Phil Powrie: Music in Contemporary French Cinema. The Crystal-Song.

Bristol: Palgrave Macmillian 2017. ISBN 978-3-319-52361-3. 273 S. Preis: € 98,99.

Autor/innen

  • Claus Tieber

Abstract

Phil Powrie gilt als Experte für den französischen Film und war langjähriger Vorsitzender der British Associaton of Film, Television and Screen Studies (BAFTSS). Als Filmmusikforscher ist er bislang trotz einiger Artikel zum französischen Musical kaum aufgefallen. Das dürfte sich mit der vorliegenden Veröffentlichung grundlegend ändern. Powrie behandelt in Music in Contemporary French Cinema. The Crystal Song eine bestimmte Form des Lieds im Film, welche er in Anlehnung an Gilles Deleuzes Kristall-Bild 'crystal song' nennt. Im Zuge der Bestimmung und filmhistorischen Verortung dieses 'crystal songs' liefert Powrie eine Übersicht über die Spezifika französischer Filmmusik bzw. des Einsatzes von Musik im zeitgenössischen französischen Film, wobei es ihm in erster Linie um den Einsatz prä-existenter Musik geht und weniger um für den Film komponierte Scores.

Am Beispiel des französischen Heritage Film analysiert Powrie zunächst genau jene orchestrale Filmmusik, die er im Rest des Buches außen vor lässt. Dabei stellt er insbesondere im Kapital zum Thema Gender fest, dass die klischeebehafteten 'großen Gefühle' den Männern vorbehalten bleiben und dabei visuell in breiten Landschaftsaufnahmen und musikalisch durch ebenso breite Orchesterklänge repräsentiert werden. Die Gefühle von Frauen hingegen werden eher in geschlossenen Räumen und mittels Kammermusik in Szene gesetzt, was Powrie am deutlichsten am Beispiel von Le Hussard sur le toit (1995) veranschaulicht.

So sehr dieses Kapitel auch Augen und Ohren für die akustischen und visuellen Stereotypen von Gender-Rollen öffnet, so sehr hätte man sich sowohl in diesem Kapitel, wie auch zum Thema Performance durchaus etwas mehr diesbezügliche Theorie gewünscht, an der es dem Buch ansonsten nicht mangelt. So muss man sich hier mitunter mit spannenden Sätzen zur Einbettung von Song-Performances in Körpern sowie zur Möglichkeit der Veränderung und Entwicklung der Figuren durch Songs zufrieden geben, ohne dass die angeführten Themen mit entsprechender Theorie unterfüttert und weiter ausgearbeitet würden. Diese Auslassungen sind auf Powries Fokussierung auf den 'crystal song' zurückzuführen, ein Begriff, der zunächst mal definiert und präzisiert werden muss, was Powrie in den folgenden Kapiteln durch die systematische Analyse unterschiedlicher Varianten von Songs im Film unternimmt.

Für ein Buch, das einen theoretischen Begriff in sein Zentrum stellt, ist Powries Arbeit methodisch erstaunlich pragmatisch. Wer hier ausführliche theoretische Abhandlungen über die philosophisch-ästhetischen Grundlagen des Begriffs sucht, wird nicht fündig werden. Powrie versucht vielmehr den weitgehend abstrakten Begriff mit analytischen und quantitativen Methoden möglichst greifbar zu machen und zu präzisieren. Er stützt seine Analysen auf die Untersuchung eines Samples von 300 französischen Filmen aus den Jahren 2010-15 und liefert somit reichlich statistisches Material in Form zahlreicher Tabellen.

Powrie löst im vorliegenden Band die schwierige Aufgabe, theoretische Ansätze mit den präzisen Werkzeugen der Film- und Musikanalyse in Einklang zu bringen. Ein Unterfangen, das bereits die von Powrie in der Einleitung diskutierte Amy Herzog[1] zu meistern wusste, die 'musical moments' im Film ebenfalls mit Deleuzscher Theorie interpretiert.

Powrie jedoch setzt den 'crystal song' bewusst von Herzogs 'musical moments' ab.  Während in Herzogs Definition musikalischer Momente jene Szenen und Sequenzen gemeint sind, welche die klassische Hierarchie von Bild und Ton zugunsten der Musik auf den Kopf stellen und somit das Bild von der Musik determiniert wird, zielt Powries Begriff des 'crystal songs' auf etwas anderes. Weder die klassische Musiknummer, etwa in einem Musical, noch der musikalische Moment, der die Musik in den Vordergrund stellt, reichen aus, um von einem 'crystal song' zu sprechen: Laut Powrie kristallisiert sich gleichsam der ganze Film in einem solchen. Der 'crystal song' fällt heraus aus der Einheitlichkeit der Filmmusik, sei es durch Sprache (z.B. englische Songs in französischen Filmen), durch die mitunter amateurhafte Performance seiner Charaktere (z.B. Karaoke), vor allem aber durch den Affekt, den er auf das Publikum ausübt und der sich laut Powrie im Wesentlichen aus dem Durchbrechen von Erwartungshaltungen ergibt. (Darum finden sich unter den Filmbeispielen auch keine Musicals, da hier die Songs zu fixen und zu erwartenden Bestandteilen des Genres gehören.)

'Crystal songs' durchbrechen die Temporalität des Films und bringen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Verschmelzen. In einem 'crystal song' werden alle drei Zeitebenen präsent. Ein 'crystal song' ist deshalb auch nicht einfach eine Unterbrechung der Narration, eine Pause im Film, wie in Hinsicht auf musikalische Nummern immer wieder in der Literatur zum Filmmusical festgestellt, sondern eine Intervention:

"… [crystal songs] intervene in the narrative to convey change, and in that conveying they also, figuratively, transport us from the artifice of a film to a utopian space beyond artifice, where what we see is what we hear, and conversely, what we hear is what we see." (S. 223)

So schafft es Powrie letztlich aus dem doch ziemlich esoterischen Begriff des 'crystal song' einen relativ präzisen Terminus zu konstruieren, der nicht nur für die weitere Forschung in diesem Bereich von Bedeutung sein dürfte, sondern das Bewusstsein für die Möglichkeiten und Besonderheiten von Songs im Film schärft und damit den bestehenden Diskurs erweitert.

Der Begriff des 'crystal songs' kann weit über den zeitgenössischen französischen Film hinaus für den Diskurs über die Möglichkeiten von Musik im Film und deren Analyse und Interpretation hilfreich sein. Powrie hat hier nicht nur einen neuen Begriff definiert, sondern Saiten zum Schwingen gebracht, deren Klang man nachgehen sollte.

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[1] Herzog: Dreams of Difference, Songs of the Same. The Musical Moment in Film. Minneapolis: University of Minnesota Press 2010.

Autor/innen-Biografie

Claus Tieber

geboren 1966, derzeit Dozent am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, Projektleiter des FWF-Projektes "Österreichischer Musikfilm 1912-1933" am Fachbereich Musikwissenschaft der Universität Salzburg. Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien. 2008 Habilitation (Venia docendi für Filmwissenschaft). Forschungsaufenthalte in New York, Los Angeles, Austin/Texas und London. Lehraufträge an den Universitäten Wien, Brno, Kiel und Salamanca.

Veröffentlicht

2017-11-15

Ausgabe

Rubrik

Film