Lisa Åkervall: Kinematographische Affekte. Die Transformation der Kinoerfahrung.
Paderborn: Fink 2018. ISBN: 978-3-7705-5835-3. 205 S., Preis: € 39,90.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2020-2-06Abstract
In ihrer Studie Kinematographische Affekte. Die Transformation der Kinoerfahrung verwendet Lisa Åkervall den titelimmanenten Begriff der Transformation als epistemologische Schnittstelle zwischen zwei in der gegenwärtigen Film- und Medienwissenschaft zentralen Diskursen: Einerseits sollen mittels Bild- und Erzählebene von Filmen evozierte Affekte als "Katalysatoren für die Transformation der Zuschauer_innen" (S. 12) betrachtet sowie gleichzeitig die Transformation des kinematografischen Dispositivs zu einer postkinematografischen Rezeptionssituation hin beleuchtet werden.
Åkervall proklamiert zunächst die äußerst ambitionierte Intention, den innerhalb des affective turns in den Geisteswissenschaften der 2000er-Jahre entstandenen und oft heterogen definierten Begriff des Affektes für film- und medienwissenschaftliche Herangehensweisen neu zu definieren. Diskurshistorisch den affective turn auf einen etwaigen roten Faden re-evaluierend, arbeitet sie dabei sehr pointiert ein potenzielles methodisches Missverständnis innerhalb der phänomenologischen sowie poststrukturalistischen Affektforschung heraus. Um sich von Konzepten einer regressiven Kontrolle der Zuschauer*in durch das Kinodispositiv innerhalb der Screen- und Apparatustheorie zu emanzipieren, sei der Affekt – etwa anhand der an Gilles Deleuze und Felix Guattari angelehnten Definition des kanadischen Philosophen Brian Massumi und deren filmwissenschaftlich fruchtbar gemachten Anwendung von Steven Shaviro – als eine die Zuschauer*in körperlich unmittelbar und vorbewusst affizierende Quelle abseits jeglicher Form von aktivem Denken ins Feld geführt worden (vgl. S. 13f). Daraus ergebe sich eine allzu verkürzt gedachte, weil dezidiert cartesianische Herangehensweise, wonach die Wende zum Affekt als von einer strikten "Dichotomie zwischen Affekt und Denken, Körper und Geist" (S. 14) revisionistisch verortet werden könne. Åkervalls produktive Fundamentalkritik im Hinblick auf eine vernachlässigte Auseinandersetzung mit kognitiver Evaluation zugunsten rein physiologischer Erregungszustände kann dabei in epistemologischer Korrespondenz mit aktuellen integrativen Ansätzen innerhalb der kognitiven Filmtheorie betrachtet werden, wo tendenziell von einer untrennbaren Verknüpfung zwischen Perzeption, Emotion sowie Kognition ausgegangen wird (vgl. beispielsweise Plantinga 2009 sowie Fahlenbrach 2010). Auch entspricht eine solche aktualisierte Sichtweise in etwa den Überlegungen innerhalb neuerer Arbeiten Massumis, welcher seine ursprüngliche Modelgenese affektiver Anteilnahme durch den Prozess des thinking-feelings um eine durchaus kognitive Dimension erweitert hat (Massumi 2011, S. 39f).
Nur indem man kinematografische Affekte als gleichzeitig kognitiv sowie emotionalisierend betrachten würde, so Åkervall, könnten diese zu einer produktiven moralischen Transformation der Kinozuschauer*innen beitragen. Dadurch würde auch ein Zuschauer*innenmodell abseits eines statischen Subjektbegriffs ermöglicht werden. Transformationen durch affektive Anteilnahme an der filmischen Rezeption sind für Åkervall demnach gerade dann von Interesse, wenn sie zu einem (auch transhumanistisch konnotierten) Hinterfragen des eigenen anthropologischen Status sowie einer vermeintlich stabilen Subjektivität einladen. Filme und andere audiovisuelle Medien würden Rezipient*innen dabei gemäß Stanley Cavells moral perfectionism zu einem stetigen Prozess des Lernens und progressiven Anderswerdens einladen. Signifikanterweise wird Cavells transformativer Ansatz von Åkervall nicht nur auf der narrativen Ebene filmischer Texte, sondern gerade auf der Bildebene verortet: Dort, wo Denken und Fühlen, Körper und Geist auch im Hinblick auf die Rezeption bestimmter filmästhetischer Strukturmerkmale aufeinandertreffen würden, könnten methodische Bausteine wie beispielsweise Deleuzes Bewegungs- sowie Affektbild neu gedeutet werden, wenn diese wie in Kapitel 1 zu Überlegungen bezüglich einer nichtanthropozentrischen Theorie der Kinoerfahrung (vgl. S. 41f) einladen oder, als Conclusio von Kapitel 4, zu einer "Begegnung mit den Grenzen unserer Subjektivität" (S. 116) beitragen. Die Frage nach der Transformation der Kinozuschauer*innen geht so mit einer theoretisch-konzeptuellen Neupositionierung im Hinblick auf damit korrespondierende Fragen nach der ontologischen Beschaffenheit des traditionellen Kinodispositivs einher. So kann der in Kapitel 2 dem kinematografischen Bild obliegende Bewegungsautomatismus im Rückgriff auf diesbezügliche Überlegungen von Sergej Eisenstein, Antonin Artaud und insbesondere Deleuze in ein Verhältnis zum Denken als einem "Prozess der Automatisierung der Gedanken" (S. 65) gesetzt werden. Die nach Cavell wiederum doppelte Beschaffenheit der Kinoleinwand, welche den Zuschauer*innen sowohl eine projizierte Welt präsentieren als auch diese qua Leinwand davon abschirmen würde, erschließe wiederum eine Kinoerfahrung, welche die Rezipient*innen "zwischen Nähe und Distanz, Absorption und Reflexion" oszillieren lasse (S. 77).
Åkervalls fortwährendes Insistieren auf die transformative Beschaffenheit der Kinoerfahrung könnte metadiskursiv innerhalb eines filmwissenschaftlich progressierenden ethical turns (Choi/Frey 2014, S. 1) verortet werden: Im Rahmen der daraus entstandenen Überlegungen werden Zuschauer*innen sowohl auf ästhetischer wie auch motivischer und thematischer Ebene zu einer ethisch konnotierten Auseinandersetzung mit bestimmten Figuren und Situationen eingeladen. Gleichzeitig ermutigen diese die Zuschauer*innen dazu, ihre dazu eingenommene moralische und epistemologische Position neu zu evaluieren. Insbesondere Letztgenanntes bildet den stets wiederkehrenden Fluchtpunkt von Åkervalls Ausführungen.
Kapitel 6 und 7 verlagern wiederum das Augenmerk auf die postkinematografischen Rezeptionsbedingungen unserer Zeit. Dies tun sie jedoch nicht durch eine sich im Forschungsgegenstand niederschlagende Abkehr vom kinematografischen Dispositiv, sondern indem sie dieses unter veränderten Vorzeichen neu bewerten und wiederum herausarbeiten, wie auch generische Kinowerke mittels Ästhetik und Textebene genannte postkinematographische Umstände implizit widerspiegeln würden. Bewegte Bilder müssten demnach "unter neuen Vorzeichen" analysiert werden und es sei, wie Åkervall bereits zu Beginn proklamiert, ein zentrales Anliegen der Studie, gerade aufzuzeigen, warum "Veränderungen der Medialität und der Aufführungsbedingungen audiovisueller Medien sowie das Aufsplitten gewohnter Rezeptionsmodi es notwendig machen, erneut zu beschreiben, wie wir Filme sehen, was kinematographische Affekte sind und was in der Kinoerfahrung passiert" (S. 10, Herv. i. O.).
Einzelne Darstellungsverfahren wie die in Kapitel 6 vorgestellten "ästhetische Strategien der Erfahrbarmachung der Zeit" (S. 141) würden etwa mithilfe intertextueller Verweise auf filmhistorisch ikonische Werke als "ikonographische Spektralogie" zu Formen kognitiv-affektiver Auseinandersetzung einladen: So enthielte Gus van Sants Elephant (US 2003) vielschichtige Verweise, welche von Sants filmisch reproduzierter Huldigung von Werken wie Béla Tarrs Sátántangó (HU 1994), über verschiedene "thematische Referenzen auf Highschool-Filme", bis hin zu Verweisen auf bestimmte kameraästhetische Momente aus Stanley Kubricks The Shining (US 1980) reichen und sich als subtile "Affekte der Heimsuchung" manifestieren würden (vgl. S. 146f).
Eine daraus entstehende postkinematografische Kinoerfahrung würde somit nicht zwingend primär durch einen technologisch-dispositiven Paradigmenwechsel hin zu 3D-Projektionen sowie der Filmsichtung auf dem Smartphone definiert werden können, sondern in gleichem Maße auch gerade durch eine gleichzeitig stattfindende Migration und Transformation innerhalb der Affektbeschaffenheit, welche dieses Kino evozieren würde. Das postkinematografische Kino würde frei nach Deleuze nicht mehr ein einzelnes Band zwischen Mensch und Welt, sondern eine Vielzahl von Bändern bilden. Åkervall fasst diesen Umstand im Neologismus eines Kinos des Fraktalbildes zusammen (vgl. S. 180).
Gerade die Neudefinition des Affektes als Scharnierbegriff für sowohl eine filmhistorisch verortbare Insistenz des Kinos, das Publikum mit einer Denken und Fühlen synthetisierenden Rezeptionserfahrung zu konfrontieren, als auch dessen Wandelbarkeit im Rahmen sich verändernder Sehgewohnheiten und -bedingungen, machen den enormen Innovationsgehalt dieser Studie aus. Diese zeichnet sich auch durch eine hohe sprachliche Zugänglichkeit aus, ohne jedoch der multidiskursiven Komplexität des Forschungsthemas jemals nicht gerecht werden zu können.
Literatur:
Choi, Jinhee/Frey, Mattias (Hg.): Cine-Ethics Ethical Dimensions of Film Theory, Practice, and Spectatorship. London 2014.
Fahlenbrach, Katrin: Audiovisuelle Metaphern. Zur Körper- und Affektästhetik in Film und Fernsehen. Marburg 2010.
Massumi, Brian: Semblance and Event: Activist Philosophy and the Occurrent Arts. Cambridge 2011.
Plantinga, Carl: Moving Viewers: American Film and the Spectator's Experience. Berkeley 2009.
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