Stefan Leisten: Wer will ich sein? Ethisches Lernen an TV- und Videospielserien sowie Let's Plays.

Marburg: Schüren 2020. (Reihe: Religion, Film und Medien 6). ISBN: 978-3-7410-0361-5. 384 Seiten, zahlr. Abb., 34,00 €.

Autor/innen

  • Simon Schneider

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-09

Abstract

Der sechste Band in der Buchreihe "Religion, Film und Medien" bei Schüren, die sich der Beziehung zwischen Religion und Film sowie weiteren audiovisuellen Medien widmet, stellt mit Wer will ich sein? ein von Autor Stefan Leisten entwicxkeltes Modell zum ethischen Lernen an TV-Serien, Videospielserien und Let's Plays vor. Mit "ethischem Lernen" ist zum einen das Erlernen von ethischen Positionen aus der Philosophie und Theologie gemeint, zum anderen (und in diesem Buch vordergründig) die Konstitution einer individuellen ethischen Selbstbestimmung. Dies geschieht durch die "begründete Aufarbeitung und Verknüpfung aktueller interdisziplinärer Erkenntnisse sowie [die] eigene Positionierung in diesen […] mit dem Ziel, ein nachhaltiges, effizientes und ökonomisches Konzept zu begründen, welches eine Möglichkeit zum ethischen Lernen an audiovisuell-narrativen Unterhaltungsserien bietet" (S. 15). Das Werk entstand als Dissertation zwischen 2015 und 2019 am Institut der Katholischen Theologie und ihre Didaktik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Die Publikation behält die titelgebende Frage "Wer will ich sein?" während ihrer 384 Seiten stets im Fokus. Es geht um die Erarbeitung eines allgemeinen Modells (mit dem Titel "ILJAS"), das Lehrende dabei unterstützen soll, anhand von seriellen Kriterien das Lernpotenzial einer Serie zu evaluieren. Lernpotenzial meint, "dass ethische Theorien durch die [jugendlichen] Lernenden verstanden, angewendet und ihrerseits aus metaethischer Sicht problematisiert und kritisch analysiert werden können" (S. 261). Der Fokus des Modells liegt damit auf der Unterstützung der Identitätsbildung bei Jugendlichen, die über den bloßen Wissenserwerb zu bestehenden ethischen Theorien hinausgeht. Wer will ich sein? ist ein interdisziplinäres Buch, das die Forschungsbereiche Theologie, Didaktik und Medienwissenschaft in unterschiedlicher Gewichtung abdeckt. Stefan Leistens Expertise liegt aufgrund seiner fachlichen Situierung erwartungsgemäß vor allem in ersteren beiden Bereichen. Im Verlauf der Publikation macht sich darüber hinaus durch die Anwendung grundlegender medienwissenschaftlicher Konzepte, wie etwa der Genretheorie, auch Leistens langjährige Beschäftigung mit den Berührungspunkten von Theologie und Medienwissenschaft bemerkbar.

Mit dem Modell ILJAS bietet der Autor einen modellhaften und anpassungsfähigen Analyseprozess anhand von Aspekten wie "Institution und Lerngruppe", "Serie und Erzählung", "Plot, Figur und Identifikation" sowie "Moral, Ethik und Fachwissen" an, mit deren Hilfe "eine strukturierte Planung und Durchführung von individualethischem Lernen anhand fiktiver Jugendfiguren aus audiovisuell-narrativen Unterhaltungsserien" (S. 261) unterstützt werden soll. Das Modell steht dabei auf zwei Säulen, die man auch als Grundpfeiler der gesamten Publikation bezeichnen kann. Zum einen verfolgt ILJAS jenen individualethischen Ansatz, der zur Ausprägung der eigenen Identität beitragen soll. Die zweite tragende Säule sei die Identifikation mit einem jugendlichen Charakter im gesehenen Film sowie die Projektion von persönlichen Erfahrungen auf diesen. So würden etwa Charaktere in medialen Repräsentationen, die sich in der gleichen Altersgruppe wie die Lernenden befinden, ein besonders hohes Identifikationspotenzial und einen starken Lebensweltbezug bergen. Am Beispiel der Protagonistin in der Videospielserie Life is Strange meint Leisten außerdem im Rückgriff auf wissenschaftliche Studien darlegen zu können, dass im Gegensatz zum Alter das Geschlecht der Figur keine besondere Relevanz für den Identifikationsprozess habe (vgl. S. 34f.).

Wer will ich sein? besteht zu etwa zwei Dritteln aus einer theoretischen Einleitung, welche die notwendigen Grundlagen für die Erarbeitung von ILJAS legt. Dabei werden theologische, pädagogische und medienwissenschaftliche Theorien schrittweise und einfach verständlich erläutert. Während innerhalb dieser Einleitung stellenweise verschiedene populäre TV-Serien vorgestellt und für das Modell kategorisiert werden, liegt bei den behandelten Videospielserien der Fokus klar auf Life is Strange. Dieses Spiel gehört dem noch sehr kleinen Spektrum von Videospielen an, welche ihre Inhalte in Kapitel unterteilen und diese nach der Veröffentlichung in vorab festgelegten zeitlichen Abständen Stück für Stück freigeben, ähnlich einer klassischen TV-Serie. Außerdem interessiert sich der Autor entsprechend dem Titel seines Buches für sogenannte Let’s Plays, neuartige Selfmade-Amateur-Filmformate, bei denen man Gamer*innen beim Spielen von Videospielen und dem Kommentieren des Spielgeschehens zusieht. Auch diese werden in der Regel episodenhaft, anhand der Spielabschnitte gegliedert und auf Videoplattformen im Internet hochgeladen. Diese Let’s Plays behandelt Leisten in seinem Buch allerdings nur sporadisch und verortet sie sehr nah an der Videospielserie, was in Anbetracht des vielversprechenden Buchtitels enttäuschend anmutet, denn insbesondere von der Listung der sonst nur marginal betrachteten Let’s Plays im Titel des Buches war das Versprechen ausgegangen, aus der Perspektive der Medienwissenschaft etwas über dieses vergleichsweise neue Medienphänomen zu erfahren. Stattdessen bietet Leisten hierzu eher begrifflich-aufklärerische Arbeit für wenig medienaffine pädagogische Lehrkräfte.

In dem ersten, medientheoretischen Teil der Publikation werden außerdem wichtige Begriffe, wie etwa Immersion, ohne die ethisches Lernen nicht möglich sei, ausführlich erklärt. Das Narratologiekonzept von Gérard Genette wird ebenso als Grundlage herangezogen wie Grundlagenwerke zur Filmanalyse von Jürgen Kühnel und Helmut Korte, die mittlerweile etwas in die Jahre gekommen sind, sowie von Benjamin Beil zur Ludologie. Bei der Auswahl der Serien tendiert Leisten nach eigener Aussage eher zu "praktisch-lebensnahen" Beispielen, um den Lebensweltbezug für die jugendlichen Lernenden zu vereinfachen. Dabei stellt er wiederholt heraus, dass populärkulturelle Serien in erster Linie zur Unterhaltung produziert und rezipiert würden (z.B. S. 12). Er beschreibt so einen "korrelativen Kompetenzerwerb" anhand von "Identifikationsfiguren und Situationen, die aus audiovisuellen Serien bekannt sind und Themen repräsentieren, die die Jugendlichen interessieren und beschäftigen" (S. 118). Problematisch ist dabei, dass Leisten explizit darauf hinweist, dass die Kontexte der Filmerfahrung keine maßgebliche Rolle spielen würden (vgl. S. 211). So fokussiert sich Leisten aufgrund der von ihm angenommenen Selbstverständlichkeit vermeintlicher "lebensweltlicher Gemeinsamkeiten" (S. 19) und eines "westlichen Wertepools" (S. 20) ausschließlich auf westliche Serien und Produktionskontexte, was von einer gesellschaftlichen Homogenität ausgeht, welche in der Realität nicht gegeben ist. Positiv hervorzuheben ist dagegen seine theoretische Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel von sozialen Medien, Marketingstrategien und Cosplays[i] – ein Zusammenspiel, das in der Realität längst gegeben ist und das nach Meinung des Autors eine Verbindung von Fiktion mit Realität und so die Interaktivität und damit den Identifikationsprozess ebenfalls fördere.  

Aus der Perspektive der theologischen Didaktik bezieht sich das Buch vor allem auf Konzepte, die im mittleren bis späten 20. Jahrhundert entwickelt wurden: Alfons Auers autonome Moral im christlichen Kontext, Dietmar Mieths Narrative Ethik sowie die Moralbegriffe von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg, die weitreichend und reflektiert analysiert werden. Insbesondere die Dilemmasituationen und das Stufenmodell von Kohlberg finden immer wieder eine sinnvolle Anwendung im Aufbau des Modells ILJAS. Dabei möchte Leisten Lehrer*innen stets die Wichtigkeit der soziokulturellen Kontexte der Lerngruppen und somit der Lerngruppenanalyse, etwa auf Basis der SINUS-Milieustudie und der Shell-Jugendstudie, vermitteln. Dieser Abschnitt von Wer will ich sein ist vor allem für pädagogische Lehrkräfte von Bedeutung, wohingegen Medienforschende in erster Linie den fachfremden Einblick in Ethiken und Moralphilosophien im Kontext einer seriellen Medienbetrachtung interessant finden werden. Auch der Rekurs auf Medienpsychologie für die Basis der Identitätskonstruktion nach Stuart Hall und George Herbert Mead, welche Figuren aus einer radikal konstruktivistischen Perspektive als Gesprächspartner*innen interpretierbar macht, zählt zu den spannenden Stellen des Buches.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Wer will ich sein? gelungene Hinleitungen und Begründungen zum Modell ILJAS leistet, das als konzeptionelle Hilfestellung zur Unterrichtsplanung breit aufgestellt und schlüssig scheint. Die beispielhaft herangezogenen Anwendungen des Modells stellen jedoch besonders in Bezug auf den Klassenraum einen Idealtypus dar – mögliche Problematiken bei der Umsetzung des Modells werden vom Autor nicht angesprochen, denn besonders in einem interkulturell geprägten, heterogenen Klassenraum könnte ILJAS schnell an seine Grenzen stoßen. Das Buch ist leicht lesbar, weil auf der inhaltlichen Ebene kurze Einleitungen und Zusammenfassungen am Anfang und Ende jedes Abschnitts das Verständnis teils komplexer Theorien aus diversen Disziplinen erleichtern. Mit den vorgestellten Serieninhalten und ethischen Theorien wird stets reflektiert und kritisch umgegangen. Insgesamt handelt es sich dabei um ein äußerst informatives, allerdings gegen Ende vermehrt repetitives Buch. Aufgrund der breiten Beschäftigung mit theoretischen Inhalten wäre – insbesondere für die scheinbar anvisierte Zielgruppe der Lehrer*innen – ein Glossar für Fachwörter und Schlüsselkonzepte zudem nützlich gewesen. Leser*innen mit dem Hintergrund in der Film- bzw. Medienwissenschaft erhalten eher überblicksartig eine Perspektive auf die Arbeit mit medialen Inhalten in anderen Disziplinen – ein Anschluss an aktuelle medienwissenschaftliche Diskurse oder eine tiefere Beschäftigung mit audiovisueller Ästhetik findet hingegen nicht statt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es Stefan Leisten gelungen ist, ein flexibles Orientierungsmodell zur Arbeit mit seriellen Inhalten im Kontext des ethischen Lernens zu entwickeln. Der ambitionierte Umgang mit Let's Plays, Cosplays, der Streaming-Plattform für Gamer*innen Twitch und anderen temporären Medienformen zeugt von einem erfreulichen wissenschaftlichen Trend in der Theologie hin zu lebensnahen, transmedialen Inhalten, wonach unter anderem die Reihe "Religion, Film und Medien", der diese Publikation angehört, ohnehin strebt.

 

[i] Das Cosplay stammt ursprünglich aus der Manga- und Anime-Community und meint das Verkleiden als fiktiver Charakter aus einem Film, einer Serie oder einem anderen Medium, häufig zum Anlass einer Convention oder eines ähnlichen Zusammenkommens der jeweiligen Fan-Gemeinschaft.

Autor/innen-Biografie

Simon Schneider

Geb. 1994, studiert Filmwissenschaft im Master of Arts an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Mai 2020 schloss er seinen Bachelor of Arts im Fach Filmwissenschaft mit einer Arbeit über die "Dimensionen der rezeptiven und aktiven Filmtherapie" ab. Er ist neben seinem Studium beim Filmfestival FILMZ – Festival des deutschen Kinos in Mainz aktiv und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft der Professur für Alltagsmedien und Digitale Kulturen an der JGU Mainz.

Downloads

Veröffentlicht

2021-05-20

Ausgabe

Rubrik

Film