Burcu Dogramaci: Exil London. Metropole, Moderne und künstlerische Emigration.

Göttingen: Wallstein 2024. ISBN: 978-3-8353-5656-6. 600 Seiten, 49,40 €.

Autor/innen

  • David Krems

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2025-2-05

Abstract

Was macht eine Stadt mit zugewanderten Personen - und was machen diese Personen -   allesamt Künstler:innen bzw. Personen aus mit Kunst assoziierten Berufen - mit der Stadt? So etwa ließe sich in aller Kürze die übergeordnete Fragestellung des vorlegenden Buches zusammenfassen. Autorin ist die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci (Ludwig Maximilians Universität München), die in diesem höchst umfangreichen Werk 19 Kapitel vereint, die allesamt um die Themen Exilgeschichte, Stadtgeschichte, Künstler:innen Biografien kreisen. Solcherart soll das London der 1930er Jahre „als Umraum, als Exil und Identifikationsort, als Matrix des Lebens und Arbeitens umfassend im Blick stehen und damit ein wesentlicher Beitrag zu einer urbanen Exilforschung und einer exilisch ausgerichteten Kunstgeschichte geleistet werden“ (S. 11). Ein derartig umfangreiches Werk (600 Seiten) entsteht natürlich nicht in einem Wurf. Einige der Kapitel sind bereits zuvor publiziert worden und liegen nun in Überarbeitung akkumulativ vor.

Im Mittelpunkt des in der Reihe Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte erschienen Bandes stehen deutschsprachige Künstler:innen, die – meist auf der Flucht vor dem erstarkenden Faschismus – nach London kamen und hier sowohl für die eigene Biografie als auch für die Geschichte der Stadt eine bereichernde Station einlegten. Zur Einordnung: Rund 150.000 Menschen trieb es in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts nach Großbritannien. Viele von ihnen suchten Unterkunft und Broterwerb in der Hauptstadt. Die Autorin positioniert ihr Buch zwischen den Bereichen Exil- und (Post-)Migrationsforschung, Moderne- und Stadtforschung und rückt die Metropole London, die in der Forschung zur Migration von Künstler:innen bislang unterrepräsentiert war, erstmals ins Zentrum.
Dies geschieht etwa am Beispiel des Künstler:innenviertels Hampstead, das zahlreiche Exilant:innen anzog und an dem die Autorin nachzeichnet, in welcher Verbindung ein Wohnort zu beruflichen und künstlerischen Netzwerken stehen kann. Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte Isokon Building. Ein Apartmenthaus in der Lawn Road 3, an dem sich exemplarisch darstellen lässt, wie man sich die Dynamik der Begegnungsräume und Netzwerke, derer sich die Exilant:innen bedienten, vorstellen darf. Das Gebäude im Bauhaus-Stil wurde Ankunftsort, Kontaktzone und Kreativquartier. Bauherr war Jack Pritchard, eine wichtige Mittlerfigur für Emigrant:innen aus den Bereichen Design, Architektur und Fotografie. Im Isokon Building waren folglich Walter und Ise Gropius, Marcel Breuer und Naum Gabo zu gegen. Der Bauprozess wurde von der Wienerin Edith Tudor-Hart dokumentiert. Geflüchteten Personen wurden Wohnungen vermittelt, die sie bis zu drei Wochen bewohnen durften. Für die Broschüren der Möbelfirma Isokon war László Moholy-Nagy verantwortlich. Der Aufenthalt des aus Ungarn stammenden Bauhaus-Meisters, der sich ab 1935 für zwei Jahre in London befand, wird an gleich mehreren Stellen des Buches thematisiert.

Dogramaci versteht es, Biografien und Werke der behandelten Personen an die Metropole rückzubinden. Ein Kapitel über den Fotografen und Fotohistoriker Helmut Gernsheim kann dafür exemplarisch stehen. Betrachtungen der Arbeiten, die Gernsheim im Auftrag des National Builiding Records von durch Zerstörung bedrohten Gebäuden (darunter Westminster Abbey und St. Pauls' Cathedral) angefertigt hat, berichten von dessen Biografie und Arbeitsmethode. Man erhält eine Vorstellung davon, wie so ein Leben im Exil – im Idealfall – ausgesehen haben kann. Dass es oft auch ganz anders aussah, beweisen Fotos von Edith Tudor-Harth, die in verschiedenen sozialdokumentarischen Kontexten tätig war und deren Arbeit sich die Autorin in einem mit „Gendered London“ überschriebenen Kapitel widmet. Auch die Familie Freud findet immer wieder Erwähnung. Hier etwa Anna Freud, die durch ihr Zusammenarbeiten und -leben mit der US-Amerikanerin Dorothy Burlingham in diesem Kapitel Eingang gefunden hat, aber auch die Schritte Sigmund Freuds, der erst im hohen Alter nach London emigrierte, und die seines Sohnes, dem Architekten Ernst Ludwig Freud, werden an unterschiedlichen Stellen des Buches beleuchtet.
„Verpflanzte Objekte“ heißt etwa ein Kapitel, das Sigmund Freuds Emigration behandelt, in dem vor allem die ab Juni 1938 übersiedelten Objekte und die Rekonstruktion des Interieurs am neuen Wohnort der Freuds in Maresfield Gardens (Hampstead) beschrieben wird. Die Betrachtung umfasst auch eine kritische Auseinandersetzung mit den beiden Freud Museen in London bzw. Wien und der Rolle, die die Fotografien Edmund Engelmans dabei spielten. Der Wiener Fotograf Engelman hatte die Wohnung in der Berggasse 19 vor der Emigration Freuds auf dessen Auftrag hin ausführlich dokumentiert, wodurch wertvolle Einsichten in die damalige intellektuelle bürgerliche Wohnkultur bewahrt werden konnten. Die Autorin schlägt die Brücke zu zeitgenössischen Arbeiten Robert Longos und Ania Soliman, die visuell an Engelmans Fotografien anschließen, in ihrer künstlerischen Beschäftigung mit dem Freudschen Universum aber weit über reine Erinnerungsbilder hinausgehen.

Dogramaci behandelt für ihre Analysen unterschiedliche Quellen höchst privater, wie öffentlicher Art: angefangen von Tagebuchaufzeichnungen, Adressbüchern und Gästebucheintragungen über Publikationen, Werbegrafiken, Fotografien, Möbel und Gebrauchskunst bis hin zu Architektur reichen die Beispiele, die den Text lebhaft halten und viel zum besseren Verständnis beitragen. Diese Methode verdankt sich nicht zuletzt den großzügigen und gut aufbereiteten Abbildungen, die nicht bloß Beiwerk und Illustration sind, sondern die Argumentation stützen und bereichern. Vom oft beklagenswerten Missverhältnis von Text und Abbildung – zumal in Werken, die sich mit visuellen Medien beschäftigen – hebt sich das Buch damit auf erfreuliche Weise ab. Insgesamt soll die sorgsame Gestaltung erwähnt sein. Die durch Stadtpläne voneinander getrennten Kapitel verschaffen auch Leser:innen, die London vielleicht nicht so gut kennen wie die Autorin, einen topgraphischen Überblick. Auch trägt diese Gestaltung dazu bei, in dem für einen einzigen Band beinahe schon zu umfangreichen Werk den Überblick nicht zu verlieren. Beim Lesen fällt mitunter auf, dass sich einige der Kapitel in einem abgeschlossenen Rahmen bewegen, was damit zu tun hat, dass sie bereits zuvor als selbständige Beiträge erschienen waren. Das bringt die eine oder andere Redundanz mit sich, hat gleichzeitig aber den Vorteil, dass sich die Kapitel alle auch einzeln lesen lassen und man mit der Lektüre nicht notwendigerweise chronologisch verfahren muss.

Ein Kapitel widmet sich der herausragenden Bedeutung der Migrant:innen für die britische Fotoforschung. Unter den hier handelnden Personen finden sich auch wieder die Namen Lucia Moholy und Helmut Gernsheim, die beide nicht nur selbst fotografisch arbeiteten, sondern sich auch in unterschiedlichen Publikationen theoretisch wie historisch mit ihrem Medium auseinandersetzten. Eine umfangreiche Serie zur Geschichte der Fotografie aus betont britischer Perspektive (verbunden mit den Namen William Henry Fox Talbot, David Octavius Hill und Julian Margaret Cameron), brachte auch die Zeitschrift Picture Post, deren  Herausgeber der aus Budapest stammenden Stefan Lorant war. Dass Beiträge zur nationalen Fotogeschichte damals fast ausschließlich von Migrant:innen verfasst wurden, versteht die Autorin als Ausdruck der Loyalität gegenüber dem Gastland und betont gleichzeitig den Aspekt der Akkulturation: Die Beschäftigung mit einer Geschichte, die durch die Auseinandersetzung gleichsam zur eigenen gemacht wird.

Die Liste der in diesem Werk behandelten Persönlichkeiten liest sich wie das A und O der künstlerischen Avantgarde Europas und verdeutlicht die Dimension des kreativen und intellektuellen Exodus, den der Aufstieg der Nationalsozialisten auslöste. Gegen Ende zitiert die Autorin den Rechtsanwalt, Maler und Schriftsteller Fred Uhlman: „Es [England] schien mir ein fremderes Land als jedes andere, das ich zuvor kannte, so weit weg von Europa wie Peking [...]“ Es sind derartige Stellen, die uns daran erinnern, was eine erzwungene Migration vor knapp hundert Jahren (in einer Zeit vor der weltweiten Vernetzung, vor der europäischen Einheit und vor standardisierten Fremdsprachenkenntnissen) für die meisten Menschen bedeutet haben mag: Aufbruch ins Unbekannte. Wer ein derartiges Wagnis – aber auch die Erfolge, die es zeitigen kann – besser verstehen will, liest dieses Buch.

Autor/innen-Biografie

David Krems

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Promotion über Fototheorie. Arbeiten in verschiedenen Bereichen der Fotografie und des Films. Seit 2009 Medienarchivar und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Fotograf, Experimentalfilmemacher und Autor.

Zulestzt erschienen:

Propaganda und Erinnerung: Fotografie im Spanischen Bürgerkrieg. (= FOTOGESCHICHTE 45/176).

„familiar and strange: Ein Streulicht auf Fotografie als Medium für Unmögliches, Unheimliches und Verstörendes, in: TFMJ 2025/3-4.

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Veröffentlicht

2025-11-12

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Medien