Katrin Köppert: Queer Pain. Schmerz als Solidarisierung, Fotografie als Affizierung.
Berlin: Neofelis 2021. ISBN: 978-3-95808-316-5. 404 S., Preis: € 28,00.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-12Abstract
Bestände fotografischer Medien, die in einem privaten Kontext entstanden sind und Sexualität oder noch dazu als 'abnorm' markierte sexuelle Praktiken zum Gegenstand haben, sind nach wie vor sehr schwierig zu erschließen und wurden bislang im deutschsprachigen Raum nur punktuell erforscht. Das hat u. a. mit der Tabuisierung von sexuellen Inhalten zu tun sowie mit einer Zuordnung dieser in eine private Sphäre, im Gegensatz zu einer gedachten öffentlichen Sphäre, zu der auch die Wissenschaften zählen. Dieser besondere Umstand führt dazu, dass das Forschungsfeld zu sexueller Praxis in der Amateur- bzw. ephemeren Fotografie noch kaum systematisch erschlossen wurde. Dementsprechend wertvoll ist die vorliegende Studie Queer Pain. Schmerz als Solidarisierung, Fotografie als Affizierung (2021) für mögliche theoretische Rahmungen und methodische Überlegungen. Umfang und Formenreichtum des darin analysierten Fotografiebestandes von Albrecht Becker können insofern als Glücksfall für die Forschung gesehen werden. Albrecht Becker (1906–2002) arbeitete hauptberuflich als Schneider, Schaufensterdekorateur und später Bühnenausstatter für Film und Fernsehen. Er hat von den 1920er bis in die 1990er Jahre als Amateur fotografiert und dabei seine Sexualität und BDSM-Praxis, insbesondere Formen des Ritzens, Schneidens, Stechens und Tätowierens, dokumentiert und inszeniert.
Queer Pain gliedert sich in insgesamt sieben Kapitel, bestehend aus einem langen Theorie- und sechs Analysekapiteln, in denen Katrin Köppert den Formenreichtum des Bestandes auffächert, wobei die Analyse der Bilder jeweils entlang einer historisierenden und einer theoretisierenden Achse entwickelt wird. Die Studie hält zur Analyse dieses außerordentlichen Bestandes zwei besonders wichtige methodologische Aspekte bereit: Einen Ansatz zu queeren Affizierung 'der Ambivalenz' und 'des Entaglements' mit 'schmutzigen Bildern', den Köppert als methodischen Bogen über das ganze Buch hinweg ausgearbeitet hat und einen äußerst dichten theoretischen Rahmen zur Einordnung des Fotografiebestandes, in den vor allem Kapitel 1 breit einführt.
Konkret spricht Köppert darin die folgenden drei wesentlichen Punkte an: Erstens, die Verortung des Bestandes im Bereich 'vernakulärer Kultur', um seinen besonderen Platz zwischen Kunst-, Amateur- und Alltagsfotografie auszuloten. Denn mit dem theoretischen Instrumentarium, das im herkömmlichen Sinne an professionalisierte (Kunst-)Fotografie angelegt wird bzw. wurde, kommt man in der Analyse eines Amateur:innenbestandes nicht besonders weit. Die Dimensionen der medialen Produktion, Distribution und Rezeption unterscheiden sich hier deutlich: Oft nehmen Amateur:innen beispielsweise mehrere Rollen in diesen Prozessen ein, die sonst arbeitsteilig funktionieren. Auch sind die medialen Produkte meist nicht für eine größere Öffentlichkeit, sondern für die individuelle (erinnernde) Rezeption bzw. eine spezifische Rezeption im nahen privaten oder intimen Umfeld bestimmt.
Eine andere Herausforderung in der Erschließung dieses Bestandes liegt in seinem schieren Umfang und der Bandbreite der darin enthaltenen Bilder: Von den geschätzt 300.000–500.000 Bildern, die in zwei Beständen in Berlin archiviert wurden, sind ca. 100.000 Selbstbilder, die sich im Schwulen Museum Berlin befinden und von denen Köppert eine Auswahl herangezogen hat.
Köppert verweist neben dem vernakulären Entstehungszusammenhang auch auf die historische Entwicklung der Kunstfotografie und ihre Rezeption, insbesondere im Rahmen schwuler Subkultur und Artikulationen des Schmerzes im Zeitraum von Beckers Wirken zwischen den 1920er und 1990er Jahren. Sie thematisiert die Foto-Avantgarde der 1920er und 1930er, die Neue Sachlichkeit, die Fotografie der Nachkriegszeit, wie auch die 'schmerzzentrierten' Bilder der Neo-Avantgarden bzw. der Body Art der 1960er und 1970er und nicht zuletzt die spezifische Ästhetik des Gay Pain der Hochzeit der AIDS-Krise in den 1980er und 1990er Jahren.
Zweitens geht Köppert in der theoretischen Einordnung auf wissenschaftliche Arbeiten ein, die die gesellschaftlichen Bedeutungen erotischer und pornografischer Bilder aus einer feministischen bzw. queer-theoretischen Perspektive zu ergründen. Damit hängt auch die Aushandlung ihres Ortes zwischen privaten und öffentlichen Sphären und ihren Attribuierungen zusammen.
Der dritte große Punkt, der im ersten Kapitel verhandelt wird, betrifft Köpperts These des Schmerzes als solidarische Affizierung in Beckers Fotografien. Dieser Abschnitt orientiert sich insbesondere an affekt-theoretischen Debatten der letzten Jahre und versucht anhand einer differenzierten Auseinandersetzung mit Schmerz den Binarismus von negativen und positiven Gefühlen zu durchbrechen.
Kapitel 2 bis 7 verweisen mit ihren Titeln "Tauschbilder", "Tarnbilder", "Maskenbilder", "Schriftbilder", " Dragzbilder" und "Schnittmuster" auf die jeweils untersuchte Form und das Narrativ der Inszenierung von Schmerz in Beckers Fotografien.
Im Laufe seines langen Lebens sind Fotografien entstanden, die u.a. der frühen Freikörperkultur und Lebensreformbewegung zugerechnet werden können (1920er/1930er) und die eine frühe Zirkulation schwuler erotischer und pornografischer Bilder belegen ("Tauschbilder"). Während des Nationalsozialismus wurden Becker jedoch genau diese Bilder als Beweismittel der Gestapo zum Verhängnis. Er wurde 1935 nach §175 Reichsstrafgesetzbuch zu drei Jahren Haft verurteilt. In dieser Zeit, so Köppert, entwickelte Becker seinen Zugang zu einem "die Körperoberfläche zersetzenden Schmerz" als Mittel und "erweiterte Form der Intimität" (S. 27). Diese Form der Ausdruckweise wurde erst während der 1980er Jahre als "intelligibel und als Praxis des BDSM in schwulen Kontexten anerkannt" (ebd.). Nach seiner Entlassung aus der Haft meldete sich Becker 1940 freiwillig zum Kriegsdienst an der Ostfront. Aus dieser Zeit ist sein Soldatenalbum überliefert, das er als Kompaniefotograf anlegte. Köppert beschreibt diese Phase im Kapitel "Tarnbilder" und die damit einhergehenden extremen Ambivalenzen in Bezug auf Homosexualität und den Nationalsozialismus mit den Worten "Intimität und Sex in der Mitte des Systems zu suchen, das Homosozialität gelten ließ, Homosexualität jedoch aufs Schärfste sanktionierte, könnte Aufschluss über die Mentalität männlicher Homosexueller zu dieser Zeit geben." (S. 143) Denn einerseits wurden homosexuelle Männer vom NS-Regime verfolgt, andererseits betrieb das Regime auch einen extremen Kult um den soldatischen Körper und patriarchale Vorstellungen der Überlegenheit deutscher Männlichkeit. Über Albrecht Becker, seine Arbeiten und sein Begehren, lässt sich jedenfalls keine lineare (Opfer-)Geschichte erzählen.
Aus den restlichen Kapiteln möchte ich noch kurz auf "Maskenbilder" und "Dragzbilder" eingehen. "Maskenbilder" hat Köppert als Titel für Beckers Schaffensperiode in der Nachkriegszeit gewählt, in der sowohl in seiner beruflichen Arbeit wie in den Fotografien, die er in seiner Freizeit anfertigte, zu bemerken ist, dass er ein großes Vergnügen an Maskierung und dem Spiel mit unterschiedlichen Rollen entwickelte. In "Maskenbilder" behandelt Köppert dazu die Schuld und Scham der Deutschen in Zusammenhang mit den Verbrechen der NS-Zeit, die in den 1950ern zum Wunsch nach einer heilen Welt in Film und Fernsehen führten, in der Becker begonnen hatte, als Bühnenbildner zu arbeiten. Zusammen mit seinem späteren Gefährten Herbert Kirchhoff "polsterte er mittels üppiger Dekors das Selbstbild Nachkriegsdeutschlands und wattierte kollektive Scham- und Schuldgefühle" (S. 196), so Köppert. In "Dragzbilder" beschreibt Köppert schließlich Bilder, in denen sich Becker mit einer Ikonografie der Arbeiter:innen-Schicht ("Becoming Worker", S. 282), die von einer Ästhetik des Schmutzigen geprägt ist, sowie exotisierenden und tribalisierender Selbstbemalungen ("Becoming Black", S. 307) "als fotografische Mobilisierung des Fetischs" (S. 315) beschäftigt.
Aufgrund des Umfangs des Bestandes, aber auch aus methodologischen Überlegungen, bleibt die Auseinandersetzung von Köppert an manchen Stellen brüchig. Es wird nicht eine einzelne Perspektive auf den Bestand eingenommen, sondern es wird bewusst seiner Heterogenität Rechnung getragen, indem mehrere unterschiedliche Stränge in der Analyse verfolgt werden. Besonders gelungen finde ich neben den oben angeführten Punkten abschließend die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Forscher:innen-Position, mit Ambivalenzen und negativen Affekten und die Offenheit des Textes vor dem Hintergrund der teilweise sehr intensiven Bilder.
Das Buch Queer Pain. Schmerz als Solidarisierung, Fotografie als Affizierung (2021) ist für all jene besonders empfehlenswert, die im Bereich Amateurfotografie theoretisch arbeiten, die sich für queer-theoretische Zugänge zu medienkulturwissenschaftlichen Gegenständen interessieren und die einen affekt-theoretisch informierten methodischen Zugang analytisch angewandt sehen wollen.
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