, einer (doppeldeutig) "ausgehaltene[n] Frau" (S. 13), wie Grafe selbst scherzte, betrachten die eröffnenden Beiträge von Verena Lueken und Annett Busch näher. Darin geht es, wie auch in der Einleitung der Herausgeberinnen, sowie im Briefwechsel zwischen Grafe und Ko-Herausgeberin Karola Gramann am Ende des Bandes, auch um Grafe als Köchin. In ihrer Küche braute sie erlesene Texte wie Speisen. Diese Konvergenz der Köchin und Schreiberin zieht sich, veranschaulicht durch Fotografien Grafes in ihrer Küche und eines ominösen Küchengerätes, eines "diffuseur grille pain" (S. 57f), durch den Band und regt die weitere Auseinandersetzung mit der Verschränkung von Küche und Kritik an.

Andere Beitragende nehmen von der fesselnden Privatperson "Frieda" (wie sie laut Lueken von ihren rein männlichen Verehrern der "Münchner Schule" genannt wurde) (vgl. S. 9) Abstand und begeben sich wieder ins Grandhotel: Etwa Elisabeth Bronfen, die Hotels in Mitchell Leisens Filmen Easy Living (US 1937) und Midnight (US 1939) als Orte der Transformation betrachtet. In der Cinderella-gleichen Verwandlungskunst der Hauptfiguren, die ihre neue Rolle pragmatisch als vorübergehend wahrnehmen, sieht Bronfen unseren Pakt mit dem Kino, nämlich, "dass wir uns willentlich einem Imaginären hinzugeben bereit sind, von dem wir wissen, dass es nur vorübergehend seinen realen Status auf der Leinwand verliehen bekommen hat. Wie die Heldinnen des Grandhotel verlassen auch wir den Kinosaal, nachdem die Lichter wieder angegangen sind." (S. 16)

Die Queerness, die dem Transformationsmoment inhärent ist, arbeitet Ute Holl leichtfüßig anhand ihrer Analyse der Laurel & Hardy Komödie Double Whoopee (US 1929) heraus. Grandhotels seien ein "Versprechen auf gestundete Identität, Vermischung und Durchlässigkeit". Dabei weiß sie, dass Grafe selbst "Querverweise auf Geschlechterdifferenz, deren Binarität Double Whoopee in ein glitschiges Ölbad von Verquerungen taucht", kaum adressiere, aber immer mitführe. "Die Historikerin Grafe weiß, dass Identität, auch die von Klasse und Geschlecht, immer nur das ist, was ein Medium so festhält, als Büro- oder Architektur- oder Kostümdispositiv" (S. 26).

Bei so viel historischem Einblick über die heutzutage vieldiskutierten und umkämpften Identitätspolitiken wäre es, um wieder an den Ausgangspunkt der Rezension zurückzukommen, doch interessant, Grafe auf aktuelle Identitätsdiskurse loszulassen. Würde sie diese als lästiges Moralisieren abschütteln, oder vielleicht als kämpferisches Spiel um Repräsentation sehen, dessen Idee sie im Grandhotel zu erkennen vermeinte. Und würde sie, angesichts der realen vernichtenden Bilanz um soziale Mobilität, die sich auch in den abgeschotteten Luxusressorts heutiger Serien und Filme wie The White Lotus (Staffel 1; US 2021), Triangle of Sadness (SE/DE/FR/UK 2022) oder Nine Perfect Strangers (US 2021–) zeigen, ihre beizeiten treu dem american dream verschriebene Sicht eines "Grandhotel als Melting Pot und Meeting point", das "zum Inbegriff der beweglichen amerikanischen Gesellschaft [wird], in der Klassenbarrieren dynamisch mit Aufzügen, die bei Disney 'people movers' heißen, bewältigt werden" (S.65), einer weiteren Prüfung unterziehen?

 

Über zeitgemäße Fragen wie diese wird zwar in keinem der Beiträge von Ungenierte Unterhaltung. Mit Frieda Grafe im Grandhotel spekuliert, aber das trübt kaum die Freude an der Lektüre des inspirierenden, zwischen essayistischen, privaten und analytischen Zugängen schweifenden Bandes, dessen Idee, einen Text der bekannten Filmkritikerin zum Ausgangspunkt für weitere Perspektiven auf die Topoi Grandhotel/Kino und das kritische Erbe Grafes zu nehmen, mehr als aufgeht.

Autor/innen-Biografie

Valerie Dirk

promoviert an der Universität Wien zu Realismustheorien und Filmfestivals und arbeitet als Filmredakteurin bei der Tageszeitung DER STANDARD.

Letzte Publikationen:

– Valerie Dirk: "Die Gesetze des Newsrooms". In: Feministische Ökonomien und Zeitlichkeit. Frauen und Film 71. Hg. v. Eva Kuhn, Berlin: Aviva 2023.

– Valerie Dirk: "Die Gastfreundschaft der Frauen. Vier Filme über ältere Frauen und jüngere Männer". In: Gewohnte Gewalt. Häusliche Brutalität und heimliche Bedrohung im Spannungskino. Hg. v. Joachim Schätz/Drehli Robnik, Wien: Sonderzahl 2022.

– Bernhard Groß/Valerie Dirk (Hg.): Alltag. Ästhetik, Geschichte und Politik eines Topos der Moderne. Berlin: Vorwerk 8 2022.

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Veröffentlicht

2023-11-16

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Rubrik

Film