A. A. Sánchez/S. Gaillard/M. Galéra/P. Payan: Les Carmes. Théâtre et patrimoine à Avignon.

Avignon: Editions Universitaires Avignon 2019. ISBN: 978-2357680685. 166 Seiten, 18,00 €.

Autor/innen

  • Hanna Huber

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-2-06

Abstract

Seit 1967 dient das ehemalige Karmeliterkloster im Stadtzentrum Avignons, Cloître des Carmes, als Spielstätte für Theaterproduktionen des Festival d’Avignon. Der quadratische Innenhof mit gemauerten Arkadengängen bietet Platz für eine geräumige Freiluftbühne und ein Auditorium mit 500 Sitzplätzen. Bereits 1963 eröffnete André Benedetto im Pfarrsaal des Klosters die OFF Spielstätte Théâtre des Carmes und auch das herrschaftliche Portal des Bauwerks auf der Rue de la Carreterie dient als Eingang eines weiteren OFF Theaters, dem Essaïon Avignon. Somit beherbergt der Gebäudekomplex Aufführungsorte der IN und OFF Festivalszene in Avignon, deren Koexistenz sich sowohl durch Konflikte als auch durch Kooperationen auszeichnet.

Der 2019 erschienene Sammelband Les Carmes. Théâtre et patrimoine à Avignon diskutiert das kulturelle, nationale sowie spirituelle Erbe der Anlage im Kontext der dort aufgeführten Theaterinszenierungen, wie der Untertitel "Théâtre et patrimoine à Avignon" bereits ankündigt. Wie fügt sich Theater als lebendige Kunstform der Unmittelbarkeit und Präsenz in dieses vergangenheitsträchtige, geschichtshaltige Mauerwerk ein? Diese Frage leitet die Verfasser*innen der insgesamt zwölf Beiträge, deren thematische Schwerpunkte verschieden gesetzt wurden: Von der Analyse historischer Ereignisse bis hin zur Besprechung einzelner Aufführungen und verschriftlichten Interviews kommen Theater-, Kultur- und Geschichtswissenschaftler*innen hier zu Wort.

Die Beiträge des ersten Teils "La scène patrimoniale. Invention et transmission d’un legs" bieten einen Einblick in die historische Vergangenheit des Karmeliterklosters, dessen Wiederentdeckung als Veranstaltungsort im Rahmen des Festival d’Avignon sowie die Gründungsgeschichte des unmittelbar daneben angesiedelten Théâtre des Carmes, Geburtsstätte des Festival OFF d’Avignon. Der zweite Teil des Sammelbands unter dem Titel "L’Édifice en scène. Représentation et réception" befasst sich mit konkreten Inszenierungen, die ab 1967 den Cloître des Carmes verschieden bespielten, und analysiert Rezeptionsweisen der Zuschauer*innen und Mitarbeiter*innen des Festival d’Avignon.

Das avignonesische Papsttum im 14. Jahrhundert begünstigte den Ausbau bereits bestehender Klöster und auch den dort ansässigen Karmelitern kamen die Investitionen durch Papst Johannes XXII zugute. Sechs Jahrhunderte später erfährt das in weiterer Folge errichtete Cloître des Carmes als "un espace destiné d’abord à la déambulation, la méditation et la discussion" (S. 22) – ein Ort, der Paul Payan zufolge zum Flanieren, Meditieren und Diskutieren einlädt – durch die theatrale Bespielung im Rahmen des Festival d’Avignon einen Bruch mit seiner ursprünglichen Funktion. Bedienen sich Bühne und Auditorium im Innenhof des Klosters der eindrucksvollen Architektur primär als Kulisse oder fügen die vielseitigen Theaterinszenierungen der Patina des Mauerwerks neue Bedeutung hinzu?

Kevin Bernard widmet seinen Beitrag der Wiederentdeckung und Wiederbelebung des historischen Bauwerks durch Theaterschaffende und stellt dabei die Erweiterung der Festivalspielstätten um das Cloître des Carmes 1967 mit der Eröffnung des Théâtre des Carmes 1963 im ehemaligen Pfarrsaal des Klosters gegenüber. Während Jean Vilar durch die Bespielung neuer Orte abseits des Papstpalastes seine ursprüngliche Vision eines "théâtre populaire" für alle Bevölkerungsschichten weiterverfolgte, begründete André Benedetto mit der Inszenierung von Statues im Théâtre des Carmes das ab 1966 jährlich stattfindende Festival der freien Szene, OFF d’Avignon.

Erfreulicherweise bespricht der Sammelband nicht ausschließlich Ereignisse, Inszenierungen und Theaterschaffende des Festival d’Avignon, sondern nimmt ebenso das benachbarte Théâtre des Carmes als OFF Spielstätte in den Blick. Dies geschieht im Rahmen von Interviews mit Sébastien Benedetto, der 2009 von seinem verstorbenen Vater André Benedetto die Leitung des Theaters übernahm, sowie mit Christian Bourgeois, seit 1966 Schauspieler in Benedettos Nouvelle Compagnie d’Avignon. Dass diese beiden Beiträge äußerst kurz ausfallen und inhaltlich wenige Bereiche abdecken, ist allerdings schade.

Als markantes Ereignis im Cloître des Carmes, das die weitere Entwicklung von IN sowie OFF Theaterschaffenden beeinflusste, gilt die skandalbehaftete Performance Paradise Now der US-amerikanischen, anarchistisch-pazifistischen Theatertruppe Living Theatre im Juli 1968. Émeline Jouve diskutiert anhand von Michel Foucaults Konzept der Heterotopien das Entstehen eines temporären Zwischenraums durch Performancekunst. Zuschauer*innen wurden auf die Bühne eingeladen, um kollektive Euphorie, sexuelle Befreiung sowie trance-ähnliche Zustände zu erfahren und durch metaphysische, spirituelle Transformation den schrittweisen Eintritt in ein post-revolutionäres Paradies zu erlangen. Laut Julian Beck und Judith Malina, Initiator*innen des Living Theatre, ermögliche die gemeinschaftliche Teilhabe aller Anwesenden an dem liminalen Ereignis, neue Handlungsweisen zu erproben und diese nach eigenem Ermessen in der Alltagswelt umzusetzen. "[W]e wanted to make a play which would no longer be enactment but would be the act itself."[1] Die kollektive Flucht aus dem Theatergebäude am Ende der Performance symbolisiert das Verlassen des liminalen Raumes und die Rückkehr in die 'gewohnte' Gesellschaft. Das Aufbrechen etablierter Werteordnungen und Verhaltensmuster während der Performance führt zu einer Irritation der Zuschauer*innen, die sich entweder von dieser neuen Geisteshaltung infizieren lassen oder mit vehementer Ablehnung darauf reagieren.

Die spirituelle Bedeutung des Cloître des Carmes entdeckt Antonia Amo Sánchez auch in den Inszenierungen der Regisseurin Angélica Liddell, La Maison de la force (2010) sowie Que ferai-je, moi, de cette épée ? (2016). Die Bühne sei als heiliger Ort zu verstehen, der es ermögliche, die dunkle Seite der menschlichen Psyche, ihre Impulse, ihre Gewalt, ihre Gemütszustände zu erfahren und zu beleuchten, "ce lieu sacré qui permet d’entrer dans le côté obscur de la psyché humaine, dans ses pulsions, sa violence, ses humeurs" (S. 101). Durch die bewusste Einbeziehung der baulichen Gegebenheiten in den theatralen Prozess prägen und gestalten die Inszenierungen die kollektive Erinnerung des Cloître des Carmes und den Fortbestand des damit verbundenen kulturellen und spirituellen Erbes. Sophie Gaillard diskutiert in ihrer Analyse der Inszenierung Sopro (2017) von Tiago Rodrigues, künstlerischer Leiter des Festival d’Avignon ab 2022, das Zusammenspiel zwischen Theaterarchitektur und Inszenierung. Demnach siedelt sich das zerrüttete, zerstörte Theater – "un théâtre en ruines" – in den baulichen Ruinen der Spielstätte an – "un théâtre dans des ruines" (S. 124).

Zahlreiche Theaterregisseur*innen stellten ihre künstlerischen Fähigkeiten im Cloître des Carmes unter Beweis, bevor sie sich an eine Inszenierung im Palais des Papes wagten: Antoine Vitez, Antoine Bourseiller, Jacques Lassalle, Didier Bezace sowie Valère Novarina. Jean Vilar selbst öffnete die Theaterbühne im Karmeliterkloster für junge Talente einer künstlerischen Avantgarde, während der Papstpalast bereits etablierten Theaterproduktionen vorbehalten blieb. Dennoch gilt das Cloître des Carmes nicht bloß als Vorstufe zum Ehrenhof des Papstpalastes, da etliche Künstler*innen auch den umgekehrten Weg beschritten, u. a. Jorge Lavelli, Georges Lavaudant, Thomas Ostermeier und Jean-Louis Benoît.

In ihrer Analyse der visuellen Repräsentation der Festivalorte in Avignon zwischen 1947 und 2017 bemerkt Lise Renaud, dass in den ersten Jahrzehnten Plakate sowie Programmhefte insbesondere die leere Bühne oder die Menge im Auditorium zeigten, selten jedoch Fotos einer konkreten Inszenierung verwendet wurden. Das Festival trug somit maßgeblich zur Sichtbarmachung des historischen Erbes bei; "le regard porté sur ce patrimoine le renvoie à sa période médiévale plus qu’à son histoire contemporaine" (S. 42). In den folgenden Jahrzehnten rückte schließlich die In-Szene-Setzung des historischen Ortes durch die jeweiligen Theaterproduktionen ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Hierzu erörtert Lenka Bokova anhand von gesammelten Archivfotografien der Bibliothèque nationale de France (BnF) die Entwicklung der Szenographie im Zusammenspiel mit der klösterlichen Architektur. So wurden beispielsweise Fenster und Fassaden bespielt; die Tiefe der Arkadengänge durch Lichtinstallationen in Szene gesetzt; die von Säulen getragenen Bögen als Tore oder Fenster im Bühnenbild inkludiert; oder stattdessen die architektonische Rahmung gezielt im Dunkel belassen bzw. von Bühnenelementen verdeckt. Auch der symbolischen, spirituellen Bedeutung des ehemaligen Karmeliterklosters wurde auf fiktionaler Ebene der Inszenierungen entweder entsprochen oder diese bewusst kontrastiert.

Neben den bereits diskutierten Beiträgen wird die Publikumsforschung "Groupe Miroir" vorgestellt, eine Initiative von Alain Maldonado. Seit 2007 besteht ihr Ziel darin, subjektive Rezeptionserfahrungen der jährlich 50 Besucher*innen des Festival d’Avignon zu sammeln, zu verschriftlichen und in Form eines "cahier" zu veröffentlichen. Interviews mit dem Festivalfotografen Christophe Raynaud de Lage sowie dem technischen Leiter des Festival d’Avignon Philippe Varoutsikos komplementieren die umfänglichen Analysen des mittelalterlichen Klosters und dessen Funktionalisierung als Spielstätte.

Die unterschiedliche akademische sowie künstlerische Zugehörigkeit der jeweiligen Beitragsverfasser*innen und Interviewpartner*innen generiert vielseitige Perspektiven auf die nahe und ferne Vergangenheit des Cloître des Carmes und garantiert eine interdisziplinäre Untersuchung des ehemaligen Karmeliterklosters und heutigen Aufführungsortes. Der Sammelband wird somit auch seinem zentralen Anliegen gerecht, Theaterinszenierungen im Kontext des kulturellen Erbes der Spielstätte zu denken und folglich eine Kunstform der unmittelbaren Gegenwart durch ihre örtliche Verankerung als Zeitzeugnis historischer Entwicklungen zu diskutieren.  

 

[1] Julian Beck, zit. in Schechner, Richard: "Containment is the Enemy: Judith Malina and Julian Beck interviewed by Richard Schechner". In: The Drama Review 13/3, 1969, S. 24-44, hier S. 24f.

Autor/innen-Biografie

Hanna Huber

Seit 2019 Universitätsassistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Promotionsprojekt zum Festival OFF d'Avignon zwischen Möglichkeitsraum und Theaterbörse. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Anglistik und Amerikanistik sowie Romanistik in Wien, Malta und Avignon.

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Veröffentlicht

2021-11-30

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Theater