Bettina Henzler: Filmische Kindheitsfiguren. Bewegung – Fremdheit – Spiel.
Berlin: Vorwerk 8 2022. ISBN: 978-3-947238-34-7. 488 Seiten, 24,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-08Abstract
In ihrer umfangreichen und theoretisch sowie analytisch sehr vielschichtigen Studie Filmische Kindheitsfiguren. Bewegung – Fremdheit – Spiel befasst sich Bettina Henzler mit der filmästhetischen Darstellung von Kindern und Kindheit. Ihre Monografie steht dabei in einer Tradition von internationalen Einzelstudien, welche explizit die Figur des Kindes ins Zentrum film- und medientheoretischer Betrachtungen stellen (vgl. etwa Lebeau 2008, Lury 2010, Stewen 2011). Um definitorische Missverständnisse zu vermeiden, stellt Henzler zu Beginn ihrer Ausführungen klar, dass nicht etwa "Kinderfilme, Filme für ein Kinderpublikum […], sondern Kindheitsfilme, in denen sich Filmschaffende mit Kindern und Kindheit auseinandersetzen" (S. 9), den Forschungsschwerpunkt ihrer Arbeit ausmachen. Gerade aufgrund der diesbezüglich oftmals schwammig vorgenommenen Abgrenzungen in früheren filmwissenschaftlichen Publikationen, die wiederum in neueren Studien häufig gewinnbringend thematisiert sowie etwa auch vom Metagenre des Familienfilms abgegrenzt werden (vgl. Brown 2017), erscheint eine solche akademische Betonung von Alleinstellungsmerkmalen des Kindheitsfilms eminent wichtig; insbesondere als theoretisch-methodische Distinktion einer entsprechenden filmischen Kindheitsforschung gegenüber Überlegungen aus der Kinderfilm- und -medienforschung.
Des Weiteren fokussiert Henzler ihren Analysegegenstand auf das französische Kino. Dabei behandelt sie ein umfangreiches Spektrum von Kindheitsfilmen, welche seit Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind, um filmhistorisch-revisionistisch auch Filme in den Fokus zu rücken, die "in der Filmgeschichtsschreibung bisher zu Unrecht übergangen" (S. 18) worden sind. Ausgangspunkt bilden Überlegungen zum Nachkriegskino der Moderne als Kristallisationspunkt für die zu behandelnden Formen filmischer Kindheitsdarstellungen. Henzler argumentiert dabei symptomatisch, dass im modernen französischen Kino drei wichtige mit Kindheit assoziierte und den Kindheitsfilm daraufhin bestimmende Konstanten für dessen Popularität verantwortlich sind: die Bedeutung der Schule als bevorzugter Ort gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen; der autobiografische Bezug zur eigenen Kindheit als Quelle erster Kinoerfahrungen und damit Ursprungsort der Cinephile vieler Filmschaffender – bereits in einem Film wie Zéro de Conduite (FR 1933) und später etwa prominent in den Werken François Truffauts oder Louis Malles Zazie dans le Métro (FR 1960) vertreten –; sowie das Interesse für das Alltägliche (und damit auch die Alltäglichkeit des Kindes) im französischen Autorenfilm (vgl. S. 18f).
Henzler wählt einen diachronen Zugang, indem sie sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme nicht chronologisch, sondern anhand bestimmter "Kindheitsfiguren" miteinander in Beziehung setzt und dabei Produktions-, Rezeptions- und Artefaktebene berücksichtigt. Anders als etwa Motive, die eine primär semantische Aussagekraft besitzen, erscheinen Figuren als komplexe "filmische Erfahrungs-, Ausdrucks,- und Reflexionsformen [und] als strukturelle und formgebende Einheiten, die in ihrer sinnlich-affektiven Wirkung erst bedeutsam werden" (S. 21f) und damit eine phänomenologische Herangehensweise ermöglichen. Kindheitsfiguren implizieren eine doppelte Perspektivierung, "richten sich auf das filmische Wissen von der Kindheit, aber auch auf die medialen Eigenschaften, die in Kindheitsdarstellungen zur Geltung kommen" (S. 12). Sie sind darüber hinaus im phänomenologischen Sinne als (medien-)reflexiv anzusehen: Filme reflektieren durch den Bezug zu Kinderdarsteller*innen oder dem kindlichen Blick ihre eigene Beziehung zur Kindheit und die damit einhergehenden filmästhetischen Strategien und befördern gleichzeitig auf Zuschauerebene "ein gesteigertes Bewusstsein der filmischen Wahrnehmung" (S. 12). Stets ist es dabei "die körperliche Disposition von Kindern, die im Prozess des Filmens und Filmeschauens eine ganze Reihe ästhetischer, medientheoretischer und ethischer Fragen nach sich zieht" (S. 15).
Henzler benutzt darüber hinaus das Konzept der Kindheitsfigur als eine Art epistemologischen Knotenpunkt, um sehr fundierte Überlegungen über integrative Möglichkeiten unterschiedlicher phänomenologischer (Film-)Theorien anzustoßen: Sich auf Maurice Merleau-Pontys Definition von kinästhetischer Erfahrung als Verschränkung von Wahrnehmung und Bewegung stützend, argumentiert sie, dass Kinderfiguren auf Darstellungsebene "als bewegte Schauende auch die phänomenologische Grundlage der Filmästhetik" (S. 64) verkörpern und reflektieren. Dies geschehe wiederum in kinästhetischen Momenten abseits von narrativer Informationsvermittlung, in denen kindliche Protagonist*innen ein mimetisches Verhalten in Relation zu ihrer Umgebung an den Tag legen würden, indem sie sich etwa dem Fahren von Zügen oder dem Fließen eines Flusses körperlich angleichen. Darüber hinaus würden Kinder in den jeweiligen Filmen als "Stellvertreter der mimetische[n] Zuschauererfahrung" (S. 66) dienen und Rezipient*innen somatisch affizieren, was Henzler unter Berücksichtigung jüngerer, von ihr als rezeptionsästhetisch subsumierter phänomenologischer Ansätze etwa bei Vivian Sobchack, Laura Marks und Thomas Morsch konstatiert. Gleichzeitig würden Kinder in der Art, wie sich etwa die Kamera zu ihnen positioniere, auf die gleichfalls "mimetische Haltung der Regie" (S. 66) verweisen, beispielsweise im Rahmen der sich an Mimik oder körperlichem Aktionsradius des Kindes orientierenden Kamera. Für diesen Umstand dienen wiederum frühere phänomenologische Filmtheorien – etwa von Walter Benjamin, Béla Balázs und Siegfried Kracauer –, welche das produktionsästhetische Potential filmischer Technik betrachten würden, als theoretisches Fundament.
Die Monografie besteht nach einer theoretischen Einführung, in welcher das Kind als reflexive Figur des modernen Kinos vorgestellt wird (vgl. S. 29–49), aus drei Hauptkapiteln, welche jeweils eine Kinderfigur als übergeordnete Kategorie zusammenfassen: Dabei handelt es sich um unterschiedliche Formen kindlicher Bewegung ("Bewegungen"), die spezifische kindliche Perspektive und die erwachsene Wahrnehmung von Kindern als fremd oder anders ("Wahrnehmungen") sowie eine vielseitige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Verkörperungen des kindlichen Spiels ("Ästhetik des Spiels"). So wird etwa die körperliche Welterfahrung eines Kleinkinds in Truffauts L'Argent de Poche (FR 1976) beleuchtet (vgl. S. 79f) und später verdeutlicht, inwieweit das Kind im Rahmen eines Changierens zwischen ausgestellter Körperlichkeit und filmischer Rolle mit einer Slapstickfigur gleichgesetzt werden kann (vgl. S. 86). An anderer Stelle wird anhand von Filmen wie Le Gamin au Vélo (FR/IT/BE 2011) und Moi Ivan, Toi Abraham (FR/BY 1993) ziellose Fortbewegung und der Wechsel von Bewegung zu Stillstand als sinnbildlich für gesellschaftliche Missstände verstanden (vgl. S. 105). Im Rekurs auf ein phänomenologisches Konzept von Fremdheit nach Bernhard Waldenfels argumentiert Henzler, Kinder würden in semidokumentarisch wirkenden Filmen wie Demi-Tarif (FR 2003) deshalb als fremd dargestellt, weil sie auf Darstellungsebene bewusst abseits von erwachsenen sozialen Ordnungen und Identifikationsstrukturen existieren (vgl. S. 181). Gerade die transgressive Kindheitsfigur als Aufbrechen erwachsener Sinnzuweisungen durchzieht Henzlers Studie als roter Faden. Auch die damit einhergehenden Überlegungen zu Kindern als Perspektivfiguren für die Erschließung fremder Orte findet vermehrt Einzug, etwa die Betrachtung der Natur als Übergangsraum anhand von Kurzfilmen wie Crin Blanc (FR 1953) und Rentrée des Classes (FR 1955) (vgl. S. 232). Anhand von beispielsweise Spielzeugen als Übergangsobjekten nach Donald Winnicott, wie einer Puppe in Ponette (FR 1998) oder dem Rollenspiel in La Guerre des Boutons (FR 1960) (vgl. S. 334f), wird mittels eines multiperspektivischen Zugangs das kindliche Spiel untersucht. Medientheoretisch betrachtet trage dieses "Züge einer ludischen Didaktik, die die filmische Medialität in ihrer Vielgestaltigkeit reflektiert" (S. 449).
Henzlers primär phänomenologischer Ansatz wird je nach Forschungsfrage stets sinnvoll erweitert – so werden etwa nicht nur Merleau-Pontys in der Filmwissenschaft bekannte phänomenologischen Schriften, sondern auch seine gleichfalls der Kinderpsychologie und Kindheitspädagogik zuzuordnenden Vorlesungen berücksichtigt (vgl. etwa S. 295). Es entsteht jedoch nie der Eindruck eines theoretischen und methodischen Eklektizismus; stattdessen gelingt es Henzler auf beeindruckende Art und Weise, Theorie und Analyse stets nachvollziehbar und gewinnbringend zusammenzuführen und dabei sehr nah an den einzelnen Filmen sowie auch stets sprachlich zugänglich und präzise zu bleiben. Eine wertvolle Ergänzung bilden auch die zahlreichen, sorgfältig ausgesuchten Filmstills, welche die Ausführungen zusätzlich unterstützen. Darüber hinaus erscheint der herausgearbeitete filmästhetische und medientheoretische Ansatz sehr anschlussfähig für weitere Überlegungen zum grundsätzlichen Wechselverhältnis von Film und Kindheit, beispielsweise als eine auf den Kindheitsfilm ausgerichtete, revisionistische Filmgeschichtsschreibung im Rahmen anderer nationaler Kinematografien. Die Betrachtung von Kindheit als filmästhetische Kategorie ermöglicht auch, im Einklang mit der gegenwärtigen Kindheitsforschung primär biologistische oder auch rein sozialkonstruktivistische Definitionen zu umgehen und nichtdestotrotz potenzielle Unterschiede zwischen kindlichen und erwachsenen Erfahrungswelten zu berücksichtigen (vgl. Gubar 2016). Gleichzeitig wird die Kindheitsfigur als Prämisse für eine sehr innovative Erweiterung der phänomenologischen Filmtheorie gesetzt, was auch abseits des eigentlichen Forschungsschwerpunkts wertvolle Erkenntnisse liefert. Nicht zuletzt könnte sich diese Monografie auch für Forschende und Lehrende anderer mit Kindheitsforschung in Verbindung stehender Disziplinen als interessant erweisen, weil Henzler sehr eindrucksvoll zeigt, inwieweit Film im Rahmen seiner spezifischen Medienästhetik ein nuanciertes Nachdenken über Kindheit ermöglicht.
Quellen:
Brown, Noel: The Children's Film. Genre, Nation, and Narrative. New York: Columbia University Press 2017.
Gubar, Marah: "The Hermeneutics of Recuperation: What a Kinship-Model Approach to Children's Agency Could Do for Children's Literature and Childhood Studies". In Jeunesse. Young People, Texts, Cultures 8/1, Summer 2016, S. 291–310.
Lebeau, Vicky: Childhood and Cinema. London: Reaktion Books 2008.
Lury, Karen: The Child in Film. Tears, Fears and Fairy Tales. London: IB Tauris & Co. 2010.
Stewen, Christian: The Cinematic Child. Kindheit in filmischen und medienpädagogischen Diskursen. Marburg: Schüren 2011.
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