Ewald Mengel/Ludwig Schnauder/Rudolf Weiss (Hg.), Weltbühne Wien / World Stage Vienna. Vol. 1: Approaches to Cultural Transfer.
Trier: WVT Wissenschaftflicher Verlag Trier 2010. ISBN 978-3-86821-212-9. 252 S., brochiert. Preis: € 25,-.
Abstract
Weltbühne Wien / World Stage Vienna ist ein Sammelband, dessen erster Teilband das Ergebnis einer Konferenz zum Thema Theater und kultureller Transfer beinhaltet, welche 2008 in Wien im Rahmen des gleichnamigen FWF-Projektes "Weltbühne Wien" abgehalten wurde.
Dieser erste Band trägt den Untertitel Approaches to Cultural Transfer und enthält neben den Beiträgen der KonferenzteilnehmerInnen noch zusätzliche Artikel. Die versammelten Texte – darunter auch ein Essay sowie zwei Interviews – sind in mehrfacher Hinsicht abwechslungsreich.
Der Band setzt sich aus englisch- und deutschsprachigen Texten zusammen und zeigt eine bewusst inter- und transdisziplinäre Ausrichtung und umfasst die Bereiche Theaterwissenschaft, Anglistik, Romanistik, Germanistik, Translationswissenschaft etc. Neben theoretisch-methodologischen Texten finden sich Artikel über Kulturtransfer und Theaterpraxis in verschiedensten Kontexten vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart ebenso wie Beiträge aus theater- und übersetzungspraktischer Perspektive.
Die insgesamt 13 Texte spannen einen weiten thematischen Bogen und sind in drei Abschnitte gegliedert. Die Beiträge im ersten Teil, "Theory of Cultural Transfer", beschäftigen sich in erster Linie mit theoretischen Konzepten der Kulturtransferforschung, Soziologie, Netzwerkanalyse sowie Postkolonialer Theorie. Hans-Jürgen Lüsebrink reflektiert Kulturtransfer und das dreistufige Strukturmodell Selektion – Vermittlung – Rezeption diachron am Beispiel von französischem Theater im 18. Jahrhundert (Voltaire) sowie gegenwärtigem frankokanadischen Theater (Lepage). Joseph Jurt analysiert anhand Bourdieus Begriff des literarischen Feldes Gattungshierarchien und Spannungsfelder zwischen Massenproduktion und Avantgarde in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts mit Fokus auf das Théâtre Libre André Antoines.
Helga Mitterbauer reflektiert in ihrem dichten Beitrag über "Dynamische Vernetzungen: Theoretische Prolegomena zu kulturellen Transferprozessen" kritisch die (Weiter-)Entwicklungen der Kulturtransferforschung und deren Kulturbegriff durch Einfluss der Postkolonialen Theorie. Im Zentrum steht hier die De-Essentialisierung der Begriffe 'Kultur' und 'Nation' sowie die Betonung von Dynamik, Vielschichtigkeit und Prozesshaftigkeit von kulturellem Transfer. Indem Bhabhas Konzept des 'Third Space' als theoretischer und diskursiver Rahmen verstanden wird, wird die Aufmerksamkeit auf Widersprüchlichkeiten, Hybridisierungsprozesse und Überlappungszonen von Kulturen gelenkt. Ihre theoretischen Überlegungen zur Enthierarchisierung und Durchlässigkeit von Kulturen sowie der Denkfigur von Transfer als offenem Netzwerk zeigt Mitterbauer anhand des Beispiels der Wiener Moderne und transnationalen Vernetzungen in Kulturzeitschriften um 1900 auf. Damit liefert der Abschnitt "Theory of Cultural Transfer" und insbesondere Mitterbauers Artikel interessante und anregende theoretisch-methodologische Impulse für eine zeitgenössische, transnational ausgerichtete Theaterwissenschaft.
Der zweite Abschnitt, "Theatre: History and Performance", beginnt mit einem Überblicksartikel von W. E. Yates über österreichisches Drama und Theater in einem internationalen Kontext von der Wiener Moderne bis Jelinek. Yates skizziert anhand von ausgewählten Schwerpunkten "a story of contradictory trends, in which internationalism and introspection incongruously intertwine" (S. 79). In einem weiteren Überblicksartikel über "Interkulturalität, Kulturtransfer und Theaterwissenschaft" skizziert Brigitte Dalinger Tendenzen von 'interkulturellem Theater' und Theateranthropologie, der Auseinandersetzung europäischer Theaterpraktiker und -theoretiker – z.B. Brook, Wilson, Barba, Schechner – mit außereuropäischen Theaterformen bis hin zum Begriff 'Synkretisches Theater' (Balme) und dem Einfluss der Postcolonial Studies und Kulturtransferforschung auf die Theaterwissenschaft und -praxis. Manfred Pfister präsentiert eine Studie über Kulturtransfer im elisabethanischen Theater: "Globalisation in the Globe. Shakespeare's Theatre as an Agency of Linguistic and Cultural Traffic". Darin erläutert er den Niederschlag vom multikulturellen Umfeld Londons und 'fremder' Einflüsse auf Shakespeares Dramatik anhand The Taming of the Shrew.
"To test the law of the complementarity of mise en scène and performance" (S. 97) notiert Patrice Pavis in einem kurzem Essay Beobachtungen über eine Inszenierung des Stückes Les Coréens (Michel Vinaver) in Korea 2006. Abgerundet wird der Abschnitt durch ein Interview mit der Regisseurin Beverly Blankenship über ihre Inszenierungen in Wien und Australien, die Übersetzung von Theatertexten sowie unterschiedliche Bedingungen für Theaterproduktionen im deutsch- und englischsprachigen Raum.
Der dritte Teil des Bandes, "Translation: Theory and Practice", widmet sich sowohl aus theoretischer als auch praktischer Sicht der (Theater-)Übersetzung. Den Abschnitt eröffnet ein äußerst interessanter, praxisnaher Beitrag des Theaterübersetzers Rainer Kohlmayer über theatrale Infrastrukturen (wie das deutschsprachige Theaterverlagssystem) und kulturelle Stereotype. Am Beispiel deutscher und englischer Molière-Übersetzungen setzt er sich mit 'Transferblockaden' wie Figurensprache oder unterschiedlichen Versmaß-Konventionen (Alexandriner versus Blankvers) als Übersetzungsproblem auseinander und geht auch auf Übersetzungsschwierigkeiten und -varianten im Detail ein. Darauf folgt ein spannendes, konzentriertes und unterhaltsames Interview mit 'dem' Shakespeare-Übersetzer Frank Günther über seine eigenen Übersetzungsstrategien, die Hegemonie der Tieck/Schlegel-Übersetzungen, Fragen der 'Originaltreue' und des Versmaßes inklusive der Gegenüberstellung von Übersetzungsvarianten anhand ausgewählter Textpassagen.
Während sich Norbert Greiner mit "Profiles of Drama Translation in the Eighteenth Century" befasst und den Einfluss kultureller Normen der Zielkultur auf die (selektive) Übersetzung darlegt, gibt Michael Raab anhand seiner Tätigkeit als Übersetzer für zeitgenössische britische Theatertexte praxisnahe und persönliche Einblicke in differente kulturelle Bezugssysteme von Ausgangs- und Zielkultur, wie z. B. Lachkultur oder Soziolekte/Dialekte, welche Hürden bei der Übersetzung darstellen. Der abschließende Beitrag "Vom 'Kulturtransfer' zur 'kulturellen Übersetzung'" von Michaela Wolf reflektiert aus translationswissenschaftlicher Perspektive einerseits die diversen Transferleistungen bei Theaterübersetzungen – das "'In-Szene-Setzen' durch Übersetzung" (S. 237) – und skizziert andererseits präzise die metaphorische Verwendung des inflationär gebrauchten Begriffs 'kulturelle Übersetzung' in verschiedenen Kontexten und wissenschaftlichen Disziplinen von der Kulturanthropologie bis hin zu den Cultural Studies und liefert damit eine wertvolle Meta-Reflexion.
Approaches to Cultural Transfer ist alles in allem ein abwechslungsreicher, erfrischender und anregender Sammelband, der sich sowohl theoretisch als auch anhand von Fallbeispielen mit Transfer- und Übersetzungsprozessen in Theaterpraxis und Theatertexten beschäftigt. Die Bandbreite der angeführten Beispiele reicht dabei u. a. von Nestroy (Yates), Wiener Moderne (Mitterbauer, Yates), über elisabethanisches Theater (Pfister), französisches Theater im 18. Jahrhundert (Lüsebrink), Fin de siècle in Frankreich (Jurt), Dramenübersetzung und -bearbeitung in Deutschland im 18. Jahrhundert (Greiner), zeitgenössische britische Theatertexte (Raab) bis hin zu gegenwärtigen Inszenierungen bei den Wiener Festwochen (Dalinger).
Der übergeordnete Titel Weltbühne Wien / World Stage Vienna mag wenig repräsentativ für die Inhalte des ersten Bandes Approaches to Cultural Transfer erscheinen, der sich in erster Linie mit verschiedenen Aspekten von kulturellem Transfer im Allgemeinen und in verschiedensten Kontexten beschäftigt. Jedoch bemühen sich die meisten Beiträge, auf der Beispielsebene immer wieder Bezüge zu Wien herzustellen. Mit der 'Weltbühne Wien' an sich wird sich vielmehr der zweite, noch nicht erschienene Band von Weltbühne Wien / World Stage Vienna auseinandersetzen: Die FWF-ProjektmitarbeiterInnen beleuchten in Fallstudien die Rezeption anglophonen Dramas bzw. Theaters auf Wiener Bühnen im 20. Jahrhundert.
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.