Alexandra Portmann / Beate Hochholdinger-Reiterer: Festivals als Innovationsmotor?

Berlin: Alexander Verlag 2020. ISBN: 978-3-89581-535-5. 188 Seiten, 19,90 €.

Autor/innen

  • Hanna Huber

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-04

Abstract

"KUNST IST KEINE AUSREDE", lautet der Titel des 2020 veröffentlichten Manifests des auawirleben Theaterfestivals in Bern, in welchem das Festivalteam auf eine transparente Kommunikation ihres Wertesystems abzielt und zu Themen wie Lohnpolitik, Diskriminierung und Nachhaltigkeit klar Position bezieht. Laut der Theaterwissenschaftlerin Alexandra Portmann illustriert dieses öffentliche Statement, wie Festivals politische Diskussionen zu "faire[r] und nachhaltige[r] Kulturproduktion" eröffnen und dabei als "Innovationsmotoren für Arbeitsweisen im Gegenwartstheater" fungieren (S. 25).

Die Reihe itw : im dialog positioniert sich an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis im zeitgenössischen Theater und umfasst Arbeitsbücher zu den gleichnamigen Symposien und Workshops des Berner Instituts für Theaterwissenschaft in Kooperation mit dem ebenfalls dort angesiedelten auawirleben Theaterfestival und der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur (SGTK). Der von Alexandra Portmann und Beate Hochholdinger-Reiterer herausgegebene vierte Band, Festivals als Innovationsmotor?, entstand im Rahmen des internationalen Doktorand*innenworkshops 2019 und vereint theoretische Auseinandersetzungen mit Aufführungsanalysen, verschriftlichten Interviews, Künstler*innengesprächen und einer Podiumsdiskussion.

Der erste Teil des Bandes verhandelt theaterwissenschaftliche Forschungspositionen zu Innovation, Internationalität, Institutionskritik, Arbeitspraktiken, Freiwilligkeit sowie Zeitlichkeit auf Festivals. Er bietet den theoretischen Rahmen für die nachfolgenden, praxisnahen Interviews mit Sandro Lunin, künstlerischer Leiter der Kaserne Basel, und Philippe Bischof, Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Der zweite Teil der Publikation beinhaltet je zwei Analysen zu drei sehr unterschiedlichen Inszenierungen der Ausgabe "Wir müssen reden" des auawirleben Theaterfestivals im Jahr 2019, sowie Gespräche der daran beteiligten Künstler*innen. Den Rahmen dafür bilden das Interview mit den Festivalkuratorinnen Nicolette Kretz und Silja Gruner zum Auftakt sowie eine Podiumsdiskussion zur titelgebenden Fragestellung Festivals als Innovationsmotor? zum Abschluss, in welcher Franziska Burkhardt, Leiterin der Kulturabteilung in Bern, Marc Streit, Gründer und Leiter des zürich moves! Festivals, und Alexandra Portmann, Theaterwissenschaftlerin an der Universität Bern, Stellung beziehen.

In ihrem einleitenden Beitrag erörtert Portmann die begriffliche Verankerung von Innovation im kulturwissenschaftlichen Diskurs und referenziert u. a. auf Andrea Livia Piazzas Konzept des Neuen (vgl. Piazza 2017). In Gegenüberstellung zu dem sozialwissenschaftlich geprägten Begriff der Innovation, der "die Substitution von etwas Altem" impliziert, verhandelt laut Piazza das Neue in geisteswissenschaftlichen Diskursen "die Beziehung zum Alten jenseits von Substitution" (S. 17). Folglich ist hier anstelle einer linearen Fortschrittslogik von einer "Überlagerung verschiedener Dispositionen" und einer "potentielle[n] Gleichzeitigkeit von Diskursen" die Rede (S. 15). Das Neue steht in diesem Sinne als "Möglichkeitsraum" außerhalb der Norm, der "sich als Alternative zu einem kapitalistischen Realismus präsentiert" (S. 18).

Laut Portmann fungiert das Veranstaltungsformat Festival als ein eben solcher Möglichkeitsraum für die Erprobung neuer Arbeits- und Produktionsweisen, die in weiterer Folge für lokale Theatersysteme adaptiert und übernommen werden können. Potential für Innovation ist auf Festivals insbesondere dadurch gegeben, da sie aufgrund des klar definierten Zeitraums, des umfassenden professionellen Netzwerkes sowie schlanker institutioneller Strukturen im Gegensatz zu etablierten Stadt- und Staatstheatern über mehr Flexibilität verfügen. Franziska Burkhardt bestätigt diese Annahme in der abschließenden Podiumsdiskussion: "Anders als feste Häuser können sich Festivals jedes Jahr neu erfinden." (S. 181)

Dass der Innovationsbegriff nicht zwangsläufig positiv konnotiert ist, sondern oftmals mit technologisch-ökonomischen Optimierungsbestrebungen und neoliberalen Denkmustern assoziiert wird, zeigt sich im Experteninterview mit Philippe Bischof, der stattdessen für die Umschreibungen "Zukunftsorientierung" und "Zukunftsfähigkeit" plädiert (S. 92). Im Hinblick auf Kulturförderung beschäftigen ihn Fragen nach dem Wirkungspotential und künstlerischen Risiko von neuen Kreationen. Auch Marc Streit verknüpft den Innovationsbegriff mit "einer permanenten Optimierung" (S. 180) und hält diesen folglich nicht für den richtigen Ansatz in den darstellenden Künsten. Sandro Lunin benennt Innovation im Sinne einer Fortschrittslogik nicht als Priorität, sondern befürwortet vielmehr eine "institutionelle Öffnung für andere Arbeitsweisen" (S. 83). Da die "Theaterhäuser stark in komplexen strukturellen Dynamiken verhaftet sind", gilt es, über produktionsorientierte Arbeitsweisen der freien Szene nachzudenken und sich die Frage zu stellen, ob diese übertragbar oder "kompatibel mit klassischen Stadttheater- und Ensemblestrukturen sowie einem Repertoirespielplan" sind (S. 83f.). Lunin endet mit der Feststellung: "Innovation um der Innovation willen ist relativ sinnlos." (S. 85)

Wie bereits aus der Deutungsvielfalt des Innovationsbegriffs ersichtlich wird, stehen Festivals im Spannungsfeld zwischen neoliberaler Eventkultur und potenziellem Möglichkeitsraum. Dies zeigt sich ebenso am Beispiel der Freiwilligenarbeit auf Festivals, die sich auf einem schmalen Grat zwischen ausbeuterischen Mechanismen und nachhaltigen Alternativen des Zusammenwirkens bewegt. Regina Rossi begreift das Konzept der Freiwilligkeit am Beispiel der Hamburger HALLO: Festspiele nicht als kostensparende Strategie und Ausbeutung unbezahlter Arbeitskräfte, sondern als "Möglichkeit des Austausches und der Zusammenarbeit im Kreativbereich" (S. 60). Der Vorschlag, ehrenamtliche Tätigkeit auf Festivals als "Keim einer anderen, neuen Form von Unternehmertum" (S. 63) jenseits kapitalistischer Profitzwänge zu begreifen, wirkt angesichts unserer neoliberalen Gesellschaft jedoch äußerst utopisch und läuft Gefahr, die auf Freiwilligkeit basierenden Arbeitsverhältnisse im Kultursektor als unhinterfragten Standard zu festigen. Zwar hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass sogar inmitten höchst kompetitiver, kommerzieller Fringe Festivals Künstler*innen non-monetäre Gegenveranstaltungen gründen und diese alternativen Mikro-Festivals durchaus als gemeinschaftliche Praxis leben (Zaiontz 2018, S. 73–79), zugleich darf nicht verschwiegen werden, dass diese löblichen Projekte vor allem der Eigeninitiative und dem Eigenkapital der Künstler*innen selbst entstammen.

Der Beitrag von Sophie Osburg verhandelt den Innovationsbegriff aus einem anderen Blickwinkel. Am Beispiel der Performance-Ausstellung 12 Rooms auf der Ruhrtriennale 2012 analysiert die Autorin das Potential für veränderte Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen auf Festivals, in diesem Fall von Aufführungen im Museumskontext. Hierbei kontrastiert Osburg die Zeitlichkeit auf Festivals, die "ein Temporäres, Kurzweiliges und darin zugleich Komprimiertes suggeriert", mit dem anhaltenden Vollzug der Performance-Ausstellung, die wiederum innerhalb des Festivalgefüges einen "Moment des Andauerns" bzw. laut Roland Barthes eine "Zeit des Innehaltens" markiert (S. 71f.).

Am Beispiel der Volksbühnen-Debatte 2017 im Zuge des offiziellen Antritts Chris Dercons als Intendant stellt Ann-Christine Simke Überlegungen zu konstruktiver Institutionskritik an. Befürchtungen vor einer mit der neuen Intendanz einhergehenden "institutionelle[n] Entleerung sowie rhetorische[n] Konformität mit hegemonialen Marktstrukturen" wurden mit Castorfs Intendanzübernahme Anfang der 1990er Jahre kontrastiert sowie mit dessen grundsätzlichem "Willen zur Umdeutung und Neustrukturierung der Institutionen aus einem antagonistischen Geist heraus" (S. 49). Die Bezugnahme auf die thematische Ausrichtung des Sammelbands erschließt sich erst auf den zweiten Blick: Simke warnt vor einer problematischen Gegenüberstellung eines "neoliberalen Kurators" mit einem "widerständigen Künstler-Intendanten" (S. 50), in anderen Worten, vor einer verkürzten Kontrastierung von "Innovation" als neoliberale Marktstrategie mit dem "Neuen" als künstlerischem Versprechen (S. 44ff.).

Einen Ausreißer zur geographischen und zeitlichen Verortung der analysierten Theaterfestivals und Spielstätten im deutschsprachigen Raum des 21. Jahrhunderts bildet der englischsprachige Beitrag von Helen Gush, in welchem der Einfluss der World Theatre Season von 1964 bis 1975 auf das internationale Repertoire diverser Londoner Theater sowie auf das Entstehen künstlerischer Kollaborationen anhand etlicher Beispiele exemplifiziert wird. Das Ende der World Theatre Season ging schließlich mit Festivalneugründungen einher, u. a. des London International Festival of Theatre (LIFT), welches ebenso "a genealogical link between the humanist internationalism and the promise of innovation" erkennen lässt (S. 40).

Bei näherer Betrachtung ist festzustellen, dass die theaterwissenschaftlichen Forschungspositionen des Sammelbands die titelgebende Fragestellung anhand sehr unterschiedlicher Perspektiven und Fallbeispiele verhandeln. Unbestritten bleibt, dass das Veranstaltungsformat Festival aufgrund seines ephemeren Charakters innerhalb eines klar definierten Zeitraums, seiner Nähe zu Produktionen der freien Szene, der schlanken institutionellen Struktur, den oftmals flachen Hierarchien, des breit gefassten Netzwerkes sowie einer grundsätzlichen Neugierde und Offenheit des Publikums durchaus das Potential birgt, Neues auszuprobieren – sei dies auf, vor oder hinter der Bühne –, um damit auch feste Theaterhäuser zu inspirieren und zu verändern.

Die zweite Hälfte des Sammelbands widmet sich schließlich den Aufführungsanalysen, deren individuelle Schwerpunkte hinsichtlich der heterogenen Theaterproduktionen eine abwechslungsreiche Lektüre versprechen. Die polnische Produktion Jeden Gest unter der Regie von Wojtek Ziemilski, ein linguistischer Seiltanzakt zwischen Kommunikationssystemen, eröffnet dem Publikum die soziale Wirklichkeit von vier polnischen Gehörlosen. Johanna Hilari diskutiert dabei die "Auseinandersetzung mit sozialer Realität und theatraler Praxis" (S. 110) in dokumentarischen Theaterformen und deren Vermittlung durch kontextualisierende Programmangebote, die eine "nachträgliche Aktivierung" des Publikums "durch diskursive, didaktische oder performative Formate" erwirken (S. 113). Benjamin Hoesch setzt sich am Beispiel dieser Inszenierung kritisch mit der Terminologie der Regiehandschrift in dokumentarischen Theaterformen auseinander und kommt zu dem Schluss, dass "Kommunikation in der Aufführung […] nie auf 'eine' Subjektivität, Intention, Wirkung und Verfügung zu reduzieren ist" (S. 124).

In der ironisch angelegten Inszenierung Workshop erklären in collagenhaft aufeinanderfolgenden Kurzvorträgen drei Männer die Welt: Mart Kangro, Juhan Ulfsak und Eero Epner aus Tallinn lassen dabei Fragen zu Machtasymmetrien und Geschlechterverhältnissen entstehen, ohne diese explizit selbst zu formulieren geschweige denn zu beantworten. Alina Aleshchenko greift das Phänomen des "mansplaining" auf, ein "Erklären, ohne darin Experte zu sein" (S. 138), und diskutiert anhand dessen Machtasymmetrien zwischen Erzählenden und Zuhörenden im Theater. Die konventionelle Wissenshierarchie im westlichen Theater der "stimmvollen" Darsteller*innen und "stimmlosen" Zuschauer*innen (S. 141) wird auch in dieser Inszenierung reproduziert, woraufhin Aleshchenko schlussfolgert, Workshop eröffne einen spannenden Diskurs, stelle "selbst jedoch keine Reflexion darüber auf ästhetischer oder Produktionsebene" an (S. 142). Yana Prinsloo untersucht in eben jener Inszenierung die Position der Zuschauer*innen als Prosument*innen nach Hanno Rauterberg (Rauterberg 2015) und kontrastiert die auf der Bühne zu beobachtende "Überforderung gegenüber der selbstermächtigten und individuellen Lebensgestaltung" (S. 149) mit der Vorstellung eines (als männlich markierten) "konsumatorischen Kreativsubjekts" nach Andreas Reckwitz (Reckwitz 2020).

In dem Ein-Personen-Stück Un faible degré d’originalité, einer Lecture-Performance an der Schnittstelle zwischen akademischem Vortrag und Theaterinszenierung, führt Antoine Defoort das Publikum auf eine zugleich didaktische und amüsante Reise durch den Dschungel des Urheberrechts. Am Beispiel dieser Inszenierung widmet sich der Beitrag von Vera Nitsche der kreativen Wissensproduktion und -vermittlung auf der Bühne. "Ohne vierte Wand und das Publikum direkt adressierend", präsentiert Antoine Defoort ein "conférence-spectacle" (S. 160) und strukturiert dessen Aufbau gemäß der strengen Gliederung einer französischen Forschungsarbeit ("dissertation"). Nitsche sieht in künstlerischer Forschung das Potential, "den klassischen akademischen Wissenschaftsbegriff zu hinterfragen" und "neue Sicht- und Vorgehensweisen sowie andere Formen der Expertise" in einen "pränormativen Raum" der wissenschaftlichen Forschung einzubringen (S. 166). Géraldine Boesch untersucht die eben beschriebene Inszenierung als "(laut)malerische Bergwanderung" im Hinblick auf die detailreiche Wortkulisse und onomatopoetischen Effekte zur "Untermalung der expressiven Gestik und Mimik" (S. 169).

Zusammenfassend wäre zu sagen, dass die vielseitigen Beiträge des Sammelbands eine kurzweilige Leseerfahrung bieten. Theoretische Überlegungen werden in praxisnahen Künstler*innengesprächen diskutiert und mittels beispielhafter Aufführungsanalysen überprüft. Die Mehrheit der Beiträge orientiert sich an der titelgebenden Fragestellung Festivals als Innovationsmotor?; andere wiederum sind weniger stark in die inhaltliche Gesamtkomposition des Sammelbands eingeflochten, dies ist jedoch nicht weiter störend. Wie schon der Buchtitel mit einem Fragezeichen endet, so gibt auch diese Publikation anstelle von Antworten vielmehr Denkanstöße für eigene Überlegungen und eröffnet neue Fragestellungen für die Festivalforschung.

 

Literatur:

auawirleben Theaterfestival: "KUNST IST KEINE AUSREDE. Das Manifest von auawirleben". Bern: 09.01.2020. https://auawirleben.ch/verantwortung/manifest#/. Zugriff am 25.03.2021.

Piazza, Andrea Livia: The Concept of the New. Framing Production and Value in Contemporary Performing Arts. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich UniPress 2017.

Rauterberg, Hanno: Die Kunst und das gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik. Berlin: Suhrkamp 2015.

Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Berlin: Suhrkamp 2020. Die dazu auf [rezens.tfm] erschienene Buchbesprechung von Theresa Eisele ist unter folgendem Link abrufbar: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/4325.

Zaiontz, Keren: theatre & festivals. London: Macmillan Education Palgrave 2018.

Autor/innen-Biografie

Hanna Huber

Seit 2019 Universitätsassistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Promotionsprojekt zum Festival OFF d'Avignon zwischen Möglichkeitsraum und Theaterbörse. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Anglistik und Amerikanistik sowie Romanistik in Wien, Malta und Avignon.

Downloads

Veröffentlicht

2021-05-20

Ausgabe

Rubrik

Theater