David Bordwell: Reinventing Hollywood. How 1940s Filmmakers Changed Movie Storytelling.

Chicago: University of Chicago Press 2017. ISBN: 9780226487755. 592 S., Preis: 40 USD.

Autor/innen

  • Claus Tieber

Abstract

David Bordwells Werke, insbesondere "Classical Hollywood Cinema" (mit Janet Staiger und Kristin Thompson) und "Narration in the Fiction Film" zählen den Meilensteinen der Disziplin. In diesen beiden Büchern hat Bordwell seine Sicht des klassischen Hollywoodkinos und seiner Erzählweise dargelegt. Diese geht davon aus, dass sich im klassischen Hollywood-Kino ein Gruppenstil entwickelt hat, der relativ unabhängig von den beteiligten Filmemachern durch ein System von Standardisierung und Differenzierung sowie durch formale, organisatorische und personelle Qualitätskontrolle durchgesetzt und beibehalten wurde. Schon bei Erscheinen von "Classical Hollywood Cinema" (CHC) Mitte der 1980er Jahre traf dieser Ansatz auf zum Teil heftige Kritik. Der Hauptvorwurf bemängelt die fehlende Differenzierung und das Augenmerk auf dem Allgemeinen und eben nicht dem Besonderen.

Bordwells Modell eines klassischen Hollywood-Kinos ist mit der Drehbuchliteratur, die kurz zuvor (wieder) populär wurde, kompatibel und bildet fast so etwas wie die wissenschaftliche Entsprechung hierfür. Historische Drehbuchratgeber werden sowohl in CHC als auch im aktuellen Buch als Beleg für den studiointernen Diskurs verwendet.

In der vorliegenden Monographie widmet sich Bordwell nun dem Hollywood der 1940er Jahre. Das Jahrzehnt wurde deshalb gewählt, weil es laut Bordwell eine Reihe von narrativen Innovationen aufweist, die vom Standardmodell mitunter gravierend abweichen.

Dabei geht es dem Autor um Mittel des filmischen Erzählens, die in den 1940er Jahren prominent waren bzw. wurden. Von Voice-Over, Rückblenden, anderen Formen nicht-chronologischen Erzählens zu multiple Protagonisten, Helden ohne Ziel und anderen wesentlichen Elementen der filmischen Narration reicht hier der weite Bogen, den Bordwell spannt. Er analysiert diese Punkte in einer über den Umfang von 500 Seiten etwas unübersichtlich große Anzahl von Filmen, "Klassikern" ebenso wie weniger bekannten B-Filmen.

Warum jedoch gerade in den 1940er Jahren offensichtlich Zweifel an der Repräsentationsfähigkeit zielgerichteter, kongruenter Protagonisten und am chronologischen Erzählen aufkamen, interessiert Bordwell anscheinend nicht, weil er sich zur Beantwortung dieser Frage auch allgemein historischen, politischen, sozialen und psychologischen Kontexten widmen müsste.

Bei kaum einem anderen Zeitraum des 20. Jahrhunderts macht das Hilfsmittel der Darstellung nach Jahrzehnten so wenig Sinn wie für die 1940er Jahre. Dass in Bordwells Buch der Zweite Weltkrieg, die Shoah, das Ende des Studiosystems, das Populär-Werden der Psychoanalyse, die HUAC-Verhöre und die daraus resultierende Schwarze Liste so gut wie gar nicht vorkommen, verwundert dann doch, schließlich stehen die behandelten Erzählweisen damit in einem schwer zu bestreitenden Zusammenhang. Dieser wird, dort wo er aufgenommen wird, wie im Falle der Welle von "psychiatricals" (S. 315) allzu direkt auf die Repräsentation bestimmter Themen bzw. die damit verbundenen Stilmittel und Erzählweisen wie etwa Traumsequenzen reduziert. Eine allgemeine, theoretische Kontextualisierung erzählerischer Mittel in den genannten Kontexten vermisst man jedoch über 500 Seiten schmerzlich. So wird zwar erwähnt, das amerikanische Soldaten mitunter traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkamen, dies führt jedoch sofort zur expliziten Darstellung im Film und nicht zur Infragestellung von Sichtweisen auf das menschliche Subjekt und deren Auswirkungen auf die Eigenschaften und Merkmale des Protagonisten im klassischen Hollywood-Film.

Relativ eindimensionale, zielgerichtete, aktive Protagonisten wurden durch die Erfahrungen und Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Shoa unglaubwürdig und brüchig. Aus dieser neuen Sicht auf die menschliche Natur entstanden komplexere Protagonisten, multiple bzw. wechselnde Helden, dargestellt mit all den von Bordwell im Detail analysierten erzählerischen Mitteln. Diese sind aber eben nicht, wie Bordwell impliziert "neutral", zur Darstellung unterschiedlicher Sichtweisen auf die conditio humana und unterschiedlicher Wertesysteme und Ideologien verwendbar, vielmehr sind den Erzählweisen selbst eben diese Positionen eingeschrieben. Es ist daher kein Zufall, wenn bestimmte narrative Mittel zu konkreten Zeiten in bestimmten Gesellschaften populär werden und in anderen nicht. Die Veränderungen der Gesellschaft schlagen sich in den Veränderungen der Erzählweisen nieder. Weshalb diese im historischen und kulturellen Kontext auch nicht vollständig erklär- und verstehbar sind, wenn man diesen Aspekt ausblendet und die Entwicklung der Erzählweise von Hollywoodfilmen als quasi natürliche, teleologische Weiterentwicklung sieht, die dann auch auf andere Kinokulturen Auswirkungen und Einflüsse hat. Dieses nahezu vollständige Ausblenden des sozialen bzw. philosophischen Aspekts von Erzählweisen stellt denn auch die zentrale Schwäche des Buches dar. Ohne theoretischen, gesellschaftspolitischen und ideologischen Kontext bleibt die Analyse der Erzählweisen des Hollywoodkinos der 1940er Jahre in einer zwar detail- und kenntnisreichen, aber letztlich doch oberflächlichen Ansammlung erzählerischer Mittel samt ausführlicher Inhaltsangaben unzähliger Filme verhaftet.

Bordwell als jemand, der mit CHC eines der wichtigsten Modelle zum Verständnis populären Kinos vorgelegt hat und dieses in ökonomischen, organisatorischen, historischen, technologischen, stilistischen und narrativen Kontexten analysierte und interpretierte, enttäuscht mit dem vorliegenden Buch die Erwartungen.

Im Kontext von Bordwells früheren Arbeiten zum klassischen Hollywood-Kino kann "Reinventing Hollywood" allerdings auch als vorsichtige Revision der ursprünglichen Sicht gelesen werden. In einigen Beispielen finden sich hier Sätze, welche Aussagen in CHC direkt widersprechen. So heißt es in CHC noch: "In the classical Hollywood cinema parallel editing is a distinctly unlikely alternative, since its emphasizes logical relations rather than causality and chronology." (S. 48) Nun, in "Reinventing Hollywood" kommt "parallelism" relativ oft vor und wird als innovatives Stilmittel der 1940er Jahre präsentiert, noch dazu im Zusammenhang mit Flashbacks, also mit nicht-chronologischen Erzählen. (siehe z.B. S. 85)

In so gut wie allen zentralen Punkten sind in den 1940er Jahren Abweichungen vom Standardmodell zu finden, und Bordwell beschreibt dies auch ausführlich an Hand seines umfangreichen Samples an bekannten und vergessenen Filmen. All diese Devianzen werden am Ende aber wieder unter dem Dach des CHC versammelt und eingefangen:

"Forties filmmakers mostly adhered to the broad basic norms laid down by their predecessors: goal-oriented protagonists, four-part structure, double plotlines, scenic continuity and cohesion, hooks, interwoven motifs, the pressure of appointment and deadlines. At the same time, though, in an outpouring of creative energy, filmmakers gave themselves over to new narrative methods." (S. 478f)

Dass diese "new narrative methods" fast allen genannten Normen verletzen, wird nicht weiter thematisiert. Wie man auf fast 500 Seiten unzählige Beispiele für filmische Erzählweisen anführt, die jedem einzelnen der hier angeführten Punkte widersprechen, nur um diese Abweichungen und Devianzen letztlich zu Variationen zu reduzieren, die das erzählerische Arsenal zwar erweitern, aber eben nicht verändern, ist nicht ganz nachvollziehbar und reduziert die Bedeutung des Vorangegangenen.

Natürlich ist Hollywood ein flexibles System in Sachen Stil und Erzählweise, dennoch springt Quantität irgendwann in Qualität um. Soll heißen: ein System das sich ständig ändert, bleibt am Ende eben nicht dasselbe. Wenn so gut wie alle Charakteristika des CHC in den 1940er Jahren nicht nur variiert, sondern verändert werden, wenn Normen eben nicht mehr eingehalten werden und hinter all diesen Änderungen eine geänderte Weltsicht steht, dann wird das Bild vom klassischen Hollywoodkino doch brüchiger als Bordwell es wahrhaben will. Hollywood ist eben nicht bloß ein flexibles System, das seine Normen anpasst, sondern eines das aus viel offeneren, variablen Paradigmen besteht, die in einer konkreten historischen Gesellschaft verankert sind, die sich in ständigem Wandel befindet bzw. stets dem Wechselspiel von Wiederholung und Abweichung (Differenz) ausgesetzt ist. Ob einem als Filmwissenschaftler nun die Wiederholung, die Differenz oder das Wechselspiel selbst am wichtigsten erscheint, spielt solange keine Rolle, als aus den Paradigmen kein unumstößliches Dogma wird, das neue Einsichten verhindert.

"Reinventing Hollywood" bietet unzähliges Material um eine differenziertere Sichtweise zu begründen und das Modell des CHC in Richtung einer weniger textzentrierten und prozesshafteren Sichtweise weiterzuentwickeln, in dem Produktion und Rezeption ebenso wichtig sind, wie die filmischen Texte selbst. (Das vorliegende Buch ist denn auch genau dort am eindrucksvollsten, wo es Entwicklung und Anpassung neuer erzählerischer Stilmittel anhand von Produktionsgeschichten deutlich macht.)

Diesen Faden aufzunehmen und ihn weiter zu entwickeln ist eine Aufgabe, derer sich wohl andere FilmwissenschaftlerInnen als die Begründer des Neoformalismus annehmen werden.

Literatur

Rick Altman: Griffith, Dickens and Film Theory Today, in: South Atlantic Quarterly 88.2 (Spring 1989), S. 321-59, etliche Nachdrucke in Sammelbänden.

David Bordwell: Narration in the Fiction Film. Madison: University of Wisconsin Press 1985.

David Bordwell, Janet Staiger und Kristin Thompson: Classical Hollywood Cinema. Film Style on Mode of Production until 1960. London, New York: Routledge 1985.

Britta Hartmann, Hans J. Wulff: Das Wisconsin Projekt: Zwischen Neoformalismus, Kognitivismus und historischer Poetik. Eine Bibliographie, in: Medienwissenschaft / Hamburg: Berichte und Papiere 28, 2003: Neoformalistische Filmanalyse und –theorie. Online: http://berichte.derwulff.de/0028_03.pdf (11.9.2018).

Autor/innen-Biografie

Claus Tieber

geboren 1966, derzeit Dozent am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, Projektleiter des FWF-Projektes "Österreichischer Musikfilm 1912-1933" am Fachbereich Musikwissenschaft der Universität Salzburg. Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien. 2008 Habilitation (Venia docendi für Filmwissenschaft). Forschungsaufenthalte in New York, Los Angeles, Austin/Texas und London. Lehraufträge an den Universitäten Wien, Brno, Kiel und Salamanca.

Website:

http://tieber.wordpress.com

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Veröffentlicht

2018-11-15

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Rubrik

Film