Annette Michelson: On the Eve of the Future. Selected Writings on Film.
Cambridge: MIT Press 2017. ISBN: 9780262035507. 352 S., 24 Farbphotos, 54 s/w Photos, Preis: € 32,99.
Abstract
Es war ein langgehegtes Projekt von Annette Michelson, das durch seine zahlreichen Abbildungen, oder genauer gesagt, durch die mit ihnen verbundenen Bildrechte in die Länge gezogen wurde. Der Sammelband On the Eve of the Future. Selected Writings on Film bringt ausgewählte Texte und Essays aus dreißig Jahren zusammen, die die Cinema Studies Pionierin hauptsächlich über den US-amerikanischen Avantgardefilm verfasst hat. Mit seinem Erscheinungsdatum 2017 ist das Buch so etwas wie ein Vermächtnis geworden: Im September 2018 starb Annette Michelson 95-jährig in ihrer Heimatstadt New York.
Michelsons Forschen und Denken war stets gegenläufig zu einem Mainstream: Mitten im Kalten Krieg begann sie sich in den USA intensiv mit dem post-revolutionären sowjetischen Kino von Sergej Eisenstein und Dziga Vertov auseinanderzusetzen (und das zu einer Zeit, als man in Amerika – inspiriert durch die Cahiers du Cinéma – gerade dabei war, sein eigenes klassisches Kino wieder zu entdecken).
Sie brachte französische Philosophie und Kritik, die sie in ihrer Zeit an der Sorbonne kennengelernt hatte, in den ästhetischen Diskurs ein – ein Umstand, der ihr ihrerseits auch Kritik einbrachte. Sie erkannte sehr früh die Qualität des US-amerikanischen Avantgardefilms, und ihre Beschäftigung mit visueller Kunst berücksichtigte auch damals marginalisierte Kunstformen wie Performance und Tanz. So widmete sie zum Beispiel Yvonne Rainer gleich zwei aufeinanderfolgende Ausgaben von Artforum. Sie schrieb über zeitgenössisches Filmschaffen, allerdings nicht in seinen populären Ausformungen. Die einzige Ausnahme bildet der Aufsatz "Bodies in Space. Film as Carnal Knowledge" über Stanley Kubricks 2001 – A Space Odyssey (UK/US 1968).
Annette Michelson war seit seiner Gründung in Jahr 1976 Mitglied des Cinema Studies Department an der New York University und kämpfte für die Eigenständigkeit des Faches, das aus dieser Position heraus interdisziplinäre Allianzen eingehen konnte: mit Philosophie, Literatur oder bildender Kunst.
Der Titel des Sammelbandes betont diese fachlichen Verstrickungen: Er verweist auf den ersten Beitrag des Buches, "The Reasonable Facsimile and the Philosophical Toy", geschrieben 1984 als eine Art Hommage an Villiers de I’Isle-Adam, einem Schüler Baudelaires. In seiner symbolistischen Science-Fiction Erzählung L’Eve Future aus dem späten 19. Jahrhundert wird der makellose Körper einer künstlich erschaffenen Frau beschrieben, der seinen 'Hersteller' zu begeistern vermag – ihr Intellekt allerdings lässt zu wünschen übrig. In der Erzählung wird Thomas Edison, der 'Vater der Photographie', aufgesucht, um ein Verfahren zu entwickeln, die Engstirnigkeit und Angepasstheit dieses Androiden zu ändern. Was Michelson an dieser Geschichte so faszinierte, ist die Obsession mit dem weiblichen Körper (gepaart mit der Verachtung ihres Verstandes), sowie der Blick von Männern auf Frauen, der später als personifizierter Kamerablick vor allem in der feministischen Filmtheorie so zentral werden sollte.
Den Blick auf Frauen, die Vermessung von Frauenkörpern, weibliche Selbstoptimierung bis hin zur Selbstauslöschung verhandelt Michelson weiter in dem Beitrag "Solving the Puzzle: Martha Rosler" von 1999, der seinen Anfang mit einem dokumentarische Beitrag Roslers über das letzte und größte Wohnbauprojekt Le Corbusiers nimmt: How Do We Know What Home Looks Like? The Unité d’Habitation of Le Corbusier at Firminy, France (1993) konfrontiert eine Utopie in der Theorie mit der Lebenspraxis ihrer Bewohner und speziell ihrer Bewohnerinnen. Wie Martha Rosler in den 'kleinen' privaten Lebenswelten die Kritik am 'großen' kapitalistischen Gesellschaftsentwurf ansetzt, zeichnet Michelson mit Rückgriff auf Roslers frühere Performances und Videos nach.
Der Titel: On the Eve of the Future beschreibt aber auch das zentrale Forschungsfeld des Buches: Das zukunftsweisende avantgardistische Filmschaffen von Michael Snow, Stan Brakhage, Hollis Frampton, Ken Jacobs oder Maya Deren.
30 Jahre umspannen die Beiträge dieses Bandes, vom ersten Text "Toward Snow" von 1971 bis zu "About Anagram" von 2001, – und diese Zeitspanne ist nicht nur als Chronologie zu lesen, sondert bildet auch einen (akademischen) Weg nach. Der erste Text wurde für die Zeitschrift Artforum geschrieben, die Michelson lange Zeit mit Texten belieferte und redaktionell betreute, und die sie nach einem Richtungswechsel in der Führungsetage verließ, um gemeinsam mit Rosalind Krauss 1976 ihr eigenes Magazin October zu gründen, das bis dato zu einer der einflussreichsten wissenschaftlichen Zeitschriften zählt.
Der jüngste Text "Poetics and Savage Thought: About Anagram" stammt aus dem Sammelband Maya Deren and the American Avant-garde (hrsg. v. Bill Nicols, Berkely: University of California Press 2001) und aus einer Zeit, in der sowohl der US-amerikanische Avantgarde Film, als auch eine der wenigen seiner weiblichen Vertreterinnen, Maya Deren, fixe Bestandteile des akademischen Diskurses sind – und Michelson selbst schon kurz vor ihrer Emeritierung als Professorin an der NYU steht.
Einige der hier versammelten Texte finden sich in Literaturlisten für Filmstudierende, wie zum Beispiel "The Art of Moving Shadows", der sich entlang der Bazin'schen Frage "Was ist Kino?" – von der frühen Fotographie über die Brüder Lumière bis zu Godard – dem Wesen des Films als Kunstform widmet.
Annette Michelsons Denken und Schreiben macht viele Türen auf, und so ist On the Eve of the Future viel mehr als eine Nachlese zum Avantgardefilm, sondern gibt zahlreiche Denk- und Lese-Anstöße, zum Beispiel zur Objektbeziehungstheorie von Melanie Klein, Bruno Bettelheims Empty Fortress oder den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Daniel Paul Schreber.
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