Martin Poltrum/Bernd Rieken/Otto Teischel (Hg.): Lebensmüde, todestrunken. Suizid, Freitod und Selbstmord in Film und Serie.
Berlin: Springer 2020. ISBN 978-3-662-60522-6. 561 Seiten, 35, 97€.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-11Abstract
In Lebensmüde, todestrunken setzen sich Martin Poltrum und Bernd Rieken zum dritten Mal im Rahmen eines Sammelbandes mit der Darstellung einer der Psychotherapie nahen Thematik in Film und Serie auseinander. Nach Seelenkenner, Psychoschurken: Psychotherapeuten und Psychiater in Film und Serie (2017) sowie Zocker, Drogenfreaks & Trunkenbolde: Rausch, Ekstase und Sucht in Film und Serie stehen diesmal Suizid, Freitod und Selbstmord im Fokus der Untersuchung. Dass diese Begriffe nicht synonym verwendet werden können, wird bereits im Vorwort des Sammelbandes herausgestellt, der u.a. von insgesamt 36 Expert*innen aus den Disziplinen Philosophie, Psychologie und Psychotherapie, Rechtswissenschaften, Kommunikationswissenschaften, Film- und Fernsehwissenschaften verfasst wurde. Dabei kommen teilweise grundverschiedene Perspektiven auf die Filmanalyse als heuristische Methode zur Untersuchung von Film zum Vorschein, was zu Widersprüchen und Gegensätzen auf der einen Seite, aber auch zu unerwarteten Zusammenhängen und Anregungen zur eigenen Beschäftigung mit der Selbstmord-Thematik innerhalb und außerhalb des filmischen Mediums auf der anderen führt. Unterstützt werden die Herausgeber – beide sind Universitätsprofessoren für Psychotherapiewissenschaften an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien – von Otto Teischel, der seit 2010 als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Klagenfurt tätig ist und im dortigen Wulfenia Kino regelmäßige Filmvorführungen unter dem Titel "Schau hin…" – Kino und Gespräch organisiert.
Die Texte in Lebensmüde, Todestrunken sind nach groben Überthemen strukturiert, eines davon ist etwa die Auseinandersetzung mit "der Liebe" im Kontext von Suizid in den Filmen A Single Man (R: Tom Ford, USA 2009) und Vertrag mit meinem Killer (R: Aki Kaurismäki, FIN/GB/D/SWE 1990), ein anderes der altruistische Suizid in Augen der Angst (R: Michael Powell, GB 1960) und Gran Torino (R: Clint Eastwood, USA 2008). Außerdem geht es um Suizid als Folge einer psychischen Störung in Der Mieter (R: Roman Polanski, FR 1976) und Das Fest (R: Thomas Vinterberg, DK 1998). Dass insbesondere bei letzterer Thematik es nicht darum geht, den Figuren in den Filmen mit einer konkreten Diagnose zu begegnen, sondern mit diesen in einen psychoanalytischen Dialog zu treten, stellen die Herausgeber bereits in ihrem Vorwort fest (vgl. S. VI). Im Fokus der Texte stehen somit neben Figurenanalysen auch die Auseinandersetzungen mit politischen Themen, wie etwa dem assistierten Suizid, oder ethischen Fragestellungen, etwa jene der legitimen Darstellung von Selbstmordattentäter*innen. Hier zeigt sich besonders in den Texten von Hans-Joachim Maaz zu Paradise Now (R: Hany Abu-Assad, PSE/NL/ISR/D/FR 2004) und von Jochen Kölsch zu Alles für meinen Vater (R: Dror Zahavi, D/ISR 2008) ein interessanter Diskurs, der die verschiedenen Ansätze der Wissenschaftler*innen verdeutlicht: Während Maaz in Bezug auf Paradise Now als Psychoanalytiker nach psychischen Störungsmechanismen bei den Protagonisten des Films sucht und Kritik an der Ethik des Films und sogar an dessen Rezensionen übt, legt der langjährige Fernsehredakteur Kölsch seinen Fokus auf die Dramaturgie, auf die mörderische Tat als Medienereignis (vgl. S. 42) und beantwortet damit die Frage "Darf ein Film freundlich ein Terrorattentat erzählen?" (S. 38) aus einer anderen, von der Person des Attentäters losgelösten Perspektive. Obwohl die unterschiedlichen fachlichen Verortungen der Autor*innen ihnen also verschiedene Perspektiven auf dasselbe Phänomen diktieren, besteht gleichzeitig in anderen Punkten Einigkeit, etwa wenn es darum geht, Selbstmordattentäter*innen ein Gesicht und eine Geschichte zu geben, um das System besser zu verstehen, durch welches sie zu Attentäter*innen wurden.
Eine weitere zentrale Fragestellung, die sich kapitelübergreifend durch mehrere Texte zieht, ist die Interpretation des Selbstmords im Zuge des selbstbestimmten Handelns. So argumentiert Jutta Menschik-Bendele in ihrem Beitrag zu Der englische Patient (R: Anthony Minghella, USA/UK 1996) etwa mit Svenja Flaßpöhlers Publikation Mein Tod gehört mir: Über selbstbestimmtes Sterben (2015), dass "der Ruf nach Freitodhilfe den modernen Willen nach Selbstbestimmung insofern auf die schwindelerregende Spitze treibt, als wir nun nicht einmal mehr am Lebensende die Zügel aus der Hand geben wollen" (S. 57). Ebenfalls für den Selbstmord als Akt der Selbstbestimmung argumentiert einige Seiten weiter Jan Philipp Amadeus Aden, wenn er in Bezug auf Das Meer in mir (R: Alejandro Amenábar, ESP/FR/ITA 2004) die umgekehrte Frage aufwirft: "Wie soll jemand autonom handeln, dessen Selbstbestimmung von den Normen anderer abhängig ist?" (S. 66). Dirk Arenz argumentiert mit Die Invasion der Barbaren (R: Denys Arcand, CAN/FR 2003) dann sogar dafür, dass Selbstbestimmung in der kapitalistischen Gesellschaft mit Blick auf den assistierten Suizid vor allem eine Frage der monetären Umstände sei (vgl. S. 84f). Felicitas Auerspergs Text widerspricht all jenen Affirmationen der Selbstbestimmung in ihrer Analyse der Serie Tote Mädchen lügen nicht (USA seit 2017): "Tatsächlich könnte der Suizid auch als absolute Unfreiheit dargestellt werden, ist er doch der Beweis dafür, dass Leidensdruck so allesbestimmend werden kann, dass er sämtliche Möglichkeiten des Weiterlebens aussichtslos erscheinen lässt" (S. 544).
Im Zusammenbringen derartiger Widersprüche und Argumente aus unterschiedlichen Fachdisziplinen liegt die Stärke des Sammelbandes Lebensmüde, Todestrunken. So steckt doch auch die Diskussion um Suizid, Selbstmord und Freitod selbst voller verschiedener Meinungen und sie muss diese aushalten. Überzeugend in ihrer Analyse und Argumentation sind fast alle Beiträge, besonders hervorgehoben sei jedoch auch noch zum einen Diana Aduados Untersuchung der traumatischen Aspekte des Vietnamkrieges im Zusammenhang mit Die durch die Hölle gehen (R: Michael Cimino, USA 1978). Dieser bezieht sich auf Kulturtechniken zur Desidentifikation, die Verengung des Gesichtskreises und den Zerfall des Zeitempfindens, das Unheilsame der Nichterzählbarkeit und die Scheinexekution als Folterinstrument, um den Vietnamkrieg in die Psychoanalyse des 21. Jahrhunderts zu übersetzen und dadurch die Schrecken des Kriegs ersichtlich zu machen – was vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der Ukraine umso dringlicher erscheint. Zum anderen gräbt der Text von Gabriela Pap mithilfe von A Single Man (R: Tom Ford, USA 2009) unter der Oberfläche des individualpsychologischen Themas der 'verlorenen Liebe'. Dieses wird in Paps Beitrag anhand der Beziehung der beiden Protagonisten – einer lebendig, einer verstorben – als treibender Faktor hin zum Tod des noch lebendigen Partners betrachtet. Pap gelingt es mit filmanalytischen Mitteln, ein tiefes Verständnis für die untersuchte Figur zu entwickeln und eine Verbindung zur Traumaforschung zu spannen. Das ist besonders, weil Pap dafür die Nacherzählung der Handlung stets mit wissenschaftlichen Betrachtungen und Analysen anreichert, während die meisten Autor*innen des Sammelbands eine recht strikte Trennung zwischen Zusammenfassung der Handlung und Analyse vornehmen.
Die Beiträge im Sammelband unterschieden sich stilistisch nur wenig – meist wird Bezug auf einen einzelnen Film oder eine Serie genommen, dieser/diese nacherzählt und anschließend eine Analyse anhand des eigenen Fachgebiets der Expert*innen vorgenommen – eine Vorgehensweise, die Varianz, Diversität und eine widerstreitende Heterogenität der Methoden manchmal vermissen lässt. Bei den meisten Autor*innen klingt eine Begeisterung für das behandelte Material an, was der wissenschaftlichen Betrachtung jedoch nicht im Wege steht und durchaus seinen Platz in einem Sammelband hat, der sich eben auch mit einem hochemotionalen Thema wie Suizid, Selbstmord und Freitod beschäftigt. Dabei verschwimmt jedoch stellenweise die nötige Selbstpositionierung der Autor*in mit scheinbar allgemeingültig getroffenen Aussagen. Nichtsdestotrotz ist Lebensmüde, Todestrunken auch eine Erinnerung daran, dass sich Wissenschaft und Begeisterung nicht zwingend ausschließen müssen – insbesondere dann, wenn Gefühle (und Pathologien!) im Zentrum der Forschung stehen. Das Spektrum des ausgewählten Materials erstreckt sich vom frühen Kino, zu dem Dennis Henkel in seinem Beitrag eine Gesamtbetrachtung von 1899 bis 1933 beisteuert, bis hin zu einer modernen Netflix-Serie wie die angesprochene Tote Mädchen lügen nicht. Dabei werden vor allem europäische und amerikanische Produktionen besprochen, was auch bedeutet, dass Themen der kulturellen Differenz größtenteils unbeachtet bleiben. Der Sammelband bietet somit ein tendenziell eurozentrisches, aber dennoch breites Spektrum an inhaltlichen Diskussionsansätzen, um die Darstellung suizidalen Verhaltens zu analysieren und die daraus folgenden politischen, ethischen und philosophischen Fragen zu diskutieren.
Literatur
Flaßpöhler, Svenja (2013): Mein Tod gehört mir: Über selbstbestimmtes Sterben. München: Penguin Random House (Originaltitel: Meine Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe).
Teischel, Otto (2007): Die Filmdeutung als Weg zum Selbst. Unveröffentlichter Vortrag (auf Basis des gleichnamigen Buches) im Viktor-Frankl-Zentrum in Wien, am 02. April 2009.
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