Maike Sarah Reinerth: Erinnerung und Imagination im Spielfilm.

Berlin: Kadmos 2022, ISBN: 978-3-86599-448-6. 318 Seiten, Preis: € 29,80.

Autor/innen

  • Michael Brodski

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-12

Abstract

Maike Sarah Reinerth setzt sich in Erinnerung und Imagination im Spielfilm mit der Darstellung, Produktion sowie Rezeption von filmischen Imaginations-, und insbesondere Erinnerungssequenzen auseinander. Diese wurden bisher innerhalb der Film- und Medienwissenschaft noch nicht hinreichend in ihrer Beschaffenheit als ästhetisch dezidiert markierte Erzählversatzstücke analysiert. Am Beispiel einer ikonischen Erinnerungssequenz des Protagonisten Rick (Humphrey Bogart) in Casablanca (USA 1942) merkt Reinerth in der Einleitung ihrer Studie programmatisch an, dass die rein abstrakte Beschaffenheit subjektiver Imagination einer ästhetischen Übersetzung in filmische Darstellung abseits einer mimetischen Reproduktion von vorfilmischer Realität bedarf. Wir Zuschauer würden jedoch derartige Prozesse problemlos intuitiv nachvollziehen und innerhalb des Filmgeschehens verorten können. Dieser Umstand lässt sich auf eine vielschichtige Verzahnung produktions- sowie rezeptionsästhetischer Perspektiven zurückführen, denen das primäre Erkenntnisinteresse von Reinerths Arbeit gilt. Dem Forschungsgegenstand fällt dabei die Rolle einer epistemologischen Schnittstelle als "Schauplatz komplexer Kommunikations- und Bedeutungsbildungsprozesse" (S. 14) zu, worin nicht nur "Vorstellungen von Filmschaffenden und Filmsehenden", sondern auch "wissenschaftliche Spezial- und medial formierte Interdiskurse […] mit ästhetischen Traditionen, technischen Entwicklungen, individuellen Idiosynkrasien und Erfahrungen" korrelieren (S. 13).

Die Gliederung der Monographie unterliegt dabei einer sorgfältig aufeinander aufbauenden Zweiteilung von Theoriekonzeption und analytischer Auseinandersetzung: Die Kapitel 2 bis 5 arbeiten nicht nur den aktuellen film- und medienwissenschaftlichen Forschungsstand durch, sondern berücksichtigen auch disziplinübergreifend "alltagspsychologische Modelle, die Erkenntnisse aktueller Wissenschaften und historisch-kulturell spezifische Konzeptionen von Erinnerung und Imagination" (S. 23). Damit zielt dieser Teil der Arbeit auf die Genese eines integrativen, Produktion, Rezeption und Darstellung berücksichtigen Modells zum Verständnis der medienästhetisch manifesten Kommunikation von Imaginationsprozessen ab. In den Kapiteln 6 bis 9 wird wiederum unter Anwendung der vorangestellten Analyseheuristik eine historisch-synchron konzipierte Abbildung verschiedener Inszenierungen von Erinnerungen und ähnlichen Imaginationen vorgenommen.

Metatheoretisch kann Reinerths Ansatz als biokulturelle Herangehensweise eingeordnet werden: Eine Vermittlung zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen, szientistischen und kulturalistischen Positionen anstrebend, wird dabei von evolutions- und kognitionspsychologisch identifizierbaren anthropologischen Konstanten ausgegangen, welche jedoch kulturell überformt zu zeit- und kulturhistorisch individuellen Merkmalen führen (vgl. etwa Smith 2017 im filmwissenschaftlichen Kontext). Auf Produktions- und Rezeptionskontexte von Film und filmischer Imagination übertragen, erlaubt eine solche Position nach "produktions-, medien-, mentalitäts- und wissensgeschichtlichen Zusammenhängen" im Rahmen " universale[r] Dispositionen und zeitspezifische[r] Diskurse" (S. 12f.) zu suchen. So wird danach gefragt, warum etwa Erinnerungssequenzen sowohl kulturübergreifend als auch zu unterschiedlichen Zeiten ähnlich verstanden werden können, jedoch gleichfalls über von technologischem und gesellschaftlichem Wandel geprägte, kultur- und epochenspezifische Inszenierungsparameter verfügen.

Reinerth begreift Filmkommunikation hier als einen Prozess, der intentional auf die Wissensbestände von Filmproduzent*innen und -rezipient*innen über die Beschaffenheit von Imagination und Erinnerung zurückgreift. Für sie "müssen solche Wissensbestände als dynamische Korrelate zwischen kognitiven Universalien des Filmverstehens" (S. 120), kultur- und historisch spezifischen Diskursen zu Imaginationsprozessen (sowohl alltagspsychologischer als auch wissenschaftlicher Natur) und technisch-ästhetischen Voraussetzungen des Filmmediums verstanden werden. Ein solcher multiperspektivischer Zugang abseits eines biologischen Determinismus, aber auch eines universelle Veranlagungen ignorierenden Kulturalismus ist dabei keinesfalls als methodisch eklektizistisch abzutun. Stattdessen bildet dieser das Fundament für ein heuristisch notwendiges Modell, um sowohl aufzuzeigen, "dass und vor allem warum sich Imaginationsdarstellungen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Produktionskontexten ähneln, aber von den Darstellungen anderer Zeiten und Kontexte unterscheiden" (S. 16), als auch, dass diese Darstellungen aufgrund ihrer partiell universellen Beschaffenheit häufig zeitversetzt in der nachträglichen Rezeption (etwa beim Schauen zeitlich zurückliegender Filme) verstanden werden können. Als "Seismografen veränderbarer Vorstellungen und Einstellungen" lassen sich solche Werke gerade dann untersuchen, wenn sie in einem "Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation, Universalität und Aktualisierung, Prototypik und historischer Spezifik" (S. 20) begriffen werden.

Ein allgemeines prototypisches Modell von Imagination (insbesondere episodischer Erinnerung) als Verschränkung kognitionspsychologischer Ansätze (wie etwa der konzeptuellen Metapherntheorie), aber auch der analytischen Philosophie und alltagspsychologischer Konzepte dient Reinerth demnach als konstanter Bezugspunkt sämtlicher filmischer Erinnerungsdarstellungen. Jene prototypischen Eigenschaften werden jedoch im Rahmen des jeweiligen zeitlichen Produktions- und (Erst-)Rezeptionskontexts in "historisch, kulturell und medial spezifischer Weise" (S. 120) ausformuliert.

Daraus erfolgt eine in den einzelnen Filmanalysekapiteln in entsprechend markierten Unterkapiteln angewandte, sukzessive Methodik: So werden zuerst entweder ganze Werkgruppen oder einzelne besonders markante Filmbeispiele auf einer zunächst deskriptiven Analyseebene beleuchtet ("Phänomenologisch-ästhetische Annäherung"), indem deren Imaginationsdarstellungen auf ihre narrative Struktur, ihren thematischen Inhalt sowie ihre ästhetische Beschaffenheit untersucht werden. Die zweite Analyseebene ("Systematisierung nach prototypischen Charakteristika") fokussiert die Zuordnung von Imaginationen zu bestimmten Filmfiguren ("Subjektivität"), die perzeptive, emotionale wie sinnliche Beschaffenheit dieser Imaginationsdarstellungen ("Erlebnisqualität") sowie die Konstanten, welche die zeitliche Relation zur übrigen filmischen Narration definieren (" Zeit"). Auf der abschließenden Analyseebene ("historische Kontextualisierung") werden die jeweils spezifischen technisch-medialen Produktionsbedingungen ("Medialität") beleuchtet, die stil- und genrehistorische Zuordnung der Werke ("Erzähl- und Darstellungspraxis") vorgenommen sowie die ideologisch-diskursiven Rahmenbedingungen der jeweiligen Epoche ("Ideologie") aufgezeigt (vgl. S. 122-126). Um gerade die komplexe Verzahnung von konstanten prototypischen Bezugspunkten mit ihrer geschichtsspezifischen Wandelbarkeit hervorzuheben, werden in den Analysekapiteln in Anlehnung an Michael Wedels Definition der Filmgeschichte als Krisengeschichte drei filmhistorische Phasen präferiert behandelt, welche für Reinerth" krisenhaft zu begreifenden Transformationen der gesellschaftlichen und kulturellen Perspektivierung, Diskursivierung und medialen 'Fassung' von Erinnerung, Imagination und Subjektivitat" darstellen (S. 138). Diese sind der "frühe Film" 1895-1920, das Autorenkino der Nachkriegszeit ab 1945 bis 1975, sowie das Kino der Jahrtausendwende zwischen 1995 und 2015.  Dabei werden Filme wie Hiroshima, mon amour (FR 1959) und Eternal Sunshine of a Spotless Mind (USA 2004) berücksichtigt, die Imagination auf ambivalente Art und Weise porträtieren.  Durch eine Kombination tradiert verständlicher und innovativer Darstellungspraktiken, so argumentiert Reinerth, erscheinen diese sowohl für empirische Rezipient:innen ihrer Entstehungszeit als auch für spätere Publika bis in die Gegenwart zugänglich (vgl. S. 138).

Reinerths Studie ist als multiperspektivische Matrix konzipiert und hochgradig vielschichtig, gleichzeitig jedoch sehr zugänglich verfasst. Maßstäbe setzt sie bereits in Bezug auf ihren spezifischen Forschungsgegenstand, indem sie eine bisher in der methodischen Tiefe sowie filmhistorischen Breite fehlende Auseinandersetzung mit Imaginationssequenzen präsentiert. Gleichzeitig legt sie beispielhaft die Vorteile einer kognitiv ausgerichteten Theoriegenese offen, darunter besonders deren Anschlussfähigkeit an unterschiedliche bereits vorhandene Forschungsansätze sowie kulturell-kontextuelle Faktoren (vgl. S. 90). Nicht zuletzt kann Reinerths Studie als unverzichtbare Ergänzung zu bestehenden film- und medienwissenschaftlichen Diskursen zu filmischer Erinnerung –  beispielsweise dem Post-Cinema verstanden werden: Zum Beispiel können Beobachtungen zur narrative Unzuverlässigkeit von Erinnerungssequenzen im Kino des 21. Jahrhunderts (vgl. Shaviro 2010, S. 112f.) durch die Untersuchung innerhalb eines Spannungsfelds von universellen, zeitlos verständlichen und kulturspezifischen Elementen neu evaluiert werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Reinerths Verweis auf aktuelle alltagspsychologische und wissenschaftliche Diskurse über Imagination als "Manipulier- und Kontrollierbarkeit sowohl des Geistes als auch der medialen Bilder" (S. 128). Auch strukturell verwandte medienästhetische Phänomene wie die Evokation von Nostalgie könnten abseits einer dezidiert kulturkritischen Herangehensweise (vgl. Sperb 2015) vielschichtiger untersucht werden. All das macht Reinerths Monographie zu einer unschätzbaren Ergänzung für die film- und medienwissenschaftliche Forschung und Lehre.

 

Literatur:

Shaviro, Steven: Post-Cinematic Affect. Winchester: O-Books 2010.

Smith, Murray: Film, Art, and the Third Culture: A Naturalized Aesthetics of Film. Oxford: Oxford University Press 2017.

Sperb, Jason: Flickers of Film: Nostalgia in the Time of Digital Cinema. New Brunswick: Rutgers University Press 2015.

Autor/innen-Biografie

Michael Brodski

Michael Brodski promoviert über das Thema "Rezeptionsprozesse von Kinderfiguren und Kindheit im Film" an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten Kindheitsforschung mit Schwerpunkt auf audiovisuelle Medien, mittel- und osteuropäischen Film, Theorien der Filmerfahrung sowie filmische Erinnerungsforschung. Er ist Co-Herausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung (ZFF) und Lehrbeauftragter an der Universität Wien.

 

Publikationen (Auswahl):

–, "Re-orienting Fairy Tale Childhood: Child Protagonists as Critical Signifiers of Fairy Tale Tropes in Transnational Contemporary Cinema". In: Re-Orienting the Fairy Tale: Contemporary Fairy-Tale Adaptations across Cultures, hg. v. Mayako Murai/Luciana Cardi. Detroit: Wayne State University Press 2020, S. 285-308.

–, "Contemporary Children's Film and Television, CGI, and the Child Viewer's Response". In: The Palgrave Handbook of Children's Film and Television, hg. v. Cassie Hermansson/Janet Zepernick. Basingstoke: Palgrave 2019, S. 549-568.

–, "The Cinematic Representation of the Wild Child: Considering Francois Truffaut's L'Enfant Sauvage". In: Gothic Studies 21/1, 2019, S. 100-113.

Cover: Erinnerung und Imagination im Spielfilm

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Veröffentlicht

2022-11-16

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Rubrik

Film