Michael Hanke: Kommunikation – Medien – Kultur. Vilém Flusser und die Signatur der telematischen Gesellschaft.

Berlin: Kadmos 2017. ISBN 978-3-86599-314-4. 280 S., Preis: € 24,80.

Autor/innen

  • David Krems

Abstract

Mit drei Begriffen durch die Menschheitsgeschichte: Michael Hanke analysiert die Bauart des Flusserschen Universums und hilft dabei, zu begreifen, wie der Pionier der Medienwissenschaft zu seiner charakteristischen Form des Denkens fand.

Die Texte des Medientheoretikers Vilém Flusser sind von ganz spezieller Art. Sie sind vielschichtig, kombinieren unterschiedliche theoretische Ansätze, folgen nicht immer klar erkennbaren Methoden, entwickeln ungewöhnliche Begrifflichkeiten und lieben große historische Bögen. Dabei wirken sie oft bruchstückartig, neigen zur Redundanz und sind nicht selten das, was man hierzulande gerne "obergscheit" nennt. Kurz: Sich das Flussersche Universum (und dieser Begriff ist angesichts einer unüberschaubaren Anzahl an Veröffentlichungen und einer in die mehrere Tausende reichenden Zahl an Manuskripten keineswegs übertrieben) zu erlesen, ist ein großes und lohnendes Vergnügen.

Zahlreiche von Flussers Texten gehören denn auch zum Standardrepertoire der Medienwissenschaft und fehlen auf keiner der einschlägigen Literaturlisten. Manche haben es gar bis in die erste Liga der Fachliteratur geschafft. So wird etwa Für eine Philosophie der Fotografie regelmäßig gemeinsam mit Walter Benjamins Kleiner Geschichte der Photographie und Roland Barthes Heller Kammer genannt, der Sammelband Medienkultur – der gleich mehrere von Flussers bedeutendsten Texten versammelt – ist ein wissenschaftlicher Bestseller, der von ihm eingeführte Begriff der Kommunikologie ist in jedem Fachlexikon nachzuschlagen. Wenn Vilém Flusser damit auch grundsätzlich zu jenen Denkern gehört, auf die man sich gut einigen kann, ist er dennoch jemand, der auch polarisiert und auf mitunter heftige Weise kritisiert wird. Über seine Philosophie der Fotografie merkte etwa Bernd Stiegler an, dass er, Flusser, "mehrere Jahrtausende Menschheitsgeschichte auf drei Begriffe" reduziere und eine "apokalyptische Deutung" vornehme, "die komplexe Phänomene auf simple begriffliche Raster reduziert und beliebig mit mythisch-magisch-computierend-kalkulierenden Schemata operiert".[1]

Was sich aus derartigen Frontalangriffen mitnehmen lässt, ist, dass man, wenn man große historische Bögen nicht schätzt und ein sich mitunter tatsächlich etwas mythisch gebärdendes Vokabular ablehnt, seine Finger ganz einfach besser von Flussers Texten lässt. Gleichzeitig verweist das kritische Zitat ziemlich genau auf all das, was Flusser-Anhängern so bedeutsam erscheint: eine persönlich gefärbte, unkonventionelle Art des Denkens, die den neuen, von technischen Entwicklungen aufgeworfenen Fragestellungen einer Medienwissenschaft mit bewährtem philosophischen Instrumentarium begegnet. Geschehen ist das zu einer Zeit, zu der diese Medienwissenschaft als eigene Disziplin noch keineswegs etabliert war. Es ist also hervorzuheben, was Michael Hanke einleitend feststellt: "Zwar wird ihm gerne der Gestus des Innovativen und Unkonventionellen zugeschrieben, aber Flusser ist eher ein traditioneller Denker, der bewährte Konzepte an neue Gegenstände heranträgt" (S. 11). 

Es ist somit nicht nur die Art des Denkens, sondern auch die Zeit, in der es geschieht, die Flusser so bemerkenswert macht. Als eine Entschlüsselung dieser Verschränkung lässt sich dann vielleicht auch das vorliegende Buch am besten begreifen: Michael Hanke geht es nicht nur darum, zu erklären, was Vilém Flusser dachte, sondern immer auch darum, zu erörtern, weshalb er es tat – und weshalb er es auf diese Weise tat. Dafür hat der Autor mehrere bis 2006 zurückreichende Arbeiten zu einer eigenständigen Monographie zusammengetragen, die mit einem Kapitel über die bemerkenswerte Biografie Flussers beginnt und deren weitere Teile mit den wesentlichsten Eckpunkten des Flusserschen Œuvre überschrieben sind: Kommunikologie – Technobilder – Telematische Gesellschaft. 

Wie komplex man sich Flussers kulturellen Hintergrund und seine sozialen Ver- und Entwurzelungen vorstellen muss, lässt sich bereits erahnen, wenn man sich die wesentlichen Stationen seines Lebens vor Augen führt: 1920 in Prag in ein intellektuelles, deutsch-jüdisches Milieu geboren, 1939 Exil in London, 1940 weitere Flucht nach Brasilien, 1972 schließlich Rückkehr nach Deutschland bzw. Europa.

Diesen Weg mitsamt seinen schwierigen beruflichen und sozialen Implikationen zeichnet Michael Hanke im ersten Teil seines Buches detailliert und aufschlussreich nach. Man erfährt etwas über Flussers Mehrsprachigkeit, die relevante Auswirkungen auf sein Denken und Arbeiten hatte, und erahnt etwas von den bürokratischen Hürden, die eine Flucht – die selbstverständlich ohne akademische Abschlusszeugnisse oder sonstige Referenzen erfolgt – aufwirft. Gleichzeitig wird klar, wie Flusser als Konsequenz widriger Umstände auch in seiner intellektuellen Arbeit immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wurde und in Brasilien zu Beginn ein Leben führen musste, das, wie er es selbst ausdrückte, darin bestand, dass er "am Tag Geschäfte trieb und in der Nacht philosophierte". Michael Hanke hält fest, dass "der spezifische Charakter seines unorthodoxen autodidaktischen Denkens" wohl vor allem in dieser Zeit seine Prägung erfuhr (S. 19).

Auch Flussers fast schon von Besessenheit zeugende Schreibwut, die ein Konvolut von rund 2.500 Manuskripten hervorgebracht hat, lässt sich biografisch erklären. Demnach ließe sich diese existenzielle Einstellung zum Schreiben als Reaktion auf die Vernichtung seiner Familie in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald deuten. Daneben liefert der Autor aber noch einen weit banaleren, dabei aber nicht weniger einleuchtenden Grund: Flusser musste auch deshalb so viel schreiben, weil er auf die dadurch erzielten Einkünfte ganz einfach angewiesen war. 

Die Erfahrungen im Brasilien der 50er- und 60er-Jahre waren für Flussers Theoriebildung auch deshalb relevant, da er es dort mit einer Gesellschaft zu tun hatte, die den Prozess der umfassenden Alphabetisierung noch nicht abgeschlossen hatte, als bereits die neue Technologie des Fernsehens auftrat, die – etwa in Form der lateinamerikanischen Telenovelas – rasch eine ungeheure Dynamik entwickelte. Ein Umstand, den Flusser kritisch beobachtet hat und der in Form des bedeutenden Wendepunktes von einer Kultur der Schrift zu einer Kultur des Technobildes – begleitet von leidenschaftlichen Seitenhieben auf das Fernsehen – zu einem seiner zentralen theoretischen Motive wurde. 

Es sind derartige Hintergrundinformationen, die den ersten Teil des Buches ausmachen, der mit dem Titel "Leben und Werk" überschrieben ist. Darauf folgt eine intensive Auseinandersetzung mit Flussers Theorie der Kommunikation. Jenes mit dem Begriff der Kommunikologie (analog zu Soziologie oder Technologie) überschriebene Buch also, das gemeinhin als das Herzstück des Flusserschen Œuvres gilt. Hanke erläutert den Entstehungsprozess dieser Theorie der menschlichen Kommunikation, die Flusser bereits 1973/74 in Sao Paulo als Inhaber eines Lehrstuhls für Kommunikationstheorie ausgearbeitet hatte. Eine Analyse der von Flusser verwendeten Begrifflichkeiten und deren Herleitung erlaubt Einblick in die Bauart dieses zentralen Werks, das hier ausgehend von sprachphilosophischen Fragestellungen (wie sie auch für die frühen Werke Sprache und Wirklichkeit sowie Philosophie der Sprache bestimmend waren) rasch zur Kommunikation gelangt, die Flusser in Form der Weitergabe von Informationen als das herausragende Merkmal einer Gesellschaft erkennt. Wie dieser Kommunikationsprozess, den Flusser in seinem Kern als Erzeugen, Übertragen, Prozessieren und Speichern von Informationen definiert, in Abhängigkeit der verwendeten Mittel (die man Medien nennen könnte, die bei Flusser aber gerne auch ganz einfach Werkzeuge heißen) und deren Codes geschieht, ist der Inhalt der Kommunikologie. Schlagend wird dabei immer wieder jene zentrale Beobachtung, die den Übergang von einer durch Texte geprägten Phase (vielleicht sogar Welt) zu einer der Bilder beschreibt. Hanke: "Mit dem Begriffspaar Bild –Text beschreibt Flusser die Kulturgeschichte der Menschheit als Entwicklungsgeschichte ihrer Medien" (S. 82). Es ließe sich ergänzen, dass eine griffige Version dieser ganz zentralen (und oft wiederkehrenden) These bereits in dem Text "Die kodifizierte Welt" von 1976 nachzulesen ist. Damit lässt sich dann auch eine Brücke zum nächsten Kapitel schlagen, das die Entwicklungen der Menschwerdung skizziert – von den ersten Höhlenmalereien über die Entwicklung der Schrift und des Buchdrucks bis hin zu den Technobildern – und vor diesem Hintergrund Flussers Kulturtheorie verortet. Hier findet sich dann auch eine mögliche Erklärung für jene "Verkürzung mehrere Jahrtausende Menschheitsgeschichte auf drei Begriffe", die Flusser von der eingangs zitierten Kritik vorgeworfen wird.

Es sind präzise recherchierte und detailliert ausgeführte Erörterungen, die Michael Hanke auffährt, um die Theoriebildung Flussers begreiflich zu machen. Manchmal wird das alles sehr viel. Auch deshalb, weil Flussers Werk eben stark von Wiederholungen und Varianten gekennzeichnet ist. Wer dies entschlüsseln und ordnen will, hat zweifelsfrei einiges zu tun. Der Autor stellt sich dieser Aufgabe mit fast schon detektivischer Akribie, deren Anstrengung mitunter bis auf den Leser durchschlägt. Dennoch sollte das niemanden davon abhalten, sich auf diese Spurensuche einzulassen, denn belohnt wird man allemal. Zum Beispiel mit jenem Teil, der sich den Technobildern, also all jenen durch Apparate hergestellten Bildern widmet, an deren Ausgangspunkt die Fotografie steht. Von der Begriffsfindung über die spezielle Semiotik bis hin zur Ausformulierung der kompletten Theorie wird hier fassbar, weshalb dieser Bildtyp für das Flussersche Denken so elementar ist. 

Gleich auf doppelte Weise schlüssig ist es, dass das letzte Kapitel des Buches der Telematischen Gesellschaft gewidmet ist. Einerseits ist dies natürlich einer Chronologie des Gesamtwerks geschuldet, andererseits bewegt sich der Leser so wieder zurück auf die Spuren jener Städte, die Flussers Biografie bestimmt haben, wobei es vor allem die am Reißbrett geplante Stadt Brasília ist, die Flusser mehrfach untersucht hat und dabei zu widersprüchlichen Einschätzungen gelangt ist. Während er diese "kolossale Herrlichkeit" zu Beginn noch wohlwollend als das vielleicht größtes Kunstwerk der letzten Jahrzehnte beschrieben hat, gelangte er schon wenig später zu einem weit pessimistischeren Urteil: Der neue Mensch, in dessen Entstehung Flusser nach seiner Ankunft in Brasilien – gleichsam nach der europäischen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs – große Hoffnungen gesetzt hatte, würde auch in dieser Stadt nicht entstehen. Derartige Enttäuschungen waren es dann wohl auch, die Flussers Rückkehr nach Europa beschleunigt haben.

Die Stärke von Büchern wie dem vorliegenden ist es, dass sie Zusammenhänge aufzeigen, die allein vermittels der Originaltexte kaum zu erkennen sind. Anders ausgedrückt: Wer etwas darüber erfahren will, was Vilém Flusser über Kommunikation, Medien oder Kultur dachte, liest am besten Vilém Flusser. Wer darüber hinaus aber verstehen will, warum Flusser dachte, wie er dachte, findet in Michael Hankes Buch eine wertvolle Hilfestellung. Die brennendste aller Fragen aber, nämlich die, was Flusser über unsere gegenwärtige Medienkultur zu sagen hätte, muss freilich auch weiterhin unbeantwortet bleiben.

 

[1] Quellen: Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Fotografie, München: Fink 2006, S. 258.

Autor/innen-Biografie

David Krems

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Promotion über Fototheorie. Arbeiten in verschiedenen Bereichen der Fotografie und des Films. Seit 2009 Medienarchivar und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Experimentalfilmemacher und Autor.

https://homepage.univie.ac.at/david.krems/

Publikationen:

- David Krems: Inszenierungen des Fotografischen: Technik und Ästhetik im medialen Wechsel. Wien 2017 (Dissertation).

- David Krems: Falsches Licht. Wien: Picus 2017 (Roman).

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Veröffentlicht

2018-11-15

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Rubrik

Medien