Jule Korte: Zwischen Script und Reality. Erfahrungsökologien des Fernsehens.

Bielefeld: transcript 2020. ISBN: 978-3-8376-4404-3. 264 Seiten, 34,99 €.

Autor/innen

  • Martina Kalser-Gruber

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-15

Abstract

Die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Jule Korte beschäftigte sich in ihrer Dissertation mit dem Fernsehformat Reality-TV, das sie phänomenologisch wortwörtlich "zwischen Script und Reality", also zwischen der fiktionalen TV-Welt und der wirklichen Welt der Zuseher*innen ansiedelt. Diese Fernseherfahrung analysiert sie aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive anhand einer empirischen Studie mit Jugendlichen und demonstriert dabei, wie sich gemeinsame Erfahrungsökologien entfalten, bei der die Grenzen zwischen medialer (Script) und gewöhnlicher (Reality) Erfahrung verschwinden. 

Das Buchprojekt basiert wie deren Vorlage, die Dissertation der Autorin, auf dem Forschungsprojekt Affekt, Alltag, Fernsehen, das TV-Formate in Hinsicht auf ihre affektiven Dimensionen empirisch erforschen sollte. Methodisch wurden dafür Gruppen- und Einzelinterviews mit Jugendgruppen geführt. Anders als im Forschungsprojekt, in dem der Fokus auf der Validität von Methoden zur Erforschung von Affekt und Affektivem lag, ging es der Autorin in diesem Werk darum, Relationen und Relationierungen zwischen Realität und TV-Welt in den Blick zu nehmen. Korte untersuchte also, inwiefern Scripted-Reality-Formate an Alltagserfahrungen der Zuseher*innen anschließen und somit affektiv mit diesen interferieren. 

Die Autorin teilt die Abhandlung in vier übersichtlich gestaltete Abschnitte, denen sie jeweils eine kurze Zusammenfassung voranstellt. Dabei stellt sie bereits zu Beginn klar, dass sie den Prozess des Fernsehens selbst nicht als Rezeption verstanden wissen möchte, sondern es sich ihrer Meinung nach um Verstrickungen vielseitiger Erfahrungen mit eigener ökologischer Dynamik handle. Im ersten Teil diskutiert sie ihrer Grundannahme dieser Erfahrungsökologien entsprechend den seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in den britischen Cultural Studies aufkeimenden Begriff der Medienökologie und orientiert sich hierbei vor allem an Isabelle Stengers' Ökologie der Praktiken, die Medien als Umweltfaktoren versteht, die "auf die gesamte menschliche Kultur transformativ wirken, sie in veränderter Weise aus der Begegnung hervorgehen lassen" (S. 28). Wie Stengers geht Korte dabei aber nicht von einer mimetischen Veränderung der Mediennutzer*innen aus, sondern beobachtet insgesamt eine Veränderung des Gesamtgefüges, das sich auch auf die Medien selbst auswirke. Korte betont, wie wichtig es dem Projektteam war, die befragten Jugendlichen nicht als Proband*innen zu bezeichnen, sondern mit den Jugendlichen und dem Fernsehen (!) eine "Situation des Forschens" (S. 45) zu kreieren. 

Obwohl die Heterogenität der teilnehmenden Jugendlichen ebenso eine Differenzierung der Ergebnisse nach soziologischen Aspekten nahegelegt hätte, war es dem Team wichtig, eben dies auszuschließen und jedwede explizite Kategorisierung nach Alter, Geschlecht oder Bildungshintergrund a priori zu unterlassen, um die Gespräche nicht zu manipulieren. Korte bezieht sich dabei auch auf eine Studie von Skeggs und Wood zu Reality-TV, die zeigte, dass Zuseher*innen von Reality-Shows auch dann eine Nähe zu den Protagonist*innen herstellen können, wenn diese nicht mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Situierung übereinstimmen (Skeggs/Wood 2012, S. 142), und somit für die Relationierung die eigene soziologische Verankerung nicht ausschlaggebend sei. 

Überhaupt erläutert die Autorin die Hintergründe des Forschungsprojekts auf anschauliche Weise anhand zahlreicher medientheoretischer Studien, nimmt dabei sowohl auf die Habitus-Theorie von Bourdieu oder das Konzept Stream of Thoughts nach James (2006) Bezug, als auch auf das Encoding/Decoding-Modell von Hall und führt anhand eines Artikels von Witzke (2005) zum Thema Jugendforschung vor, dass insbesondere Jugendliche durch die tägliche Interaktion mit ihren Smartphones, auf denen sie Videoclips konsumieren, erstellen sowie verbreiten können, somit nicht nur über "ein passives oder inaktives," sondern über ein "v. a. in vielfältigen Rezeptionskontexten erworbenes und zum Teil nicht bewusstes mediensprachliches Wissen" (Witzke 2005, S. 325) verfügen.
Dementsprechend sahen die Jugendlichen gemeinsam mit dem Projektteam Reality-Shows an oder besuchten Drehorte, wurden danach einerseits befragt, und andererseits sollten sie selbst Clips produzieren. Korte führt beispielhaft an, wie die Jugendlichen nach dem Besuch an den Drehorten zur Reality-Show KÖLN 50667 eigene Szenen konzipieren und mit ihren Smartphones filmen sollten, die ihrer Meinung nach an diesen Orten stattfinden könnten. Die Autorin erklärt, dass es dabei vor allem darum ging zu eruieren, inwieweit Orte des Seriengeschehens mit Konstellationen aus dem eigenen Alltag verbunden werden und in den entstandenen Clips intuitiv ähnliche Inhalte thematisiert werden wie in der Serie. Anhand des Beispiels "Jonas" (die realen Namen wurden aus Datenschutzgründen geändert) beschreibt sie, wie Kultivierungseffekte beobachtet werden konnten. Weiters stellt die Autorin fest, dass die filmische Ästhetik, die die Jugendlichen in ihren eigenen Clips erzeugen, an die visuelle Gestaltung von jenen Sendungen erinnern, die sie gerne sehen. Ein junger Teilnehmer, der Privatdetektive im Einsatz als seine Lieblingsserie anführt, fokussiert in einem Videobeitrag beispielsweise in längeren Einstellungen auf Details, erzeugt somit Spannung und versucht den Blick auf zukünftige Ereignisse zu richten – ähnlich der Kameraführung in Krimiserien.

Generell sei Fernsehen als Medium des Alltags stark mit alltäglichen Erfahrungen verknüpft, schon alleine deshalb, weil der Fernsehapparat, quasi als Interieur in der eigenen Wohnung und in seiner Objekthaftigkeit an Alltagskontexte gebunden ist (S. 66). Korte folgt hier dem Ansatz des domestication-Konzepts von Morley (und Silverstone 1990), das zeigt, inwiefern Medien, Kultur und der persönliche Alltag miteinander auf komplexe Weise verstrickt sind und die Positionierung des Fernsehapparates in der eigenen Wohnung viel über den Stellenwert des Mediums und seine Rezeption aussagt (vgl. Morley/Silverstone 1990, S. 33).

Auf Basis zahlreicher internationaler Studien vergleicht Korte die im Forschungsprojekt untersuchten Serien Berlin – Tag und Nacht und KÖLN 50667 mit anderen Serien und wendet die Studienerkenntnisse der Kolleg*innen auch auf das eigene Forschungsobjekt an. Dabei bleibt sie trotz aller Bezüge wissenschaftlich distanziert und bringt eigene Meinungen durch kritische Reflexionen ein. Die in der Untersuchung der amerikanischen Serie Miami Vice beschriebene Oberflächlichkeit oder den Vorrang affektiver Bedeutung gegenüber textuellen Bedeutungsebenen beobachtet sie ebenso in deutschen Reality-Formaten (S. 82ff.). Genau diese "affektiven" Elemente seien es nach Kavka (2008), die durch "das Zusammenspiel zwischen Realität im Sinne der Echtheit, also Nicht-Inszeniertheit der Darsteller_innen und Situationen in Reality-TV-Formaten, der Realität der Empfindungen auf Zuschauer_innenseite, und den Materialisierungen einer affektiven Realität, die dadurch als verbindende, gemeinsame, soziale Realität entsteht" diese Sendungen so "real" erscheinen lassen (S. 87f.).

Korte bezieht sich weiters auf Skeggs und Wood, die davon ausgehen, dass das Reality-TV auf einer unmittelbaren Ebene agiere, denn es verbinde die affektiven Strategien des Melodrams mit ästhetischen Gestaltungsformen des Dokumentarischen, wodurch es sein interventionalistisches Potential entfalte (S. 94). Korte geht davon aus, dass selbst Realität in gewisser Art einem affektiven Skript folge, das sich auf Basis der sozialen Realität und jeglichen Alltagserfahrungen (und somit auch Fernsehökologien) entwickle, und folgt der Argumentation von Skeggs und Wood: "Findings about television use are also findings about the articulation of personhood" (Skeggs/Wood 2012, S. 120).

Unerwartet erfolgt die Begriffserläuterung erst nach der Hälfte des Buches, was wahrscheinlich daran liegt, dass die Autorin in der Struktur grundsätzlich jener ihrer Dissertation gefolgt ist, die ein thematisches aber vor allem methodologisches Herantasten an das Thema enthält. 

Korte bietet eine kritische Darstellung zahlreicher Definitionen und zeigt auf, dass die meisten Beschreibungen nicht neutral bleiben, wie die Verortung von Scripted Reality als Genre des Reality-TVs, bei dem vorgegeben wird, dass vermeintlich real existierende Personen vor der Kamera einen Einblick in ihr echtes Leben liefern. Tatsächlich werden die Szenen jedoch von Laiendarstellern nach Drehbuch (Script) gespielt. Trotz vollständiger Fiktionalität wirken die Geschichten real oder zumindest realer als Daily Soaps, da die Produktionsfirmen den Erzählstil non-fiktionaler Formate anwenden. Exemplarisch nennt Korte Die Abschlussklasse 2003 (PRO7) oder Gerichtsshows wie Richter Alexander Hold (Sat.1) oder Richterin Barbara Salesch (RTL). Die Anmutung der Realität bringt dem Genre, das vornehmlich in Privatsendern verankert ist und für das, wie Korte erläutert, eine konsistente Definition bislang fehlt, nicht nur von Seiten öffentlich rechtlicher Sender viel Kritik und Diffamierung als Unterschichtenfernsehen ein, sondern trägt durch den unbestreitbaren Unterhaltungswert zur weiteren Polarisierung des Formats bei. Anhand medienbiografischer Fallstudien führt sie vor, wie die fiktive Geschichte zur persönlichen Geschichte der Jugendlichen wird, denn die thematisierten Krisensituationen und Erfolgsmomente der Protagonisten zeigen insofern Relationalität zum Fluss ihres Lebens, binden diese über Social Media ein und bilden über die Zeitlichkeit der Narration und deren Rhythmizität gemeinsam mit den Alltagsökologien der Jugendlichen eben diese Erfahrungsökologien. Korte wählt dabei jene Fallstudien aus, die ihre Argumentation der komplexen Zusammenhänge von Medienkultur und Alltagskultur bekräftigen – ob es auch "Ausreißer" in den beobachteten Fällen gegeben hat, erfährt man leider nicht. 

Insgesamt reichert die Autorin theoretische Hintergründe durch viele spannende Exkurse an, wenn sie bei der Erläuterung des domestication-Konzepts beispielsweise den Fernsehapparat als "Familienentertainer" (S. 75) dem Kühlschrank, den Hartley als "Sinnbild der Kapitalisierung des Zuhauses" bezeichnet, als ideologisierte Häuslichkeit (S. 73) in seiner Funktion und Bedeutung gegenüberstellt oder sich dem Prozess des Fernsehens in philosophischen Überlegungen nähert und somit im Laufe des Buchs immer wieder zum Überdenken eigener medialer und alltäglicher Erfahrungsökologien anregt – wobei hier nicht nur das Fernsehen, sondern die Gesamtheit heute verfügbarer Medienangebote eine Rolle spielt! Diese sind gerade in der im Forschungsprojekt untersuchten Gesellschaftsgruppe fix in der Alltagskultur verankert. Eine zusätzliche niederschwellige Aufbereitung der teilweise komplex formulierten Reflexionen und Erkenntnisse für diese Zielgruppe wäre aus medienpädagogischen Überlegungen wünschenswert.

 

Literatur:

Morley, David / Silverstone, Roger: "Domestic communicaton – technologies and meanings." In: Media, Culture and Society 12/3, Juli 1990, S. 31-55.

Stengers, Isabelle: "Introductory Notes on an Ecology of Practice". In: Culturalstudiesreview 11/1, 2005, S. 183-196.

James, William: Pragmatismus und radikaler Empirismus. Hg. u. übers. v. Claus Lanbehn, Frankfurt/M: Suhrkamp 2006.

Witzke, Margit: "Jugendforschung mit Video-Eigenproduktionen". In: Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch. Hg. v. Lothar Mikos / Claudia Wegener, Konstanz: UVK 2005, S. 323-332.

Autor/innen-Biografie

Martina Kalser-Gruber

Studierte Musikwissenschaft an der Universität Wien und schloss ihr Studium mit einer Dissertation über die Entwicklung des Genres Musical in Wien ab. Erste berufliche Erfahrungen sammelte sie im Archiv des ORF-Landesstudio NÖ sowie im Kulturmanagement, ehe sie an das Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Donau-Universität Krems wechselte. Dort betreute Kalser-Gruber einige Jahre lang die Sammlung Mailer / Strauss Archiv und ist nun unter anderem für Kommunikation und PR verantwortlich. Im postgradualen Studium "Kommunikation und Management" konnte sie ihr Wissen zu Kommunikation im Kulturbereich weiter vertiefen. Dieses schloss sie mit einer Master Thesis zum Reputationsmanagement in Kulturbetrieben ab.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Medien