T. F. Earle/Catarina Fouto (Hg.): The Reinvention of Theatre in Sixteenth Century Europe. Traditions, Texts and Performance.

London: Legenda 2015. ISBN 978-1-907-97576-9. 341 S., mehrere Abbildungen, Index. Preis: € 72,55.

Autor/innen

  • Anke Charton

Abstract

"There is very little in the history of the theatre in Western Europe that has escaped academic attention, and the sixteenth century is no exception." Bereits der einleitende Satz dieses von Thomas F. Earle und Catarina Fouto herausgegebenen Sammelbandes skizziert den Anspruch der Publikation: nämlich vor allen Dingen Bekanntes neu zu vernetzen und zu beleuchten. Dies gelingt in recht hohem Maße, wirft aber vor dem Hintergrund des Bandtitels – The Reinvention of Theatre – auch wiederholt die Frage nach dem zugrunde gelegten Theaterbegriff auf: Ist das 16. Jahrhundert theaterhistorisch wirklich bereits umfassend erforscht?

Die hier versammelten Aufsätze, die im Kern auf eine 2011 in Oxford abgehaltene Tagung zu lateinischer und volkssprachlicher Dramatik des 16. Jahrhunderts zurückgehen, begreifen sich als kritischen Einblick in die "rich and varied dramatic production" (S. 7) der Frühneuzeit. Die angestrebte Interdisziplinarität und Vernetzung wird aber bereits hier von einem klaren Textprimat überschattet: Es geht eben um "dramatic production" als Theater, weniger um die – immerhin erwähnten – "elite and popular practices" und "sacred and secular traditions" jenseits eines dramenbasierten Theaterbegriffs, die im 16. Jahrhundert jedoch einen Großteil theatraler Praxen stellen und für ihr Verständnis elementar sind.

Da die Herausgeberperspektive die einer philologisch orientierten Lusitanistik ist, ist diese Ausgangsposition jedoch nachvollziehbar. Nimmt man sie als solche zur Kenntnis, so erschließen sich in der Lektüre lohnende und bislang wenig präsente Zusammenhänge auch für theaterhistorisch Interessierte, deren Schwerpunkte abseits der Dramentradition liegen.

Der Fokus liegt, den Forschungsgebieten der Herausgeber*innen geschuldet, vor allem in der Iberoromanistik und in der Klassischen Philologie (Neulatein), die hier gut aufbereitet zugänglich gemacht werden.

Hervorzuheben sind wiederkehrende Bezüge zu marginalisierten und außerliterarischen Traditionen und die Bereitschaft, auch Theatergrößen des 16. Jahrhunderts wie Vicente oder auch Shakespeare weniger als Texte, denn als Kontexte zu begreifen – so etwa im vielfältigen und genau dokumentierten Nachspüren von Quellen und Einflüssen in der Dramenproduktion (Alves, Cardoso Bernardes) und ihrer Weitergabe (Whetnall, Anastácio). Hierbei zieht sich insbesondere die humanistische Terenz- und Plautusrezeption, vorrangig in Portugal und England, als roter Faden durch den Band. Von den eingenommenen Perspektiven besticht der Blick auf Dramen zwischen Reformation und Gegenreformation als Austragungsort religionsanthropologischer Debatten, im Calvinismus (Meere) wie auch zwischen Lutheranismus und Jesuiten (Watanabe-O'Kelly).

Die Beiträge liefern einen vorzüglichen Einblick in einen in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft wenig diskutierten Quellenkorpus. Wiederholt finden sich in den Appendizes der einzelnen Aufsätze Neuübersetzungen ganzer Szenen, viele schwer zugängliche Materialien sind bibliografisch hervorragend aufgearbeitet und profitieren von der sorgfältigen Herausgabe. Gruppiert ist der Band in drei Themengebiete, in einen quantitativ überwiegenden (acht Beiträge) zu Literary Tradition and the Theatre, gefolgt von einem schmalen Abschnitt (drei Beiträge) zu Theatre and Performance und einem ähnlich bescheidenen (vier Beiträge) zu Theatre and Society. Inwieweit hier klare Grenzziehungen überhaupt möglich sind, ist eine andere, in der Herausgabe schwer zu lösende Frage.

Deutlich wird aber durchweg, dass Philologien, Theaterwissenschaft und anthropologische Kulturwissenschaft in Bezug auf frühneuzeitliche Theaterhistoriographie voneinander profitieren können und dialogische Forschung sinnvoll wäre; der vorliegende Band würde einen guten Knoten in einem solchen Netzwerk darstellen.

Der einleitende Beitrag von Hélio Alves setzt gleich bei Shakespare und einem "good look in the neighborbood" (S. 12) an, indem er die häufig dem Shakespeareschen Hamlet zugeschriebene Innovation eines innerlichen Bewusstseins auf der Bühne – Alves spricht von "inwardness" – anhand der Lektüre zweier Vicente-Dramen von einer Autorschaftsdebatte abkoppelt und stattdessen auf mehrere frühere Instanzen und einen breiteren Kontext verweist: In der Geschichtsschreibung an individuellen Genius gebundene Konventionen ließen sich in größeren Zusammenhängen fassen, "when placed in their adequate historical position within a theatrical practice beginning much earlier" (S. 18). Es sind vor allem solche Zugänge, die den Band für theaterwissenschaftliche Forschung interessant machen.

Mit der Frage von Druckfassung versus Spielfassung befasst sich José Augusto Cardoso Bernardes, der Vicentes Auto da Festa als dramaturgischen Steinbruch untersucht.Auch er beschäftigt sich mit der sich wandelnden Rolle von Autorschaft im 16. und auch 15. Jahrhundert: die erst zwanzig Jahre nach Vicentes Tod erfolgte Werkausgabe von 1562 bilde gerade auch Entscheidungen seiner Herausgeber*innen ab. Die Analyse des Verhältnisses der Figuren Fool und Truth macht deutlich, wie sehr hier eine Verschränkung mit stärker theateranthropologischen Positionen (Tricksterbegriff, grotesker Körper, Erste Natur) Ergebnisse schärfen könnte.

Jane Whetnall behandelt vordergründig das Datierungsproblem – spätes 15. oder doch 16. Jahrhundert? – des anonymen Auto de la huida a Egipto und geht der Verfügbarkeit von Vorlagen nach, die sie in Klosterzirkeln des 12. bis 14. Jahrhunderts lokalisiert. Während eine Zuschreibung wie "theatrically mature" (S. 42) als Wertung nicht unproblematisch ist, erschließt die Quellensuche ein transdisziplinär sinnvolles "kulturelles Umfeld des Entstehens" (S. 44), auch über Ländergrenzen hinaus, und argumentiert so überzeugend für eine "international tradition" (S. 73).

In den Beiträgen des Herausgeberteams stechen für theaterhistorisch Arbeitende die eher beiläufig vorgebrachten Positionen zum Theaterverständnis produktiv heraus. Während Earle eingangs anmerkt, dass es zu Ferreiras Zeiten kein professionelles Theater gegeben habe, aber dann auf eine etablierte Infrastruktur von Dramenaufführungen bei Hof, in Privathäusern und in den Universitäten verweist, spricht Fouto trotz der von ihr postulierten Neuerfindung von Komödie und Drama im portugiesischen 16. Jahrhundert ganz selbstverständlich von älteren Traditionen: "Long before the work of Plautus, Terence, Seneca and Euripides sparked the interest of the Portuguese elites, there was a thriving dramatic tradition, specific to the Iberian peninsula, which was very popular across society: the Portugese auto" (S. 89).

Earles Hauptaugenmerk liegt, aus eher psychologisierender Perspektive, auf einem von ihm bei Ferreira in den Komödien Cioso und Castro ausgemachten Umschwung von 'plot driven' zu 'character driven', der Ferreira erlaube, sich von den strengen klassizistischen Vorlagen zu emanzipieren (S. 83). Auch hier überzeugt die Einordnung in eine mit den 1550er Jahren bereits etablierte Aufführungspraxis römischer Theaterliteratur in Portugal.

Foutos Interesse gilt den "concepts of dramatic theory of Portuguese humanist playwrights" (S. 89), die sie in eine ins Mittelalter zurückreichende Überlieferungstradition stellt. Zwischen Tradition und Innovation – wie antiken dramaturgischen Mustern, aber dann volkssprachlichen, gegenwartsorientierten Neuerungen – untersucht sie allen voran Teives Tragödie Ioannes Princeps, die sie auch genreübergreifend befragt und so den Bandtitel der "reinvention" programmatisch thematisiert.

Einen theaterhistorisch durchaus anschlussfähigen Beitrag liefert Martin McLaughlin mit einer eigentlich rein philologischen Untersuchung zur Wiederentdeckung Terenz' im Italien der Renaissance. In der peniblen Analyse von Vokabular und Stilistik bei Alberti und Macchiavelli erarbeitet McLaughlin einen Quellenkorpus (wie z. B. den Donatus-Kommentar zu Terenz), der sich in den Komödien beider Autoren nachweisen lässt, eröffnet dabei aber – wenn auch nur implizit – als Nebenprodukt auch einen Blick auf die imitierende Schreibpraxis von frühneuzeitlichen Komödien und wirft die Frage nach dem Einfluss vom Wissen um Stilvorgaben auf.

Ähnlich eng am Text beschäftigt sich Elizabeth Sandis mit John Gagers Ergänzungen zu Senecas Hippolytus, die sich aber auf eine konkrete Aufführung von 1592 beziehen. Sie verfolgt Gagers Umgang mit Mythosgeschichte und konkreten Fassungen anhand der Figur der Phaedra. Auch hier ist das Interesse der Autorin eigentlich ein philologisches, die Ebenen von Drama und Quellenüberlieferung lassen sich jedoch um Aufführungspraxis und Schauspieltheorie ergänzen – Randkommentare wie der Vergleich zwischen Universitätstheater und "theatro vulgari" (S. 150) lassen hier aufhorchen, ebenso wie die "mythological cycles" (S. 151), deren Verhältnis zu zeitgebundenen Narrativen zum theaterwissenschaftlichen Weiterdenken einlädt.

Eine stärker translatologische Perspektive bietet Katherine Jeffs Verhandlung von Guillen de Castro als Vorläufer der comedia nueva, in der sie die aktuelle Vermittelbarkeit frühneuzeitlicher Komödienfiguren thematisiert und an den Begriff der Identität anknüpft (S. 179), der hier über den Zugang der Sozialrolle leichter fassbar wäre.

Der Abschnitt zu Theatre and Performance beginnt mit einer vorzüglich differenzierten Betrachtung des Verhältnisses von Berufsschauspieler*innen und Akademiekultur im Italien des 16. Jahrhundert – "the obscure and complex relationship between the new professional theatrical companies and the Italian literary academies" (S. 189), die gerade auf Seiten der Akademienforschung Desiderate aufweise. Lisa Sampson, die umfangreiches Archivmaterial heranzieht, schließt hier eine erste Lücke in diesem für Theaterhistoriker*innen unbedingt lesenswerten Beitrag. Akademien und professionelle Wandertruppen als "micro-societies" (S. 190) befänden sich trotz deutlicher formulierter Abgrenzung in einem komplexen Wechselverhältnis. Sampson streicht das innovative Potential der Akademien ebenso heraus wie die Verbindung zu früheren Festgesellschaften (deren anthropologische Dimension nicht zum Thema gemacht wird). Die vereinzelte Aufnahme von Schauspielprofis in Akademien und die diesbezüglichen Inszenierungsstrategien beider Seiten legt Sampson ebenso überzeugend offen wie die Destabilisierung des Akademie-Begriffs im 17. Jahrhundert, als professionelle Truppen zunehmend auch in die literarische Produktion drängten.

Katherine Duncan-Jones setzt ihre Überlegungen zur Reichweite der Schauspielkünste William Kemps in den Kontext der Clown-Trias Tarlton, Kemp und Armin. Hierzu betrachtet sie Spielbezüge ebenso wie biographische Milieus und fasst Kemps Bedeutung durch Aufführungsberichte und Spieltexte ein. Auch hier ließe sich mit theaterwissenschaftlicher Forschung zu reisenden Truppen anknüpfen.

Als dritter und letzter Autor im Abschnitt zu Performance befasst sich José Camões erneut mit Vicente – hier geschildert als vielseitiger Theaterpraktiker und nicht nur als Autor – und seinen Neuerungen, "towards modernity and the renaissance separation of performance and audience" (S. 239), die wiederum in den Jahrzehnten nach Vicente kopiert worden seien.  

Der dritte Teil des Bandes – "Theater and Society" – beginnt mit einem weiteren Beitrag zu Terenz und Plautus als bildungspolitischen Instanzen im Tudor-England des 16. Jahrhunderts, die das Theaterschaffen beeinflussten. Peter Brown untersucht Vokabular und Plotmuster, macht aber bereits eingangs klar, dass "how thoroughly embedded Latin comedy was in the developing dramatic culture of the period" (S. 255) nur ein Aspekt theatraler Praxen der Zeit ist. Das Panorama früher Spieldaten und Orte – wie der eventuell ersten Terenz-Aufführung in Cambridge 1510/1511 – bietet theatergeschichtlich interessante Einblicke, ebenso wie der Antikentransfer über Renaissance-Italien nach England, die Brown anhand der Humanistenkomödien wie Ariosts I Suppositi, aber auch Rojas' Celestina schildert. Das zentrale Beispiel der Shakespeareschen Comedy of Errors wäre gar nicht einmal notwendig, erlaubt aber Überlegungen zum Stigma der Übersetzungspraxis als ein Rühren an die Autorität des Lateinischen als Lingua Franca – hier lässt sich an einen bewusst limitierten Zugang zu Terenz als soziale Abgrenzungsstrategie die Frage anknüpfen, für wen und von wem hier Theater und Theaterpolitik bestimmt wurden.

Vanda Anastácio beschäftigt sich im Anschluss erneut mit Überlieferungstraditionen, indem sie eine Camões-Handschrift einer Printedition gegenüberstellt und sich so einem größeren Quellenpanorama annähert, dessen Verknüpfung zu Spieltraditionen aber nicht weiter thematisiert wird.

Die beiden abschließenden Beiträge befassen sich mit religionspolitisch motiviertem Theater der Reformation: Michael Meere, der nicht von Neuerfindung, sondern sinnfällig einfach von einem "shift in French theatre" (S. 297) spricht, blickt vor allem auf die Inszenierung und Legitimation von Gewalt in calvinistischem Theater ("militant and trascendent violence", S. 301), das Tagespolitik und Exegese kombiniere – ein Argument, dass auch Helen Watanabe-O'Kelly aufgreift und weiterspinnt. Vor allem das deutschsprachige Dramenschaffen sei im Jahrhundert nach der Reformation an religionspolitische Fragen gebunden, erst mit dem 17. Jahrhundert geschehe hier ein Freischwimmen hin zu stärker historischen und mythischen Stoffen (S. 328). Watanabe-O'Kelly stellt Thomas Naogeorgs Pannamachius ins Zentrum, einen protestantischen Angriff auf den Papismus, und weist hierbei auf die frühe Verwendung von Theater als Propagandamittel durch Luther und seine Kollegen hin, entwirft mit vielfachen Verknüpfungen und stupender Quellenkenntnis jedoch ein weitaus größeres Panorama.

The Reinvention of Theater in Sixteenth-Century Europe bietet somit trotz stark philologischer Ausrichtung auf einen dramenbasierten Theaterbegriff auch theaterwissenschaftlich lohnenswerte, transnationale Einblicke in Theaterschaffen und Tradierungslinien des 16. Jahrhunderts.

Autor/innen-Biografie

Anke Charton

studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Leipzig, Bologna und Berkeley. Promotion 2011 (Universität Leipzig) mit einer Arbeit zur Repräsentation von Geschlecht in der Oper. Lehrbeauftragte an den Universitäten Leipzig und Paderborn/HfM Detmold, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt MUGI der HfMT Hamburg, seit 2015 Assistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Arbeits- und Publikationsfelder: Theatergeschichte, Gesangsforschung, Musiktheater, Gender Studies.

Publikationen:

Ausgewählte Veröffentlichungen:

–, "Bululú und Buhonero: Reisende Akteure und (un)sichtbares Wissen im iberischen Raum der Frühen Neuzeit". In: Erinnern – Erzählen – Erkennen. Vom Wissen kultureller Praktiken. (Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung 6). Hg. von Ronja Flick, Maria Koch, Ingo Rekatzky. Leipzig 2017, S. 275–289. 

–, "I canti esaltino il suo valore: Gendering the Operatic Sound of The Heroic". In: Tracing the Heroic Through Gender. (Helden – Heroisierungen – Heroismen 8). Hg. von Carolin Bahr, Monika Mommertz u. a. Würzburg 2017 (im Druck).

–, prima donna, primo uomo, musico. Körper und Stimme: Geschlechterbilder in der Oper. Leipzig 2012.

Veröffentlicht

2017-11-15

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Rubrik

Theater