Maren Scheurer: Transferences. The Aesthetics and Poetics of the Therapeutic Relationship.

London u. a.: Bloomsbury Academic 2019. ISBN: 9781501352447. 336 S., Preis: € 128,50.

Autor/innen

  • Simon Schneider

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-2-11

Abstract

Die interdisziplinäre Brücke zwischen Psychotherapie und Kunst schlugen bereits 1926 der deutsche Regisseur Georg Wilhelm Pabst und der Produzent Hans Neumann, als sie, sehr zum Missfallen Sigmund Freuds, den Stummfilm Geheimnisse einer Seele veröffentlichten. Das von der Ufa als "psychoanalytischer Film" beworbene Werk stellt nicht nur die Entstehung einer Phobie durch furchterregende Traumsequenzen, sondern auch die anschließende psychotherapeutische Behandlung dar und integriert diese in den Spielfilm. Diese Verbindung zwischen Kunst und Psychotherapie jedoch steht bis heute auf wackeligen Pfeilern, die von Zweifeln an der Sinnhaftigkeit einer gegenseitigen Zuwendung geprägt sind. Maren Scheurer belegt hingegen mit ihrem Buch Transference. The Aesthetics and Poetics of the Therapeutic Relationship, dass dieser interdisziplinäre Austausch zu einem gegenseitigen Erkenntnisgewinn beitragen kann, indem sie die Berührungspunkte der beiden Disziplinen beschreibt und gemeinsame Aspirationen erkundet. Die literaturwissenschaftlich und anglistisch studierte Autorin verortet ihre erste Monografie an einer beidseitig im Fachdiskurs selten bis gar nicht beachteten Schnittstelle, die sich vor allem für die Ästhetik von realer und fiktiver Psychoanalyse und deren Auswirkung auf beide Disziplinen interessiert. Transference lässt sich so als Plädoyer für einen gemeinsamen (und gegenseitigen) Lernprozess von Psychotherapie und Kunst lesen, mit dem sich Scheurer bereits in ihrer Promotionsarbeit 2016 beschäftigt hatte. Mit Blick auf ihre Arbeit in der vergleichenden Literaturwissenschaft räumt sie ihren Überlegungen zu den potentiellen gegenseitigen Anleihen von Psychotherapie und Literaturanalyse im Vergleich zu den übrigen Kunstformen einen dementsprechend größeren und tiefgründigeren Rahmen ein.

Im Zentrum der Publikation steht die Frage, wieso Kunst und Psychotherapie überhaupt aneinander interessiert sein sollten. Scheurer sieht Ähnlichkeiten in der unvermeidbaren Subjektivität, von welcher beide Disziplinen betroffen sind. Sie seien deswegen einander schon allein ontologisch zugewandt, und könnten so sowohl wissenschaftlich erprobte Techniken der jeweils anderen Disziplin entleihen, als auch nach einer Rechtfertigung für ihre Subjektivität im um Objektivität bemühten wissenschaftlichen Diskurs suchen (vgl. S. 116). Diese konstituiere sich durch zwei zentrale Berührungspunkte: Narrativität und Übertragung. Die Konstruktion von sinnstiftenden Narrativen gilt in der Psychotherapie als Schlüssel zum therapeutischen Prozess. Scheurer interessiert sich explizit für die Rolle dieser therapeutischen Beziehung innerhalb des Narrativs und bietet diverse Metaphern an, um das Verhältnis zwischen Therapeut*in und Patient*in zu interpretieren. Die Grundlage dieses Verhältnisses bildet der zentrale Begriff der "Übertragung". In einem therapeutischen Verhältnis komme es ständig zu einer Wechselwirkung zwischen Übertragung und Gegenübertragung – zwischen Patient*innen und einer Therapeut*innen. Beide Parteien würden so zu Protagonist*innen (und Antagonist*innen) in einem ständig neu verhandelten Rollenspiel. Das somit entstehende Spannungsfeld zwischen den Akteur*innen und der so geöffnete Interpretationsraum sind für Scheurer von besonderem Interesse.

Die erste Hälfte der Publikation legt eine theoretische Grundlage für die praktische Analyse in der zweiten Hälfte. Scheurer wirft einen kritischen und differenzierten Blick auf theoretische Ansatzpunkte von Rolf Haubl, Wolfgang Mertens, Jacques Derrida, Shoshana Felman und diversen anderen Autor*innen, um eine Verbindung zwischen Psychotherapie und Kunst auf der Basis der therapeutischen Beziehung herzustellen. Sigmund Freud ist erwartungsgemäß der konstanteste Wegbegleiter auf dieser Suche: Scheurer interessiert sich ebenso für seine wissenschaftlichen Ausführungen wie für seine selbstreflexiven Erkenntnisse in Bezug auf dessen eigene therapeutischen Beziehungen. Obwohl Freud sich selbst für eine absolute Distanziertheit der Therapeut*innen auf der Übertragungsebene aussprach, sehen modernere Theorien der Psychoanalyse die Gegenübertragung als unvermeidbar und sogar wünschenswert an. In dieses Spannungsfeld versucht die Publikation einzutreten und zu verhandeln, wie Kunst und Psychotherapie zu einem progressiven Übertragungsprozess mit Blick auf ihr Autor*innen-Rezipient*innen-Verhältnis einladen – und wo dessen Grenzen liegen.

Die Entstehung eines therapeutischen Verhältnisses zur gemeinsamen Erkundung einer Patient*innen-Geschichte werfe mithin die Frage der Autor*innenschaft auf, denn in der Schaffung eines solchen therapeutischen Narrativs würden Therapeut*in und Patient*in stets als Co-Autor*innen und Co-Analysand*innen fungieren. Die Narrative der Patient*innen könnten in dieser Verhältnis-Matrix in unterschiedlich gewichteter und ständig neu verhandelter Wechselwirkung neu interpretiert und geschrieben werden. Psychotherapie biete somit, ebenso wie Kunst, einen "Safe Space" (S. 102), um neue Narrative zu erproben und alte Verhaltensweisen und Beziehungen zu reinterpretieren. Der Kunstform des Films etwa würde durch eine solche Interpretation des filmischen Raums als "Spielwiese" für individuelle Übertragungen qua Psychotherapie ein breites Spektrum an sehr persönlichen Interpretationsfeldern öffnen, welche die Deutungsgewalt über das Werk zugunsten der Rezipient*innen verschieben. Scheurer kratzt an dieser Stelle an diversen Überlegungen, wie Kunst in den therapeutischen Prozess einzubinden wäre, sie beschreibt etwa die Filmtherapie, das Psychodrama und die Bibliotherapie (S. 126ff). Der Fokus der Publikation bleibt jedoch einseitig auf der Interpretation von psychotherapeutischen Verhältnissen unter Zuhilfenahme weitläufig verbreiteter filmdramaturgischer Begriffe in einer eher metaphorischen Funktion, um therapeutische Übertragungsprozesse in Worte fassen zu können. Den oberflächlich intimen Raum der Therapiesitzung, häufig ein Büro oder Therapiezimmer, sieht Scheurer etwa durch Narration und Übertragung zu einem imaginären Raum transformiert, der Erfahrungen aus der Vergangenheit durch Performanz wiederbeleben könne und ein breites Spektrum zwischen Tummelplatz und Kriegsfeld abdecke. In diesem Raum würden der Subjektivität und Kreativität der Patient*innen Entfaltungen ermöglicht, welche man für gewöhnlich nur der Kunst zusprechen würde – man könnte ihn guten Gewissens als einen filmischen Raum interpretieren. Scheurer zieht hier eine Parallele zwischen der Beziehung zwischen Künstler*in und Kunstwerk und der therapeutischen Beziehung. Das Kunstwerk selbst könne zu einer therapeutischen Persönlichkeit erwachsen, welche in die Beziehungsmatrix der Patient*innen eintritt und einen psychotherapeutischen Prozess auslöst (S. 101ff).

Im zweiten Teil der Publikation wendet sich Scheurer fünf Kunstwerken der Gattungen Literatur, Theater und Film zu, welche sowohl inhaltlich in ein psychotherapeutisches Setting eingebettet sind, als auch und insbesondere in ihren Ästhetiken an die im ersten Teil erarbeiteten Theorien anknüpfen. Alle gewählten Werke stellen, getreu dem Titel dieser Publikation, das therapeutische Verhältnis in den Vordergrund. Portnoy's Complaint (1969) wird als metafiktionales Werk interpretiert, welches sein Publikum in die Rolle von Analysand*innen versetzt: "The confrontation with the analyst […] and the engagement with the narrative possibilities of psychoanalysis are reflected in a narrative design in which readers are drawn into Portnoy's 'game' and take on the analyst's position" (S. 142). Mit The Life & Times of Michael K (1983) verhandelt Scheurer das Spannungsfeld zwischen Narrativität (Subjektivität) und Faktensuche (Objektivität) und diskutiert die Konstruktion von Persönlichkeit. Alias Grace (1996) dient zur Erkundung von (sexuellen) Beziehungen zwischen Therapeut*innen und Patient*innen, welche als Machtverhältnisse zwischen Autor*innen und Interpretierenden umgedeutet werden. Durch das Theaterstück Equus (1973) wird die Frage gestellt, ob die Analyse einer Persönlichkeit deren Kreativität zerstört und, im Anschluss daran, ob die vermeintlich in der Therapie erstrebte 'Normalisierung' das Individuum auflöst (so schreibt Scheurer: "Alan and Dysart tell their stories in the way they do – with narrative incoherence and fantasy enactments – not because they are mad but because they are part of a reconstructive therapeutic process that demands this kind of storytelling", S. 232). Das Krankenzimmer wird hierbei als Bühne reinterpretiert – sowohl im Theater als auch in der Realität. In Treatment (2007-2010) würde schließlich die Serialität von Psychotherapie nachahmen, die Dimensionen des therapeutischen Verhältnisses erkunden und die Bedeutung des gesprochenen Wortes sowohl für Psychotherapie als auch TV-Serien herausheben. Die Verbindungspunkte zur Psychotherapie, welche im ersten Teil der Publikation herausgestellt wurden, werden in den Analysen wieder aufgegriffen und diskutiert. Dabei tragen die Ausführungen der ersten Kapitel durch ihre theoretische Grundlage zum tieferen Verständnis der Interpretationen bei, insbesondere wenn die Balance von Nähe und Distanz zwischen Therapeut*in und Patient*in, Autor*in und Rezipient*in in ihrer teils sehr dynamischen Rollenzuweisung diskutiert wird. Die Verhältnisse der Figuren in den von Scheurer ausgewählten Werken würden die angesprochene Bedeutung der Interaktion und Übertragung im therapeutischen Verhältnis widerspiegeln, welche in ihren Auswirkungen auf den Therapieprozess und ihrer Verbindung zu Beziehungsmustern in den Künsten untersucht wird. Um diese Beziehungsmuster zu analysieren und Erkenntnisse über die beteiligten Rollen zu gewinnen, erwägt Scheurer einen Austausch der analytischen Werkzeuge von Psychotherapie und Kunstwissenschaft.

Zusammenfassend ist in Transference aus psychotherapeutischer Sicht sicherlich die Frage nach dem erforderlichen Grad von Gegenübertragung am diskussionswürdigsten – wird sie doch seit der Geburtsstunde der Psychotherapie als Disziplin ständig neu verhandelt. Kunstwissenschaftler*innen werden ihren Blick vermutlich auf die (vergleichsweise knappen) Erkenntnisse zur Autor*innenschaft und Performativität im therapeutischen Verhältnis und dessen Prozess richten, aber auch auf die gezogenen Parallelen zwischen psychotherapeutischem und performativem Raum im Allgemeinen, deren Analogie im kunstwissenschaftlichen Diskurs ein Novum stellt. Nur sehr knapp aufgegriffen wird leider der Diskurs um die tatsächliche, therapeutische Wirkung von filmischen oder anderen künstlerischen Werken. Dies ist insbesondere deswegen bedauernswert, da in dieser Disziplin die ästhetische Komponente der Kunst und deren Wirkweise noch selten in Betracht gezogen werden. Möglicherweise fehlt der Filmtherapie noch eine zuverlässige, objektive Auswahlmethode für "therapeutische Filme", um in diesen wissenschaftlichen Diskurs vollwertig eintreten zu können – wobei auch hier argumentiert werden könnte, dass Subjektivität durchaus ihren Platz in diesem Feld hat. Nichtsdestotrotz ist Maren Scheurer ein vielfältiges, interdisziplinäres Werk gelungen, welches einen der wenigen Anstöße zum förderlichen Austausch zwischen der Psychotherapie und den Künsten geben kann.

Autor/innen-Biografie

Simon Schneider

Simon Schneider, geb. 1994 in Dernbach (Deutschland), studiert Filmwissenschaft im Master of Arts an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Mai 2020 schloss er seinen Bachelor of Arts im Fach Filmwissenschaft an derselben Universität mit einer Arbeit über die „Dimensionen der rezeptiven und aktiven Filmtherapie“ ab. Er ist neben seinem Studium u. a. am Auswahlverfahren für den Dokumentarfilmwettbewerb beim Filmfestival FILMZ – Festival des deutschen Kinos in Mainz beteiligt.

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Veröffentlicht

2020-11-18

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Film