Anja Michaelsen: Kippbilder der Familie. Ambivalenz und Sentimentalität moderner Adoption in Film und Video.

Bielefeld: transcript 2017. Print-ISBN 978-3-8376-3663-5. 142 S., Preis: € 29,99.

Autor/innen

  • Melanie Konrad

Abstract

Anja Michaelsen analysiert in Kippbilder der Familie US-amerikanische Filme, die von transnationaler Adoption oder von Adoption über Klassengrenzen hinweg handeln. Kennzeichnend für alle von Michaelsen herangezogenen Filme ist dabei die Form des Melodramas und damit ein Darstellungsmodus, der Sentimentalität und sentimentale Lust erzeugt. In ihrer machtkritischen Analyse nimmt die Autorin besonders Bezug auf Geschlecht, Klasse und race sowie die Debatten um die 'moderne' Familie und die Auslotung der Bedeutung biologischer Verwandtschaft.

Adoption wird im Text diskursiv und in einem Spannungsverhältnis von sich überlappenden, gleichzeitigen Wahrnehmungsweisen von 'progressiven' und 'normativen' Vorstellungen verstanden. Es geht einerseits um Vorstellungen gesellschaftlichen Fortschritts durch Loslösung der Familienverhältnisse aus rein biologischen Abstammungs- und Vererbungslinien. Andererseits werden transnationale Adoption und Adoption über Klassengrenzen hinweg machtkritisch hinterfragt. Die Autorin verdeutlicht außerdem die Rolle von Medienereignissen und Frauenzeitschriften sowie sozialer Ungleichheit und militärischer Gewalt in der Erzeugung von Gefühlen für Kinder in den USA, Korea und Thailand, die schließlich zu ihrer Vermittlung an weiße Mittelschichtsfamilien in den USA führte.

'Kippbilder' veranschaulichen laut Michaelsen Dimensionen mehrerer Interpretationsmöglichkeiten der Effekte von Machtachsen – also den vergeschlechtlichten, klassisierten und rassisierten Vorstellungen in den dargestellten Familiennarrativen – sowie den damit einhergehenden positiven und oft gleichzeitig negativen Gefühlen. Michaelsens wichtigste medienwissenschaftliche These ist, Lauren Berlant folgend, dass die in den Filmen erzeugte sentimentale Lust eben auf diese Ambivalenzen verweist und ein kritisches Potenzial aufzeigt, denn Sentimentalität entsteht in den analysierten Filmen immer in emotional verstrickten und sozial hochkomplexen Situationen, die aufgrund von bestimmten Normen nicht direkt adressiert werden können. Sentimentalität bezieht sich konkret auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, überschreitet aber nicht die "ästhetische[n] oder ideologische[n] Grenzen ihrer kulturellen Plausibilität" (S. 17). Aus dem bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts stammend, diene Sentimentalität dazu, das Publikum zum Weinen zu bringen und eine Selbstvergewisserung seiner empathischen und moralischen Fähigkeiten herbeizuführen. In Bezug auf Klassenverhältnisse und das sog. 'Mutteropfer' bringt Michaelsen Foucaults Überlegungen zu Biopolitik zur Anwendung.

In "Kapitel 1: Das »Mutteropfer« im Hollywood-Melodram. Biopolitik und Klassenhierarchie" arbeitet die Autorin mit den Foucault’schen Begriffen 'Biopolitik' und 'Dispositiv' und den Filmen Stella Dallas (1937), Mildred Pierce (1945), All I Desire (1953) und The Blind Side (2009). Michaelsen beschreibt anhand des 'Opfers' der abgebenden Mutter Formen der Darstellung "mütterliche[r] Verantwortung" (S. 30), ihr Fehlen und ihre gleichsame Verwirklichung, als auch ihre Entlastung. In Stella Dallas verwirkliche sich nämlich die Mutterschaft einer Frau aus der Unterschicht durch die Aufgabe derselben und die (heroische) Abgabe des Kindes an eine andere Frau aus besseren sozialen Verhältnissen. Michaelsen fügt der feministischen Filmkritik an patriarchalischen Normen in Stella Dallas eine Foucault’sche Analyse hinzu. Vor allem die Szene der Hochzeit der Tochter Laurel, die nicht nur ihren sozialen Aufstieg besiegelt, und als hochsentimentales Ereignis inszeniert wird, bietet sich dafür an. Der Bezug wird aber erst später hergestellt. Die Autorin analysiert zunächst Mildred Pierce mithilfe Foucaults Überlegungen zu Biopolitik und den darin gemachten Schlüssen zur Überwachung der Sexualität des Kindes, die in der modernen Familie besondere Wichtigkeit erlangt. In Mildred Pierce geht es um eine sich aufopfernde Mutter und ihre missratene Tochter, die schließlich im Affekt den Liebhaber der Mutter tötet und die Schuld daran ihrer Mutter gibt. Michaelsen erkennt darin einerseits ein Moment der allumfassenden Verantwortung und Fürsorge, die an Elternschaft und speziell an Mutterschaft gebunden wird, denn diese seien schließlich für das Gedeihen der Kinder bis ins Erwachsenenalter verantwortlich. Dieses Verständnis kommt aus dem von Foucault beschriebenen biopolitischen Sexualitäts- und Familiendispositiv, das die Eltern zur Kontrolle des Kindes und seiner Sexualität abstellt und schließlich auf die Gesundheit des 'Volkskörpers' gerichtet ist. Die Herleitung ist im Text leider etwas umständlich gelöst worden, weil durch einen längeren, relativ abgetrennten Exkurs vermittelt; dennoch ist aber die damit erstellte Analyse sehr überzeugend. In Mildred Pierce komme darauf aufbauend schließlich der Genuss an einer 'mütterlichen Entlastungsfantasie' zum Tragen, indem die Mutter von der Staatsgewalt von ihrem Kind 'befreit' wird, aber das Motiv der aufopfernden Mutter unbeschädigt bleibt. Im weiteren Verlauf des Kapitels arbeitet Michaelsen vergleichend anhand von All I Desire (1953) und The Blind Side (2009) ihre Analysen zu Stella Dallas weiter aus. Sie beschreibt im Zuge dessen zwei weitere Topoi: 'klassenspezifische Familienökonomie' und 'die Zuschauerin als 'ideale' Mutter'.

Wenn sich Kapitel 1 den Themen Klasse und Mutterschaft widmete, beschäftigt sich Kapitel 2 mit race und Identität. Die Autorin analysiert hier insbesondere die Filme Daughter From Danang (2002) und First Person Plural (2000) als "Krisennarrative transnationaler Adoption" (S. 69). Diese unterscheiden sich von den Spielfilmen die im ersten Kapitel behandelt wurden vor allem dadurch, dass es sich um fernseh-dokumentarische Formen handelt, in denen die portraitierten Frauen auf Reisen in die 'Heimat' und zu den Herkunftsfamilien begleitet werden und auch Home-Videos und private Fotografien der Familien mitverarbeitet wurden. Die sentimentale Lust wird hier vor allem um eine Identitätskrise der bereits erwachsenen Kinder und ein Narrativ des scheiternden 'going home' erzeugt. Interessant ist die Verstrickung geopolitischer Agenden der Militärmacht USA im Setting transnationaler Adoption. Vor allem im Zuge des Koreakrieges von 1950–1953 wurden viele koreanische Kinder von US-Amerikaner_innen adoptiert. Einerseits gibt es einen Topos, in dem Kinder, die von Besatzungssoldaten gezeugt wurden, von der amerikanischen Nation 'beansprucht' wurden. Andererseits ging es auch darum, der Militärpräsenz einen (weiteren) humanitären Auftrag beizustellen und die Adoption von Kindern als Maßnahme der Versöhnung zwischen Amerika und Asien zu forcieren. So kam es zu einem Phänomen, dass Michaelsen die Produktion von 'public parents' nennt. Durch die Vermittlung der Notwendigkeit des individuellen Einschreitens moralisch gefestigter Bürger_innen durch Medienereignisse und Frauenzeitschriften, wurden Gefühle der elterlichen Verantwortung für Kinder aus Korea und Thailand erzeugt und es kam schließlich zur Vermittlung von vielen tausend Kindern an weiße Mittelschichtsfamilien in den USA. Die von Michaelsen herangezogenen Filme funktionieren demgegenüber in einem Adoptionsdiskurs, der sich stark um 'Ursprungs- und Entwurzelungsfantasien' dreht. Wiederum wird ein ambivalentes Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist, umgelenkt in ein Szenario, das Genesung verspricht – eben die Rückkehr in die 'Heimat' und ein Aufeinandertreffen mit der Herkunftsfamilie. Interessant sind außerdem die Ausführungen zum 'Racial Passing', zu 'Color Blindness' und 'Whitening' in den Filmen, die dazu führen, dass die Herkunft der portraitierten Frauen unter Whiteness subsumiert werden muss, da keine hybriden Identitäten möglich zu sein scheinen bzw. dazu ambivalente Gleichgültigkeit in den Familien herrscht. Ihr anderes Aussehen wird betont 'übersehen', ihre Herkunft und die Tatsache, dass sie adoptiert wurden, nicht mit einer Geschichte militärischer Gewalt verbunden, sondern mit einem Rettungsnarrativ der Verantwortung gegenüber Schwächeren und Schlechtergestellten. Das Racial Melodrama produziere Verständnis für beide Seiten, ziele jedoch auf Vereindeutigung der Situation, in einer verstrickten, rassisierten Täter_innen/Opfer-Struktur. Ein Reise- oder Heimatfilm, der wie Daughter From Danang und First Person Plural ihre Protagonistinnen dorthin schickt, 'woher sie kommen', folgt oft einer Zirkellogik und endet meist genau dort, wo er begonnen hat, so die Autorin. Er erzeugt eine Re-Affirmation des Ausgangszustandes. Der Wunsch nach einer Veränderung scheitert im Narrativ dieser Filme radikal an der vereindeutigenden Einsicht, dass die weiße Adoptivfamilie, die einzig wahre Familie in Bezug auf die emotionale Heimat ist. Dieser "Topos der überwundenen Kindheitsfantasie stellt jedoch selbst eine sentimentale Strategie des Ambivalenz-Managements dar" (S. 105), führt Michaelsen aus.

Im Schlusskapitel widmet sich die Autorin schließlich noch auf knapp acht Seiten einem sehr kurzen Fazit zu den beiden Großkapiteln und – mit einer Kurzkritik von The Kids Are Alright (2010) – einer Erweiterung des Textes um Überlegungen zur Bedeutung von biologischer Verbundenheit in lesbischen und schwulen Familienkonstellationen. Die erneute Hinwendung der Protagonistinnen aus Daughter From Danang und First Person Plural zur Adoptivfamilie, die gleichzeitig "'konventionell' und 'unkonventionell'" ist, "veranschaulicht, dass die historische Autorität 'biologischer' Verwandtschaftskonzepte begrenzt ist" (S. 122). In Bezug auf lesbische und schwule Familien wird oft ein nature-nurture-Konflikt inszeniert, wie in The Kids Are Alright, der schließlich in zeitgenössischen Filmen zugunsten von nurture ausfällt und biologische Verbundenheit gänzlich verwirft. Theoretikerinnen wie Donna Haraway oder Judith Butler plädieren hingegen seit langem dafür, die Dimensionen des Biologischen und Materiellen und des Kulturellen und Emotionalen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zusammenzudenken.

Kippbilder der Familie vermittelt sehr kompakt eine Historisierung von für Adoptionsdiskurse typischen filmischen Formen und Topoi. Außerdem sind die Ausführungen zu den Funktionen von Sentimentalität und zu Biopolitik nach Foucault meiner Meinung nach sehr gelungen. Umso bedauerlicher ist es, dass dem zum Schluss skizzierten Zugang zu Queer Kinship nur sehr wenig Platz eingeräumt und weder die Auswahl noch die Vorgehensweise im Text begründet wurden. Vor allem aufgrund eines Exkurses zur zeitgenössischen Serie Modern Family in Kapitel 2 "Krisennarrative transnationaler Adoption" stellt sich mir als Leserin auch die Frage, warum in Kapitel 1 Klassekonflikte vor allem anhand von Stella Dallas aus den 1920ern bzw. 1930ern ausgeführt und kaum auf zeitgenössische Produktionen eingegangen wurde – auch in Bezug auf den Hinweis, dass Stella Dallas bereits eine breite feministische filmtheoretische Rezeption erfahren hat.

Autor/innen-Biografie

Melanie Konrad

Studium der Politikwissenschaft an der Uni Wien. Forschungsinteressen sind Themen aus der Politischen Theorie, der Politischen Ökologie und dem New Materialism sowie Konzeptionen des Spannungsverhältnisses von Natur und Kultur und Post Conflict Societies. Darüber hinaus Auseinandersetzungen mit Demokratietheorie, feministischer Theorie, Queer Theory und Medientheorie, als auch mit politischer darstellender Kunst, Musik, Fotografie und Performance. Radiomacherin für Radio Stimme auf Orange 94.0. Seit Oktober 2017 Universitätsassistentin in Ausbildung (Prae Doc) am tfm Wien. 

Publikationen:

„Kinofizierungs- und Mediatisierungsverfahren. Zur Produktion von Gefühlen und Geschichtlichkeit in Alexander Kluges Nachrichten aus der ideologischen Antike“, in: Vincent Pauval/Herbert Holl/Clemens Pornschlegel (Hg.), Sinn(e) und Gefühle, Alexander Kluge-Jahrbuch Bd. 5, Göttingen: V&R unipress 2019, 273–288.

Rezension zu Mona Singer (2015): „Technik & Politik. Technikphilosophie von Benjamin und Deleuze bis Latour und Haraway, Wien: Löcker“, in: politix. Politische Ökologie 40/2016, 76–80.

„mo.ë bleibt“, Interview mit Alisa Beck, Réka Kutas, Mimie Maggale und Marie-Christin Rissinger, in: politix. Mobilität 39/2016, 59–66.

„Images of War“, in: Valerie Dirk, Iris Fraueneder, Ulrike Wirth (Hg.), SYN: strittig. Perspektiven des Widersetzens 08/2014, 98–103.

 

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Veröffentlicht

2018-11-15

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft