Holger Schramm: Handbuch Musik und Medien Interdisziplinärer Überblick über die Mediengeschichte der Musik.

Berlin: Springer 2019. ISBN 978-3-658-21899-7. 592 Seiten, 123,35 €.

Autor/innen

  • Martina Kalser-Gruber

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-17

Abstract

Mit der zweiten Auflage seines Handbuchs für Musik und Medien demonstriert Holger Schramm, Professor für Medien- und Wirtschaftskommunikation am Institut Mensch-Computer-Medien der Universität Würzburg, die Wechselwirkung von Musik und Medien an Beispielen wie Tonträger und Radio, Film und Fernsehen oder Zeitschriften und Online-Medien. Renommierte Autor*innen aus Medien- und Kommunikationswissenschaft, Musik- und Kulturwissenschaft ebenso aber aus Wirtschaft und Recht, erläutern historische Grundlagen von Musik in den verschiedenen Medien und widmen sich dem multidimensionalen Gegenstand aus technischen, ökonomischen, soziologischen oder rechtlichen Perspektiven.

Den Reigen eröffnet in Teil I "Geschichte der Musik in auditiven und audiovisuellen Medien" Peter Wicke, der sich mit dem "Tonträger als Medium der Musik" auseinandersetzt, die Entwicklung von der Sprechmaschine bis zu digitalen Formaten und damit auch die Geschichte der internationalen Musikindustrie beschreibt. Wickes Beitrag bietet einen anregenden Überblick, zahlreiche Quellen zur Vertiefung und nähert sich dem Thema mit kritischer Distanz, wenn er beispielsweise den ästhetischen oder wirtschaftlichen Stellenwert von Aufnahmen hinterfragt (S. 37). Wie sehr Medien sich wiederum gegenseitig beeinflussen, führt Herausgeber Schramm in seinem eigenen Beitrag "Musik im Radio" vor. Er zeigt, wie das Radio als Werbeplattform für Tonträger oder als Propagandainstrument eingesetzt wurde, wie die zunehmende Konkurrenz des Fernsehens zu einer stärkeren Formatierung des Radios führte oder das Internet vollkommen neue Möglichkeiten eröffnete. Schramm gelingt damit ein ausgewogener Beitrag zur Geschichte des Radios, der Neugierde und den Wunsch nach weiteren Hintergrundinformationen weckt. Diese folgen sogleich, wenn Hans-Jürgen Krug komplementär "Musik im Hörspiel" diskutiert und bei Schramm angedeutete Entwicklungen durch spezifische Beispiele ergänzt, sowie erklärt, wie ambitioniert sich Komponisten wie Hindemith oder Weill an der "neuen literarischen Gattung" (S. 75) versuchten. 

In "Musik im Film" beschäftigen sich Saskia Jaszoltowski und Albrecht Riethmüller mit der Wechselwirkung von Musik mit Bildern vom Stummfilm bis zu großen Hollywood-Blockbustern und untersuchen Spezifika der Filmmusik wie der sogenannten Leitmotivtechnik, der Verwendung von musikalischen Codes oder der Neigung zum Eklektizismus. Das Autor*innengespann reichert den Artikel durch mannigfaltige Filmbeispiele an und erläutert prägnant und konzise das Werk der wichtigsten internationalen Filmkomponist*innen. Von Musik im Film zu unterscheiden sind "Musikformate im Fernsehen", wie sie Irving Benoit Wolther präsentiert. Auch hier ist zu beobachten, dass das Medium zunächst als Werbeplattform für die Tonträgerindustrie fungierte, wesentlich wichtiger – so Wolther – spielte die Auswirkung des Musikfernsehens gerade in der Zeit vor dem Internet aufgrund beschränkter medialer Angebotsvielfalt auf die musikalische Sozialisation der Jungen eine Rolle, denn das "Verfolgen bestimmter Musiksendungen war [...] wichtige Grundlage für den verbalen Austausch im Klassenverband oder Freundeskreis" (S. 126). Im deutschen Fernsehprogramm befänden sich zahlreiche Casting-Shows, Schlagersendungen wie Carmen Nebel oder Chart Shows, die nostalgische Gefühle evozieren oder zum Mitfiebern anregen sollen. Der Autor sieht die Zukunft des Musikfernsehens in Zeiten kontinuierlich abfallenden Zuseher*innenzahlen jedoch eher in innovativen Showkonzepten wie der VOX-Produktion Sing meinen Song – Das Tauschkonzert, bei dem Vertreter*innen diverser Genres aufeinandertreffen und somit mehrere Zielgruppen bündeln. Auf einzelne Musikfernsehsender fokussieren sich Daniel Klug und Axel Schmidt, die sich in ihrem Beitrag dezidiert mit dem Sender MTV, dessen historischer und systematischer Entwicklung, und besonders Eigenheiten in Produktion und Rezeption von Musikvideos widmen. Dabei stellen die Autoren fest, dass (Pop)Musik immer mehr aus dem Programm verschwindet und populären Reality-Formaten weicht. Dies sei auf veränderte Produktions- und Distributionsstrukturen zurückzuführen, ebenso aber auch einem veränderten Konsum- und Mediennutzungsverhalten, das zu veränderten kulturellen Rahmenbedingungen geführt habe, so Klug und Schmidt in ihrem Fazit (S. 182). Mit weiteren Funktionen von Musik setzen sich Benedikt Spangardt, Ann-Kristin Herget und Holger Schramm im Artikel "Musik in der Werbung" auseinander und demonstrieren die persuasive Kraft von Werbemusik anhand zahlreicher Beispiele. Sie arbeiten den Stellenwert von Musik für ökonomische Belange deutlich heraus, erstaunlich daher die Beobachtung, dieses Thema fände in der akademischen Forschung kaum Beachtung (S. 207). Häufig unterschätzt werde auch "Musik in Computerspielen", wie sie Peter Moormann präsentiert. Dabei präge gerade "die Musik in Computerspielen unsere Musikerfahrung und damit unseren Musikgeschmack" (S. 213), so der Autor einführend. Die Musik kann dabei derart gestaltet werden, dass sie adäquat auf das individuelle Spielerverhalten reagiert, oder umgekehrt ist die Musik auch imstande, auf das Verhalten von Spielenden einzuwirken, wenn Hindernisse oder die eigene Unverwundbarkeit akustisch untermauert werden. Ob man nun, wie der Autor, so weit gehen möchte und die Spieler*innen zu "Co-Arrangeuren" zu erheben, das sei jedem selbst überlassen. Ein Thema, das sich seit der ersten Auflage im Jahr 2009 gravierend verändert hat, beschäftigt den Autor des letzten Artikels im ersten Part: "Musik auf Online- und Mobilmedien". Nicolas Ruth führt allgemein verständlich den Einfluss des Internets auf Musikkultur sowie die wichtigsten Entwicklungen, Technologien, Formate und Plattformen vor und vergisst dabei auch nicht, grundlegende wirtschaftliche und rechtliche Probleme wie Raubkopien zu thematisieren.

Teil II liefert Beiträge zur "Geschichte der Musik in nicht-auditiven Medien" und startet mit dem Kapitel "Notation als mediale Darstellung von Musik" von Herbert Bruhn. Darin geht er nicht nur Entstehung und Zweck einer schriftlichen Überlieferung von Musik nach, sondern beschäftigt sich mit deren Unzulänglichkeiten und dem Werkbegriff per se. Musikpublizist Gunter Reus folgt mit einem umfangreichen Beitrag über "Musikjournalismus in Zeitung und Blogs". Wie unterschiedlich Beiträge über Musik gestaltet sein können, zeigt er zunächst anhand von Künstlergrößen wie Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann oder Eduard Hanslick oder gegenwärtig an der Tendenz, Kritik in Internet-Blogs zu verfassen. Unabdingbar für alle, so Reus, sei eine kritische Distanz der Autor*innen, um sich nicht "für PR-Interessen einspannen zu lassen" (S. 299). Direkt im Anschluss daran folgt der Artikel von Stefan Weinacht und Till Krause, die ihren Fokus auf Musikzeitschriften richten. Unabhängig von redundanten Informationen im Hinblick auf den vorangegangenen Beitrag zeigen die beiden Autoren neben musikästhetischen Fragestellungen auch ökonomische und sozialwissenschaftliche Aspekte auf, die gerade bei Zeitschriften für Liebhaber eine wichtige Rolle spielen: "Denn die Musikzeitschrift ist heute die Vinylplatte unter den Musikmedien: ein Liebhabermedium" (S. 334). Einem ganz anderen Thema widmet sich Julia Cloot in "Modellfälle von "Musik" in der deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts", indem sie Musik als literarisches Motiv anhand von beispielsweise Doktor Faustus (Thomas Mann) oder Der Untergeher (Thomas Bernhard) diskutiert. Kunsthistoriker Roland Seim zeigt, wie Plattencover und Konzertplakate vom reinen Informations- zum gewinnbringenden Werbeträger wurden. Anhand verschiedenster Plakate und Tonträger-Covers demonstriert er, wie unterschiedlich Cover-Kunst geartet sein kann und dass in manchen Fällen schon einmal von richterlicher Seite Zensur angeordnet wird, um die "Sozialschädlichkeit" (S. 399) eines Tonträgers zu verhindern.

Teil III, "Komposition und Produktion von Musik unter Einfluss von Medien", wird eröffnet von Michael Ahlers mit einer Einführung in die wesentlichen Aspekte populärer Musikproduktion mitsamt deren Techniken, Prozessen und Akteur*innen, wodurch Leser*innen einen guten Überblick in Geschichte und Prozesse erhalten. Dass in unserer Zeit auch Kompositionen von Computern erstellt, Klänge erzeugt, gesteuert und gespeichert werden können, erörtert André Ruschkowski in seinem Beitrag zur Computermusik. Marion Saxer untersucht "Medienkonstellationen zeitgenössischer Musik- und Klangkunstformen" und diskutiert dabei Fragen zur Mediensituation in der zeitgenössischen Kultur.

In Teil IV, "Rahmenbedingungen der Gestaltung und Produktion von Musik in den Medien". erklärt Christoph Jacke in "Kulturen und Ästhetiken von Popmusik und Medien" grundlegende Konzepte zu Authentizität, Kunst, Kommerz sowie Etablierung und wendet diese anhand von Bands, Moden und Bewegungen an. Dabei nähert er sich dem Thema durchaus kritisch, wenn er darauf hinweist, dass das Internet Produktion und Marketing zwar ebenso erleichtert wie den Zugang zu Musik für potentielle Rezipierende, doch sagt dies nichts über die Qualität der Produktionen und Kompetenz der Rezipierenden aus (S. 521). Mit den "rechtlichen Rahmenbedingungen der Produktion, Distribution und Rezeption von Musik" beschäftigt sich Frédéric Döhl und offeriert eine überblicksmäßige Einführung in Themenbereiche wie Urheberrecht und Medienrecht und ergänzt diese durch praktische Hinweise zu benachbarten Rechtsgebieten. Dabei erläutert Döhl die Rechtslage auch für Fachfremde verständlich und bringt als Service Lektüreempfehlungen zur weiteren Vertiefung in die Materie. Peter Tschmuck setzt sich schließlich mit den "ökonomischen Wechselwirkungen von Musikindustrie und Medien" auseinander, greift hier einzelne bereits erläuterte Thematiken des Handbuchs noch einmal auf und erläutert diese aus ökonomischer Perspektive.

Das multiperspektivische Handbuch ist äußerst übersichtlich gestaltet und überzeugt mit seinem dramaturgischen Aufbau. Inhaltsverzeichnisse und optisch abgetrennte Zusammenfassungen am Beginn jedes Kapitels geben die wichtigsten Leitgedanken der Autor*innen wieder, einzelne Zwischenüberschriften vereinfachen die Orientierung innerhalb der Texte. Sach- und Autorenregister unterstützen zudem den herausragenden Nachschlagecharakter des Handbuchs. Als besonderer Service für Rezipient*innen des elektronischen Formats erweist sich die Möglichkeit, Autoren direkt mit einem Klick zu kontaktieren, außerdem werden universitäre Zugehörigkeiten und Kontaktmöglichkeiten der Autor*innen zu Beginn jedes Kapitels in den Fußnoten dargestellt.

Einziger Kritikpunkt ist der unvermittelte Einstieg in medias res ohne thematische Einführung wie in der 1. Auflage des Handbuchs oder zumindest ein Vorwort mit Erläuterungen zur 2. Auflage. Besonders interessant wäre: Warum wurde die Struktur geändert, weshalb wurden neue Themenbereiche hinzugefügt, andere jedoch gestrichen? 

Liest man in den Rezensionen zur 1. Auflage, dass zu wenig auf Popmusik eingegangen wurde, so hat sich das nun eher ins Gegenteil umgedreht, und an manchen Stellen würde man sich mehr Diskurse über klassische Musik, Jazz oder Volksmusik wünschen. Ebenso die Kritik in Hinblick auf die Rolle der Musik für die Konsumgüterindustrie oder im Computerspiel hat der Herausgeber sich zu Herzen genommen und diese Themenbereiche in der zweiten Auflage an renommierte Autoren übertragen. Gänzlich neu hinzugekommen sind in dieser Auflage auch die Kapitel zu ästhetischen, rechtlichen und ökonomischen Aspekten, zusammengefasst unter der Überschrift "Rahmenbedingungen der Gestaltung und Produktion von Musik in den Medien", ein sehr bedeutender Themenbereich, komplementär zu den anderen Themenstellungen. Bedauerlicherweise mussten dafür scheinbar andere Beiträge wie Helga de la Motte-Habers Neue Musik als mediale Kunst oder die Betrachtungen zum Musiktheater weichen.

Insgesamt ist Schramms Handbuch für Musik und Medien mit seiner interdisziplinären Ausrichtung und dem hohen wissenschaftlichen Anspruch auch in der 2. Auflage als wichtiges Nachschlagewerk für Forschende und Studierende diverser Fachrichtungen zu empfehlen, die sich mit der Mediengeschichte der Musik vertraut machen möchten. Zahlreiche weiterführende Quellen erleichtern die Vertiefung – insbesondere dort, wo die Beiträge aufgrund der notwendigen Beschränkungen Desiderata eröffnen. Die Publikation bietet aber ebenso eine großartige Möglichkeit für Laien, die eine erste, prägnante Einführung zu den wichtigsten Phänomenen und aktuellen Problemstellungen in der Wechselbeziehung zwischen Medien und Musik erhalten wollen.

Interessant wird sein, inwieweit die Corona-Pandemie und das notgedrungene Ausweichen der Musikkultur in den virtuellen Raum die Wechselwirkungen zwischen Musik und Medien noch einmal verändern oder Prozesse beschleunigen wird – in dieser Hinsicht ist jetzt schon mit Spannung die dritte Auflage des Handbuchs zu erwarten!

Autor/innen-Biografie

Martina Kalser-Gruber

Studierte Musikwissenschaft an der Universität Wien und schloss ihr Studium mit einer Dissertation über die Entwicklung des Genres Musical in Wien ab. Erste berufliche Erfahrungen sammelte sie im Archiv des ORF-Landesstudio NÖ sowie im Kulturmanagement, ehe sie an das Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Donau-Universität Krems wechselte. Dort betreute Kalser-Gruber einige Jahre lang die Sammlung Mailer / Strauss Archiv und ist nun unter anderem für Kommunikation und PR verantwortlich. Im postgradualen Studium "Kommunikation und Management" konnte sie ihr Wissen zu Kommunikation im Kulturbereich weiter vertiefen. Dieses schloss sie mit einer Master Thesis zum Reputationsmanagement in Kulturbetrieben ab.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Medien