Teresa Megale: Tra mare e terra. Commedia dell'Arte nella Napoli spagnola (1575–1656).

Rom: Bulzoni Editori 2017. ISBN: 978-88-6897-081-9. 470 S., Preis: € 32,30.

Autor/innen

  • Anke Charton

Abstract

Das romantisierende Neapelbild, das vor allen Dingen durch die Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts installiert worden ist, verstellt den Blick auf die vielschichtige und widersprüchliche Theatergeschichte Neapels: Mit dieser Aussage tritt Teresa Megale zur Revision verstetigter Allgemeinplätze über die neapolitanische Commedia dell'Arte des Cinque- und Seicento an, die sich pittoresk etwa in Maurice Sands Masques et bouffons (1860) verdichtet haben. Eine Genese der populären neapolitanischen Commedia-Masken wie Pulcinella, Coviello oder Capitano aus einer homogenen und genuin neapolitanischen Fest- und Regionalkultur ist jedoch ein vereinfachendes Narrativ, das den historischen Fakten nicht gerecht wird.

Für den Zeitraum von 1575 bis 1656 – von dem Jahr, in dem der erste bislang bekannte Vertrag einer Commedia-Truppe in Neapel unterzeichnet wurde bis hin zur Pestepidemie, die eine Zäsur für das öffentliche (Theater-)Leben setzte – breitet Megale anhand einer Fülle an Archivmaterial ein Panorama an Akteur*innen und Orten aus, die die langsame und wechselvolle Entwicklung von Berufstheater im Neapel der Frühneuzeit vor dem Hintergrund sozialer, wirtschaftlicher und politischer Bedingungen greifbar machen. Weniger an einer Gesamtdarstellung interessiert, die erneut die Gefahr einer Glättung bärge, legt der Band vielmehr mit Sorgfalt einzelne Steine eines Theatermosaiks frei, das die Spannungen zwischen Großstadt und Umland, zwischen spanischer Herrschaft und heterogenen Bevölkerungsgruppen nicht verleugnet.

Megale, außerordentliche Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Florenz, liefert einen Beitrag, der durch profunde, sprachübergreifende Sach- und Quellenkenntnis und eine breite Palette akribisch aufgearbeiteter Quellen überzeugt. Sie baut – teilweise auch in zitiertem Archivmaterial – auf den Studien zum neapolitanischen Theater des 16. und 17. Jahrhunderts von Benedetto Croce (I teatri di Napoli, zuerst 1891) und Ulisse Prota-Giurleo (I teatri di napoli nel '600, 1962) auf, schafft aber in bester Tradition der italienischen Commedia-Forschung, in methodischer Anbindung an die transkulturellen sowie wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ansätze von u. a. Ferdinando Taviani, Ferruccio Marotti und Siro Ferrone, einen quellenzentrierten Überblick, ohne dabei der Versuchung einer großen Erzählung zu erliegen.

Erschienen in der Abteilung "Testi e documenti" der Biblioteca teatrale ist der Band dennoch weitaus mehr als eine Quellensammlung. In kleinteiliger historiographischer Arbeit befragt Megale ihr Material behutsam auf mögliche Kontexte und schält so in präziser Miniaturarbeit Theatergeschichte aus ihren sozioökonomischen und geografischen Bedingungen heraus. Sie wählt dazu drei sich in Teilen überlappende Perspektiven: "Physiognomien", "Orte" und "Dramaturgien" von Theater benennen dementsprechend den Fokus der drei Kapitel, die durch einen üppigen Anhang aus ikonografischen Quellen und transkribiertem Archivmaterial sowie einem Index ergänzt werden.

Die Professionalisierung von Theaterstrukturen geschah in Neapel im Vergleich zu anderen italienischen Städten später, was sich auch auf die Quellenlage auswirkt. Megale begegnet diesem Manko – das sie in der spezifischen "Physiognomie" des Vizekönigreichs Neapel mit seinen wechselnden spanischen Statthaltern ohne nachhaltig dynastische Strukturen und ohne überregionale Netzwerke für die Schauspieltruppen festmacht –, indem sie die Lücke als Indiz nimmt: Ohne konstante Patronage sei die Theaterszene Neapels schnelllebig und fluid gewesen, ein Kaleidoskop in immer neuer Zusammensetzung, an der Schwelle zur Professionalisierung und damit schwer fassbar. Statt Truppen zu fördern und in die eigene Repräsentationspolitik einzubauen, bestellte sich der Vizekönig einzelne Akteure für Auftritte ("visite", S. 71) an seinen Hof, die er dafür aus ihrem Verband herauslöste und separat bezahlte. Damit verschiebe sich in der Stadt auch die Bedeutung eines "semiprofessionalismo", der ein größeres Gewicht erhalte (S. 94) – eine unter mehreren Thesen, die einige Seiten mehr verdient hätten.

Immer wieder folgt Megale der Spur des Geldes: Sie analysiert das Erwerbsmodell der Comici in Anteilen ("parti", S. 26) als Lebensmodell, rekonstruiert anhand von Immobilienverträgen die Wohn- und Wirkungsorte von Schauspielern um die Via della commedia vecchia und Via della commedia nova und spürt früheren und späteren Karrieren von Schauspielern nach – als Verleger oder auch als Barbier, was eine Nähe zu den saltimbanchi, ciarlatani und istrioni herstellt, jenen Scharlatanen, die ebenfalls schauspielerisches Handeln zu Erwerbszwecken einsetzten, hier aber nur am Rande Erwähnung finden und vom Berufstheater abgetrennt wurden, als das ius representandi Philipps II. auch in Neapel griff und das Hospitalwesen in Gestalt des Ospedale degli Incurabili nach spanischem Vorbild das Theatermonopol erhielt.

Das von Megale wiederholt als Labyrinth bezeichnete Theatergeflecht Neapels wird im zweiten Kapitel gegliedert durch Routen (über das omnipräsente Meer und auf dem gefährlichen Landweg, wobei das mehrfach angesprochene "Hinterland" des Vizekönigreichs insgesamt weniger Beachtung erfährt) und Orte: Alle fünf offiziellen Spielstätten ("stanze"), die in den Untersuchungszeitraum fallen, werden dokumentiert und bieten über Praxen und Akteure vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten und Quelleneinblicke für weitere Forschungen. Von der frühen Stanza di Joanne Trappolino, die in einer christlichen Überblendung baulich in das Waisenhaus der Pietà dei Turchini überführt wurde, bis hin zur von der katholische Kirche selbst errichteten Stanza di San Bartolomeo blättert Megale über Testamentsstreitigkeiten (die Erbmasse Carlo Fredis erlaubt hier weite Einblicke in die Spielpraxis) und Baupläne (so die Konstruktion der Stanza di San Bartolomeo, die auf den Convitato di pietra Rücksicht nahm) ein weites Kapitel Stadt- und Theatergeschichte auf, in dem spanische, neapolitanische und lombardische Truppen in immer neuen Konstellationen abhängig voneinander agierten: "Il dinamismo e l'eclettismo caratterizzavano la nascente civiltà dello spettacolo professionistico napoletano, che sfruttava al meglio le energie interne, pur sapendo attingere ad altri modelli, quelli proposti dai comici 'lombardi' e quelli esibiti dai comici spagnoli, e proporne mirabili sintesi in un linguaggio recitativo contrassegnato dalla prevalenza mimetico-gestuale." ["Wandlungsfähigkeit und Eklektizismus prägten das sich formierende neapolitanische Berufstheater, das im besten Falle aus den eigenen Energien schöpfte, aber auch andere Modelle nutzte, etwa das von den 'lombardischen' Schauspielern vorgeschlagene oder das von den spanischen Schauspielern praktizierte. Daraus resultierte als bewundernswerte Synthese eine Bühnensprache, die vor allen Dingen gestisch-mimisch geprägt war."] (S. 165).

Im dritten und letzten Kapitel der "Dramaturgien" sucht Megale nach verschriftlichten Erzählstrukturen und Figuren und greift auch hier erneut auf weitgefächertes Quellenmaterial zurück, um u. a. den sprichwörtlichen zeitgenössischen Geschmack für "commedie spagnole e intermedi napoletani" zu erklären. Mnemotechnisch konstruierte canovacci und Giambattista Basiles Märchenreigen Lo Cunto de li cunti (1634/36) stehen neben möglichen Genealogien für Pulcinella, Capitano (der, so Megale, in der Interaktion mit seinem Diener auf denselben Gestus wie Don Quixote zurückgreife und den Cervantes aus seiner Militärzeit in Italien gekannt haben dürfte) und Don Juan Tenorio, dessen zeitgleiche italienisch-spanische Popularität Megale auf die Personalie des Vizekönigs Pedro Girón de Velasco, den dritten Herzog von Osuna, als mögliche Inspiration zurückführt.

Die Stärken der Studie liegen auch hier in der hervorragenden Kenntnis des Archivmaterials; teilweise wäre eine stärkere Anbindung z. B. an Positionen der Festforschung und der Kulturanthropologie noch ein Zugewinn gewesen. Punktuelle Verweise gibt es auf etablierte Konzepte etwa von Habermas, Deleuze, Warburg und Lévi-Strauss; eine zusätzliche Verbindung etwa zur Commedia-Forschung Robert Henkes läge auf der Hand. Zum posttridentinischen Katholizismus als klassenübergreifendem Theater oder zum neapolitanischen Verhältnis von höfischer Repräsentation und Schaukultur erführe man gern noch mehr, zumal die präsentierten Quellenfunde Lust auf umfassendere theoretische Kontextualisierungen machen. An einigen Stellen wäre es, in Hinblick auf eine breitere Leserschaft, die dieser Band auch in Hinblick auf weiterführende Forschungen international verdient, hilfreich gewesen, neben den neapolitanischen und portugiesischen auch die lateinischen und spanischen Zitate des Fließtextes vollständig übersetzt vorzulegen.

Dass Megale, in einer genussvoll geschliffenen Sprache, in dieser Arbeit nahezu beiläufig die Bühnengenese des Pulcinella von Silvio Fiorillo auf Andrea Calcese vordatieren kann (S. 29–32) und auch bereits bei Croce und Prota-Giurlei vorkommende Akteure wie Carlo Fredi, Ottavio Sgambato und Vincenzo Capece in neuen Facetten präsentiert, macht die Lektüre zu einem zusätzlichen Gewinn.

Autor/innen-Biografie

Anke Charton

Studium der Theaterwissenschaft und der Germanistik an den Universitäten von Leipzig, Bologna und Berkeley; Promotion mit einer Arbeit zur Repräsentation von Geschlecht in der Oper. Lehrbeauftragte an den Universitäten Leipzig und Paderborn/HfM Detmold, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt MUGI der HfMT Hamburg. Seit 2015 Univ.-Assistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Forschungs- und Publikationsfelder: Theatergeschichte, Gesangsforschung, Musiktheater, Gender & Diversity Studies.

Publikationen:

Ausgewählte Veröffentlichungen:

–, "Meine Lippen, sie küssen so weiß." Intersektionen von Gender, Race and Class in der Klassikindustrie. In: Jahrbuch Musik und Gender 12, Hildesheim: Olms (im Druck).


–, "I canti esaltino il suo valore": Gendering the Operatic Sound of The Heroic. In: Tracing the Heroic Through Gender. (Helden – Heroisierungen – Heroismen 8). Hg. v. Carolin Hauck/Monika Mommertz/Andreas Schlüter/Thomas Seedorf. Würzburg: Ergon 2018, S. 9–24.


–, "Bululú und Buhonero: Reisende Akteure und (un)sichtbares Wissen im iberischen Raum der Frühen Neuzeit". In: Erinnern – Erzählen – Erkennen. Vom Wissen kultureller Praktiken. (Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung 6). Hg. v. Ronja Flick/Maria Koch/Ingo Rekatzky. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2017, S. 275–289.

Downloads

Veröffentlicht

2019-05-15

Ausgabe

Rubrik

Theater