Nicola Scherer: Narrative internationaler Theaterfestivals. Kuratieren als kulturpolitische Strategie.

Bielefeld: transcript 2020. ISBN: 978-3-8376-5357-1. 178 Seiten, 30,00 €.

Autor/innen

  • Hanna Huber

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-05

Abstract

"Internationale Theaterfestivals positionieren sich in der Dekade des Krisenhaften neu." Diese dem Klappentext der Monographie Narrative internationaler Theaterfestivals. Kuratieren als kulturpolitische Strategie entnommene Feststellung ist unter den Begleiterscheinungen einer die Freiheiten einschränkenden Pandemie aktueller denn je. So wurde beispielsweise für die Salzburger Festspiele 2020 ein umfassendes Präventionskonzept unter strengen Hygieneauflagen entwickelt, um mittels Testangeboten, Abstandsregeln, Maskenpflicht und personalisierten Eintrittskarten für schnelles Contact Tracing das Spielangebot aufrecht zu erhalten und zugleich das Infektions- und Verbreitungsrisiko zu minimieren. Die Berliner Festspiele hingegen konzipierten ein "Theatertreffen virtuell", verlegten die geplanten Veranstaltungen in den digitalen Raum und boten Netztheater in Form von aufgezeichneten Produktionen sowie live Panel-Diskussionen und Nachgesprächen an.

Während 2020 versucht wurde, das bereits konzipierte Festivalprogramm coronakonform offline oder online bestmöglich umzusetzen, erfuhr der Zeitraum ab 2016, in welchem Nicola Scherer Expert*innen-Interviews an internationalen Theaterfestivals im deutschsprachigen Raum durchführte, zwar keine vergleichbaren Einschränkungen im Spielbetrieb, doch auch hier erinnern wir uns an markante Ereignisse der Weltpolitik: internationale Fluchtbewegungen und damit einhergehende Renationalisierungsprozesse, das EU-Türkei-Abkommen am Flüchtlingsgipfel in Brüssel, die britische Referendumsabstimmung für einen EU-Austritt, die wiederholte Präsidentschaftswahl in Österreich, der Terroranschlag in Nizza am französischen Nationalfeiertag, der Putschversuch in der Türkei und die Präsidentschaftswahl in den USA.

In dieser krisenreichen Zeit, welche demokratische Systeme auf den Prüfstand stellte, untersuchte die Kulturmanagerin, Künstlerin und Kuratorin Nicola Scherer kulturpolitische Strategien internationaler Theaterfestivals im deutschsprachigen Raum an fünf konkreten Beispielen: dem Züricher Theater Spektakel, dem Festival Theaterformen in Braunschweig und Hannover, dem Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel, dem Festival steirischer herbst sowie dem Internationalen Forum des Berliner Theatertreffens. Basierend auf Expert*innen-Interviews mit der jeweiligen künstlerischen Leitung thematisiert Scherer kuratorische Überlegungen und kontrastiert diese mit drei externen Perspektiven auf die internationale Festivallandschaft: Holger Bergmann, Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, vertritt die Position der Kulturförderung; Esther Boldt, Autorin bei nachtkritik.de und Theater heute, gibt Auskunft als Repräsentantin der Fachpresse; und Kathrin Deventer, Generalsekretärin der European Festivals Association in Brüssel, spricht aus einer europäischen Perspektive.

Die Dissertation diskutiert kulturpolitische Strategien und Narrative, die anhand kuratorischer Entscheidungen der Festivalleitung erkennbar werden. Internationale Theaterfestivals werden hierbei als Seismografen für globale gesellschaftspolitische Entwicklungen begriffen. Insbesondere in der Dekade des Krisenhaften verfügen Theaterfestivals aufgrund ihrer Nähe zu Produktionen der freien Szene mehr noch als Stadt- und Staatstheaterbetriebe über die notwendige Flexibilität, um auf gesellschaftspolitische Veränderungen zu reagieren. Somit erzählen Theaterfestivals von "alternativen Narrativen, […] antizipieren Zukünfte und bilden ein Framing von Lebensmodellen in performativen Formaten" (S. 129).

Scherer versteht die thematischen Setzungen internationaler Theaterfestivals als "reflexive Flächen globalpolitischer und künstlerischer Prozesse", die somit als "Momentaufnahme und Repräsentanten eines weltlichen Zustandes" dienen (S. 27). Auf diese Weise verhandeln Theaterfestivals neben Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auch Diskurse wie "Critical Whiteness, Gender, Diversity, Migration, Globalisierung oder Digitalisierung" und positionieren sich zu "Aushandlungsprozesse[n] um Ländergrenzen, Re-Nationalisierungs- und Re-Demokratisierungsprozesse[n]" (S. 23).

Beispielsweise zeichnet sich das 1990 gegründete Festival Theaterformen mit jährlich wechselnden Standorten in Braunschweig und Hannover insbesondere durch einen außereuropäischen Blickwinkel auf "Inszenierungen transkulturelle[r], post- und dekoloniale[r] Themen und Künstler*innen" (S. 67) aus. Für die Festivalkuratorin Martine Dennewald liegt in der Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte eine bewusste Hinwendung zum Fremden, um einen Dialog mit Künstler*innen aus Afrika, Süd-Ost Asien und Südamerika zu eröffnen, als auch um nicht erzählte Geschichten erfahrbar zu machen und "koloniale Machtstrukturen zu entmachten" (S. 74). Die Theaterkritikerin Esther Boldt warnt hingegen vor der "Exotisierung" oder "Instrumentalisierung von Kunstwerken" (S. 119) und befürwortet stattdessen, einen offenen Blick außerhalb der 'westlichen Brille' zu erlernen, um unabhängig vom spezifischen kulturellen Kontext primär aus Wertschätzung den Künstler*innen und deren Arbeit gegenüber eine Einladung auszusprechen.

Anhand des auf Grenzüberschreitungen, Offenheit und Diversität gesetzten Schwerpunkts beabsichtigt das Züricher Theater Spektakel, "eine größtmögliche Gegenposition zu Renationalisierungsprozessen" darzustellen und "lokalen Widerstand im globalen Kontext" zu erproben (S. 91). Ebenso erinnerte das Leitmotiv des steirischen herbst 2016, "Wir schaffen das", an den Ausspruch Angela Merkels aus dem Vorjahr und löste kontroverse Diskussionen zu weltweiten Flüchtlingsbewegungen und Nationalisierungstendenzen aus. Festivalkuratorin – und inzwischen Kulturstadträtin von Wien – Veronica Kaup-Hasler inszenierte das migrantisch geprägte Annenviertel in Graz als "Arrival Zone" und verlegte künstlerische Produktionen auch in die südsteirische Grenzregion. In diesem Sinne begreift Kaup-Hasler das Festival als "seismografisches Momentum" und die Verbindung eines "Hineinhören[s] in die Welt mit der Kunst" (S. 100) als dessen Stärke.

Abseits der künstlerischen Arbeiten positionieren sich Theaterfestivals in aktuellen gesellschaftspolitischen Diskursen auch mittels alternativer Formate: So etwa veröffentlicht der steirische herbst ein eigenes Magazin unter dem Titel herbst. Theorie zur Praxis. In ähnlicher Weise bietet das Festival Theaterformen internationalen Journalist*innen im Rahmen seines Festivalblogs eine digitale Plattform, Theaterkritiken in der eigenen Muttersprache zu verfassen.

Mehrmals klingt der Vorschlag durch, den Freiraum künstlerischen Schaffens ohne inhaltliche Vorgaben auf Theaterfestivals zu wahren und finanziell zu fördern, da insbesondere Künstler*innen der freien Szene gesellschaftspolitische Entwicklungen ohnedies wahrnehmen und darauf reagieren. Esther Boldt prognostiziert ein Ende der "Themenfestivals", die sie bloß als vorübergehende Modeerscheinung begreift, jedoch als Festivalformat für "zu intellektuell" und "zu einengend" hält (S. 121). Laut András Siebold, Leiter des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel, wird die Setzung eines thematischen Schwerpunkts oftmals "als wirksame Kommunikationsstrategie für die Presse" und "Verpackungslüge" gehandhabt, eine Vorgehensweise, die er selbst zu vermeiden sucht (S. 77).

Die Wahl eines Festivalthemas entscheidet hingegen über Öffentlichkeitswirkung und Drittmittelfinanzierung. Meist ist eine Fördermittelvergabe für Kulturveranstaltungen an politisch-inhaltliche Schwerpunkte geknüpft und beeinflusst folglich auch die Programmgestaltung. "An das Schaffen der Kunst wird etwa ein Auftrag der Demokratierettung, transkulturellen Öffnung und die Aufrechterhaltung der Rechtstaatlichkeit angebunden" (S. 140). Als Kriterien der Förderpolitik werden ökonomisch relevante und messbare Kriterien der Umwegrentabilität, Stadtentwicklung und des Audience Development genannt. Festivalkurator*innen sehen sich gezwungen, "die Effizienz dieser Unternehmungen bereits in Förderanträgen transparent zu machen und in späteren Auslastungszahlen und Reichweitenachweisen zu quantifizieren" (S. 126). Stattdessen fordert Kathrin Deventer, "künstlerische Freiräume jenseits des ökonomischen Drucks zu schaffen" (S. 127) und den Künstler*innen zu ermöglichen, weiterhin als "Pioniere unserer Wirklichkeit" (S. 125) zu agieren. In ähnlicher Weise betont Daniel Richter, bis 2017 dramaturgischer Leiter des Internationalen Forums des Berliner Theatertreffens, eben jenes als "Schutzraum" zu implementieren und "von dem sonstigen Produktionsdruck in den darstellenden Künsten" frei zu halten (S. 107).

Scherer schließt daraus, dass Kurator*innen über eine gewisse "Wachheit" verfügen müssen, die "neben der Weltbeobachtung eines fortlaufenden Prozesses der selbstkritischen Infragestellung der eigenen Position und Mechanismen bedarf" (S. 136), wie bspw. der Einflussnahme von Drittmittelfinanzierung auf die Programmgestaltung. Darüber hinaus benennt die Autorin die Gefahr, dass "Künstler*innen und Kurator*innen Stücke (ko-)produzieren, die einer Touring-Pragmatik unterliegen, das heißt kleine Bühnenaufbauten, geringe Beteiligtenanzahl, festivalaffine Formsprache und Formate", wodurch Theaterfestivals selbst "zum Produzent redundanter Formen" werden (S. 136). Ähnliche Entwicklungen sind vor allem auf nicht-kuratierten Fringe Festivals zu erkennen, deren Politik des freien Zugangs eine zunehmende Kommerzialisierung und Funktionalisierung als Theaterbörsen begünstigte und neben ökonomischen, arbeitsrechtlichen und sozialen Missständen auch eine Standardisierung ästhetischer Formate nach sich zog.

András Siebold betont die kuratorische Herausforderung und Tugend zugleich, nicht bereits erfolgreiche Produktionen in das eigene Programm aufzunehmen, sondern ein Risiko einzugehen, noch unbekannten Künstler*innen eine Bühne zu bieten und diese im Schaffensprozess zu begleiten. Demnach fungiere ein Theaterfestival als "Plattform und Ermöglicher neuer Projekte" (S. 86). Laut Sandro Lunin, Festivalkurator des Züricher Theater Spektakel bis 2017, bestünde eine notwendige kulturpolitische Veränderung in der "Finanzierung und Forcierung von Reisen" (S. 91) sowie des internationalen Austauschs zwischen Kurator*innen und Künstler*innen hinsichtlich nachhaltiger Kooperationen, um eine "Vielperspektivität auf das Weltgeschehen" (S. 92) zu generieren. Dazu muss angemerkt werden, dass angesichts aktueller Bestrebungen nach umweltverträglichen Arbeitsweisen und ökologischer Nachhaltigkeit (Flug-)Reisen in der Festivalkuration durchaus als umstritten gelten.

Auf den letzten Seiten ihrer Publikation entwirft Scherer ein Modell internationaler Theaterfestivals als "Akteursnetzwerk" in Anlehnung an die Actor-Network-Theory von Bruno Latour. Da die erklärenden Ausführungen lediglich in stichwortartigen Aufzählungen dargelegt werden, sind manche Zusammenhänge nicht klar ersichtlich, bspw. im Hinblick auf die gewählte Hierarchisierung der einzelnen "Bausteine" (S. 145). Eine als Fließtext konzipierte Erläuterung des Modells könnte an dieser Stelle aufschlussreicher sein. Darüber hinaus wäre interessant gewesen, hier eine Differenzierung zu Marijke de Valcks Analyse europäischer Filmfestivals zu entwerfen, die ebenfalls auf Latours Actor-Network-Theory aufbauend das Konzept sogenannter "Sites of Passage" entwickelt hat (vgl. de Valck 2007).

Die inhaltlich aufschlussreichen Expert*innen-Interviews werden erst gegen Ende miteinander verknüpft und kommentiert. Folglich kommt die analytische und kritische Auseinandersetzung mit dem Gesagten ein wenig zu kurz. Dem akademischen Publikationsbetrieb ist darüber hinaus anzulasten, dass zahlreiche formale Mängel das Gesamtbild trüben: Die Publikation gewönne, wenn wesentliche Lektoratsarbeit (Rechtschreibung, Grammatik, Formatierung etc.) im Vorfeld geleistet worden wäre. So jedoch führen etliche Verweise ins Leere, bspw. wird auf einen Anhang verwiesen, der nicht beigefügt wurde (Vgl. S. 45 und S. 54).

Was die Monographie Narrative internationaler Theaterfestivals. Kuratieren als kulturpolitische Strategie durchaus auszeichnet, ist ihre Praxisnähe, die sie durch die Expert*innen-Interviews herstellt. Hier wird ein spannender Einblick in kuratorische Überlegungen geboten und die Positionierung internationaler Theaterfestivals im Kontext des weltpolitischen Geschehens diskutiert.

 

Literatur:

de Valck, Marijke: Film Festivals: From European Geopolitics to Global Cinephilia. Amsterdam University Press, 2007.

Autor/innen-Biografie

Hanna Huber

Seit 2019 Universitätsassistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Promotionsprojekt zum Festival OFF d'Avignon zwischen Möglichkeitsraum und Theaterbörse. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Anglistik und Amerikanistik sowie Romanistik in Wien, Malta und Avignon.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Rubrik

Theater