Nicole Brenez: On The Figure In General And The Body In Particular. Figurative Invention In Cinema.

London: Anthem 2023. ISBN:9781839987809. 260 Seiten, 80.00£.

Autor/innen

  • Joachim Schätz

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2025-1-07

Abstract

Manchmal dauert es ein wenig. Im Jahr 2000 beendete Bill Routt, frisch pensionierter Filmwissenschafts-Professor in Melbourne, seine aufgeregte Rezension von Nicole Brenez' De la figure en général et du corps en particulier: l'invention figurative au cinéma (1998) mit der Hoffnung, "that Brenez's book – all of it – will soon be translated into English so that her insightful and provocative work can annoy and intrigue an even wider audience than it has until now." (Routt 2000) Ein Vierteljahrhundert später ist es soweit. 2023 erschien Brenez' Aufsatzsammlung bei Anthem Press auf Englisch. Dass die gründliche, klare Übersetzung von dem US-Amerikaner Ted Fendt, einem Filmemacher (Short Stay, 2016, Outside Noise, 2021) und cinephilen Filmpublizisten (Herausgeber von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, Wien: FilmmuseumSynema 2016), besorgt wurde, ist dabei schon ein Hinweis auf die Positionierung des Buchs zwischen den Stühlen von experimentierfreudiger Filmkritik und kunstwissenschaftlicher Begriffsarbeit. Dieser Spagat bildet sich bis heute in der Arbeit von Brenez ab, die als Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Paris III – Sorbonne Nouvelle eine rege Tätigkeit als Filmprogrammiererin beibehalten hat.

Vollständig ist die nun vorliegende Übersetzung des Buchs bei weitem nicht: Von 44 Texten im französischen Original fanden nur 24 Eingang, und die Auslassungen, verteilt über die Buchstruktur, bleiben im Buch irritierend unkommentiert. Die 260 Seiten enthalten trotzdem mehr als genug, um – im Sinne Routts – beim Lesen zu faszinieren wie aufzustören. (Und lohnender als das Weiterwarten auf eine deutsche Übersetzung ist das Lesen ohnehin.) Diese Veröffentlichung bietet nicht zuletzt eine neue Gelegenheit, sich mit einem frankophonen Filmdenken der Figuration auseinanderzusetzen, das im englischen und deutschen Sprachraum nach wie vor mäßig rezipiert ist. Als weitere Vertreter wären hier Philippe Dubois, Luc Vancheri und (in Teilen seines Werks) Jacques Aumont zu nennen, die sich wie Brenez sowohl an einer französischen Filmtheorie des Fotogenies als auch grob an den Theoriekoordinaten Erich Auerbach, Gilles Deleuze und Jean-François Lyotard orientieren. Auch innerhalb dieser Gruppe ist Brenez' Beitrag in seinen Verfahren und Schwerpunkten distinkt.

Im Zentrum ihres Buches steht die simple Feststellung, dass in der fotografischen Filmaufnahme Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge nie einfach 'gezeigt' würden. Noch im neutralsten Abfilmen steckt immer auch eine Bearbeitung der Erscheinungen, ob in der einzelnen Einstellung, im Schnitt oder über einen gesamten Film verteilt. "[O]ne must first consider that figuring anything is not a given. Indeed, it never will be, perhaps not even from shot to shot." (S. 20) Wenn hier (im Englischen wie im französischen Original) von "figures" die Rede ist, geht es also nicht um eine "Figurenanalyse" im Sinne Jens Eders, welche die Bildung von Figuren – im Sinne von dramatis personae – als einigermaßen stabile, mit sich identische Erzähleinheiten untersucht. Stattdessen betont Brenez' Perspektive einer figuralen Analyse, wie Filme im balancierten Zusammenspiel von Bildgestaltung, Schnitt und Erzählung mit Gestalten (im Englischen: figures, aber eben nicht characters) auf Weisen operieren, die ganz andere Effekte zeitigen können.

Programmatisch dienen ihr in den Einstiegskapiteln zur Erläuterung ihres Forschungsinteresses Beispiele aus dem Horror- und Actionkino: Die schemenhaften Doppelgängerwesen aus Abel Ferraras Body Snatchers (1993) werden in einem beeindruckenden Close Reading auf Spezifik und Inkongruenzen ihres Auftretens (wie, von wo, mit welchen visuellen Reimen und Kontrasten) und deren Zusammenspiel mit Beziehungsachsen und Motivhaushalt des Films hin gelesen. Auch im weiteren Verlauf des Buchs bleiben Monster – von den mehrdeutigen Silhouetten in Cat People (1942) bis zu der Differenz-Collage des titelgebenden Aliens in Predator (1987, mit 'Dreadlocks' und Vulva-Mund) – eine wiederkehrende Referenz für die recht unterschiedlichen "figurativen Ökonomien" (S. xii), die Filme mit ihren Körperbildern und -tönen je ins Werk setzen können und die statt Wiedererkennbarkeit abzusichern auch Unähnlichkeit, Uneindeutigkeit, Vermischung oder Transformation akzentuieren können.

Insofern dient 'der Körper' dieser Aufsatzsammlung als offene Größe, die weder einen Kern authentischer Empfindung oder Erschütterung signalisieren soll (im Gegensatz zu manch anderem in der körperbesessenen Filmtheorie der 1990er Jahre), noch die völlige Verfügung von Kinotechnologien und -ökonomien über das Menschliche. Mit 'Körpern' (durchaus im geometrischen Sinn) hat die fotografische Filmaufzeichnung ständig zu tun und Brenez' methodische Wette ist, dass es lohnt, Filme daraufhin zu analysieren, wie sie diese Körper organisieren – und auch was diese Körper in den Filmen tun, die ja eben doch nie nur geometrische Figuren sind, sondern eigene Vermögen und Neigungen mitbringen. Neben Menschen und anthropomorphen Monstern gehören in die Reihe untersuchter Körper ebenso Tiere (Lassie Come Home, 1943) oder Fahrzeuge (in einem schönen, leider unübersetzten Aufsatz im französischen Original etwa ein Segelschiff, das einem Dokumentarfilm von Heinrich Hauser Parameter seiner Darstellung selbst vorgibt). Aber auch die physischen Elemente des kinematografischen Basisapparats werden gelegentlich als Körper gefasst, wenn es Filme darauf anlegen, diese auszustellen. Das ist etwa der Fall in einer nuancierten Untersuchung von Paul Sharits' Filmen und programmatischen Texten im Spektrum der Experimentalfilmbewegung des 'strukturellen Films', die Brenez erfrischenderweise nicht als monolithische Einheit behandelt.

Brenez betont, sie würde mit ihren figuralen Analysen primär Fragen ausentwickeln, die die jeweiligen Filme mittels ihrer "figurativen Logik" (S. xiv) selbst stellen würden. In diesem Gestus steckt etwas vom scheinnaiven 'Schauen wir einmal, was da im Filmbild genau steht', das für die strukturalistische Methodik der "analyse textuelle" in der französischen Filmwissenschaft der späten 1960er und der 1970er Jahre prägend war. Wie dort fügen auch bei Brenez allerhand Theorie-Setzungen dem kleinteiligen Filmbilder-beim-Wort-nehmen ihren eigenen Drall hinzu. Diese betreffen hier aber nicht mehr so sehr freudomarxistische Ideologiekritik (und wenn doch, mehr Adorno als Althusser), sondern vor allem einen historisch weiten kunsttheoretischen und philosophischen Gelehrtenkanon, in dem Heraklit, Giordano Bruno und Takuan Sōhō neben Friedrich Nietzsche, Sergei Eisenstein und Roland Barthes stehen.

Die jeweilige Auswahl der Stichwortgeber:innen mutet gelegentlich eklektisch und kontextuell unterbegründet an, wenn etwa an John Woos Hongkong-Actionfilmen abwechselnd Sophokles, Xenophon, Hegel und Lessing ihre Brauchbarkeit erweisen sollen. Zugleich zeigt gerade das Woo-Kapitel, mit dem Brenez nach der Einführung loslegt, den Erkenntniswert ihrer Art, nicht eilig über die Filmbilder hinweg zur Repräsentation zu springen. Wo etwa der Neoformalist David Bordwell in seinen konzisen Anmerkungen zu Woo in Planet Hong Kong ätzte, dieser würde in seinen wuchernden Actionszenen um 1990 "nie eine Einstellung verwenden, wenn es auch drei tun" (Bordwell 2011, S. 69), findet Brenez in Hard Boiled (1992) statt barocken Anschwellens etwas, das in solchen gedehnten Bildfolgen gelesen und ernst genommen werden will. Da würden erstens Helden und Schergen in Zeitlupe in ähnlichen Bewegungen und Bildpositionen direkt hintereinander montiert, bis sie gemeinsame Collage-Körper ausbilden. Und zweitens werde das Niederstürzen von tödlich getroffenen Gangsterkörpern durch mehrere Einstellungen hindurch verlangsamt und zur Himmelfahrt umgebogen (S. 9-12).

Die Filmauswahl ist, soviel dürfte sich schon angedeutet haben, breit gefächert. Von Österreich aus gesprochen steht hier Arnold neben Arnold: Found-Footage-Filmer Martin Arnold kommt ebenso vor wie Schwarzenegger, der nicht nur als Hauptdarsteller von Predator einem Text das Schlussbild gibt, sondern an anderer Stelle auch als Terminator (1984). Dazwischen findet sich auch manches akademisch Kanonischere: Citizen Kane (1941) ist für Brenez ein Film über – erraten! – Menschenkörper, die in ihren Umgebungen entweder zu groß oder zu klein wirken. Nicht zuletzt macht der Band auch entschieden Lust, manchen weniger prominenten französischen Autor:innenfilm zu sehen, etwa Philippe Garrels Liberté, la nuit (1983), den sich Brenez gleich zweimal vornimmt, oder – über das Buchcover tanzend – die Teenager-Romanze Travolta et moi (1993) von der hierzulande selten gezeigten Patricia Mazuy (die aktuell mit La Prisonnière de Bordeaux ihren bestbesprochensten Film seit Jahren hat: ein Fall für weitere Untersuchungen?).

Der Band versammelt überwiegend Texte, die für andere Zusammenhänge geschrieben wurden und im Umfang zwischen zehnzeiligem Aperçu und theoriehistorischem Zwanzig-Seiter variieren. Dennoch bleibt der Bezug der Texte zu Brenez' übergreifenden Fragen figuraler Analyse meist klar. Ihr Schreibstil pendelt dabei durchgehend zwischen apodiktischer Zuspitzung und einem Zug zur Listenbildung (vier Eigenschaften, drei Ebenen, fünf Aspekte…), der Beobachtungen und Unterscheidungen eher vorsichtig durchsortiert als sie im Bauplan einer meisterlichen Lektüre zu verschalten. Als Maßstab für den Wert dieses Buchs scheint wenig sinnvoll, ob all die versammelten Befunde gleichermaßen einleuchten (manches bleibt dunkel, manches wirkt mehr gewollt als gefunden). Wichtiger ist, ob Brenez' Fragerichtung und Methodik das Zeug haben, im eigenen Filmsehen und -schreiben einen Unterschied zu machen, und diesbezüglich fällt mir das Urteil leicht: Wer öfter einmal um Begriffe dafür gerungen hat, wie Filme an Körpern arbeiten (was zum Beispiel in Mond, 2024, Kurdwin Ayub als Regisseurin/Autorin und Florentina Holzinger als Hauptdarstellerin gemeinsam an Körpervariationen herstellen, vom beredten Rückenportrait übers Schminkpuppe-Werden bis zum Tanz im Stroboskoplicht), wird mit On the Figure in General and the Body in Particular viel anfangen können.

 

Literatur:

Bordwell, David: Planet Hong Kong. Popular Cinema and the Art of Entertainment, 2. Aufl., Madison, Wisconsin: Irvington Way Institute Press 2011.

Brenez, Nicole: De la figure en général et du corps en particulier: l’invention figurative au cinéma. Paris/Brüssel: De Boeck Université 1998.

Routt, Bill: "De la figure en général et du corps en particulier: l’invention figurative au cinéma". In: Screening the Past, 1.3.2000. http://www.screeningthepast.com/issue-9-reviews/de-la-figure-en-general-et-du-corps-en-particulier-linvention-figurative-au-cinema/, abgerufen am 31.03.2025.

Autor/innen-Biografie

Joachim Schätz

Film- und Medienwissenschaftler, Lektor am tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, dort 2019–2024 Universitätsassistent (post doc). Mit September 2025 beginnt sein FWF-Projekt "Lehrfilmkomik: Lachen und/über Lernen" (University of Maryland, College Park; University of California, Berkeley; Ludwig Boltzmann Institute for Digital History, Wien).

2017–2019 Wissenschaftskoordinator am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft. 2006–2013 Filmkritiker der Wiener Stadtzeitung Falter, 2014–2018 Mitglied der Programmkommission der "Duisburger Filmwoche. Festival des deutschsprachigen Dokumentarfilms". Forschungsschwerpunkte: Gebrauchszusammenhänge des Films, Poetiken und Politiken der Komödie, Theorien des Details.


Publikationen:
(Auswahl)

Katrin Pilz/Joachim Schätz (Hg.): Educational Film Practices. Themenheft des Journals Research in Film and History, 5 (2023) 5, film-history.org/issues/issue-5-educational-film-practices.

Drehli Robnik/Joachim Schätz (Hg.): Gewohnte Gewalt. Häusliche Brutalität und heimliche Bedrohung im Spannungskino. Wien 2022.

Joachim Schätz: Ökonomie der Details. Österreichs Industrie- und Werbefilm zwischen Rationalisierung und Kontingenz (1915-1965). München 2019.

Daniel Eschkötter/Lukas Foerster/Nikolaus Perneczky/Simon Rothöhler/Joachim Schätz: Amerikanische Komödie. Kino | Fernsehen | Web (mit Daniel Eschkötter, Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky und Simon Rothöhler). Berlin 2016.

Elisabeth Büttner/Joachim Schätz (Hg.): Werner Hochbaum. An den Rändern der Geschichte filmen. Wien 2011.

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Veröffentlicht

2025-05-14

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Rubrik

Film