Jojakim Cortis/Adrian Sonderegger: Double Take. Eine wahre Geschichte der Fotografie.

Zürich: Lars Müller Publishers 2018. ISBN 978-3-03778-564-5. 128 S., 87 Illustrationen, Preis: € 30,-.

Autor/innen

  • David Krems

Abstract

"Eine wahre Geschichte der Fotografie" – der Untertitel dieses Bildbandes klingt gewagt – und ist dennoch treffend. Was könnte wahrer sein, als in aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass Fotos stets gemacht sind: You don’t take a photograph, you make it!

Die ebenso gewitzten wie akribischen Nachbauten weltbekannter Aufnahmen, die das Schweizer Fotografenduo Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger im Atelier erstellt haben, erhellen den Blick auf jene Art von Fotografie, in deren Zusammenhang geradezu reflexartig vom kollektiven Gedächtnis gesprochen wird. Aufnahmen, die man schon tausende Male gesehen hat und bei denen man gar nicht mehr genau hinsieht. Aufnahmen, die eine Unzahl von Publikationen hervorgebracht haben, die auf jeweils leicht abgeänderte Weise die immer gleichen Geschichten erzählen. Geschichten, die sich gerne eines Vokabulars bedienen, das ebenso nichtssagend und abgegriffen wirkt, wie die Fotos, die es begleitet. Von historischen Momenten ist in diesen Texten gerne die Rede, von fotografischen Ikonen und immer, immer wieder vom kollektiven Gedächtnis. Wie gut tut da eine Publikation, die diesen ausgetretenen Kreislauf der Zweit- und Drittauswertung sprengt und eine lustvolle Neuinterpretation vornimmt. 

Double Take zeigt eine Auswahl berühmter Fotos (von Niépces La Cour de Domaine du Gras bis hin zu einer Aufnahme des Tsunami an der Küste des indischen Ozeans von 2004) und versieht diese mit einem schelmischen Augenzwinkern. "Schau genau! " scheinen einem die Aufnahmen zuzurufen. 

Ausgangspunkt dieser Versuchsanordnung war dabei just ein Foto, das dem Kontext entstammt, in dem die beiden Künstler mittlerweile selbst gelandet sind: Andreas Gurskys Rhein von 1999 ist keine Arbeit, die einen Moment dokumentiert (wie das bei der Mehrzahl der anderen Bilder der Fall ist) sondern ein Werk, das dem Kunstmarkt entnommen wurde. Die Stoßrichtung des Projekts war damit von Anfang an klar. Erst später haben die beiden Fotografen dann damit begonnen, auch dokumentarische Bilder nachzubauen. Wie sie dabei vorgingen und mit welchen Problemen sie es zu tun bekamen, lässt sich in einem ausführlichen Interview nachlesen.

Das Verfahren, sich fotografisch auf Fotografien zu beziehen, ist in jedem Fall so alt wie die Fotografiegeschichte selbst und spätestens seit Sherrie Levines Appropriationsaufnahmen oder Richard Princes Untitled-Serie auch im Kunstbereich bestens bekannt. Besonders nah kommen Cortis und Sonderegger mit ihrem Verfahren natürlich den Arbeiten des bildenden Künstlers Thomas Demand, der bekannte Aufnahmen als Modelle aus Papier und Karton nachbaut, abfotografiert und die Modelle anschließend wieder zerstört. Doch während Demand sich vor allem auf Bilder der Zeitgeschichte bezieht, verschieben Cortis und Sonderegger den Fokus deutlich auf die Fotografiegeschichte selbst und bringen nebenbei einen weiteren Aspekt der Selbstreferentialität ins Spiel. Auf ihren Aufnahmen sieht man stets das gesamte Setting: Schere und Klebstoff liegen noch neben den Modellen, die Leuchtmittel, Stative und Hintergründe sind klar zu erkennen. Da und dort ist ein Objekt beigegeben, das als versteckter Hinweis auf den Entstehungszusammenhang der Originalaufnahme verweist. So etwa ein Lehrbuch über Fotografiegeschichte "am Set" der Aufnahme von Niépce, die so gerne – und fälschlich – als erste Fotografie angeführt wird.

Besonderen Spaß macht es, die Nachbauten von Aufnahmen zu betrachten, deren eigene Authentizität fraglich ist. Am deutlichsten ist das wohl bei Joe Rosenthals The Raising of the Flag on Iwo Jima (1945) und Robert Capas Death of a Loyalist Militarman (1936) der Fall. Erstere Aufnahme ist die geplante und inszenierte Wiederholung eines realen Events, Capas berühmte Aufnahme aus dem Spanischen Bürgerkrieg wiederum umstritten in dem Sinn, dass bis heute unklar ist, was dieses Bild überhaupt zeigt und ob es authentisch ist. Dass es sich bei beiden Aufnahmen um Kriegsfotografie handelt, verdeutlicht die Bedeutung des Mediums für Propagandazwecke. Indem Cortis und Sonderegger derartig politische Aufnahmen nicht nur im physischen Sinne auseinandernehmen, sondern darüber hinaus noch auf eine Ebene mit den vergleichsweise trivialen Fotos von Marilyn Monroe oder dem Monster von Loch Ness stellen, ist ihr Ansatz gleich doppelt entlarvend: alles Inszenierung, alles Schwindel!

Wenngleich bei einem derartigen Bildband selbstredend die Fotos (oder hier treffender: die Werke) selbst im Vordergrund stehen, sollen dennoch die kurzen Texte erwähnt sein, die den jeweiligen Beispielen zur Seite gestellt sind. In diesen wohldosierten Textminiaturen gelingt nämlich Überraschendes: Wer denkt – etwa aufgrund des oben erwähnten Überangebots an kommentierten Fotobänden – bereits alles über die hier versammelten Aufnahmen zu wissen, wird eines Besseren belehrt. Dem Autor ist es gelungen, fast über jedes der Bilder etwas zu erzählen, was man so noch nicht gelesen hat. Dass das alles Trivia sind, spielt dabei keine Rolle, denn es ist nicht Aufgabe dieser Texte, sich wichtiger zu geben, als sie es sind. Schließlich sind ja auch die hier nachgebauten Bilder nichts anders als ein verspielter Hinweis darauf, deren Vorlagen – und den oberlehrerhaften Tonfall, der sie sonst so gerne begleitet – nicht uneingeschränkt ernst zu nehmen.

Autor/innen-Biografie

David Krems

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Promotion über Fototheorie. Arbeiten in verschiedenen Bereichen der Fotografie und des Films. Seit 2009 Medienarchivar und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Experimentalfilmemacher und Autor.

https://homepage.univie.ac.at/david.krems/

Publikationen:

- David Krems: Inszenierungen des Fotografischen: Technik und Ästhetik im medialen Wechsel. Wien 2017 (Dissertation).

- David Krems: Falsches Licht. Wien: Picus 2017 (Roman).

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Veröffentlicht

2018-11-15

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Rubrik

Medien